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Veröffentlicht am 14.09.2019

Eine emotionale Geschichte über zwei verlorene Gestalten, die sich langsam gegenseitig heilen.

The Light in Us
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Als ich dieses Buch in der Verlagsvorschau gesehen habe, war es sofort um mich geschehen. Emma Scott hat ja schon mit ihrer "All In"-Reihe die Bücherwelt in den letzten Jahren aufgemischt, aber leider ...

Als ich dieses Buch in der Verlagsvorschau gesehen habe, war es sofort um mich geschehen. Emma Scott hat ja schon mit ihrer "All In"-Reihe die Bücherwelt in den letzten Jahren aufgemischt, aber leider bin ich bis jetzt noch nie dazu gekommen, eine Geschichte von ihr zu lesen. Ein großer Fehler, wie ich nun bemerken musste. Denn "The Light In Us" ist eine ganz besondere Geschichte voller Schmerz, Musik und Wahrheit, die mich zum Weinen, zum Lachen und zum Mitfiebern gebracht und tief berührt hat.

Schon das Cover ist ein typischer LYX-Traum in verschiedenen Stufen von Violett. Wir sehen Wellenförmige Schichten, die gemeinsam einen Farbverlauf von dunklem Lila zu hellem Rosa ergeben und durch einzelne Lichtreflexe aufgepeppt werden. Das Bild wirkt dynamisch und einladend, was genau das Design darstellen soll bleibt aber offen. Ob hier mit der Dreiteilung eine Landschaft mit Horizont angedeutet ist, das Cover verspielt die im Buch eine wichtige Rolle spielenden "Abstufungen von Schwarz" und das "Licht in der Dunkelheit" versinnbildlichen soll, kann ich nicht klar sagen. Auf jeden Fall ist es ein wahrer Blickfang! Auch der Titel passt perfekt und hat Wiedererkennungswert. Abgeleitet vom musikalischen Thema sind auch die Kapitel übergeordnet in drei Sätze eines Musikstückes, hier einer Sonate, geteilt: Adagio, also langsam, gehend, Allegro, heiter, lustig, schnell, und Kadenz, also der harmonische Ausklang. Ebenfalls zum Thema passend sind die doppelten Überschriften. Eine in normalen Buchstaben - die andere (wie auf dem Bild zusehen ist) in abgedruckter Braille-Schrift.

Erster Satz: "Ich jage den Grand Couloir in Courchevel, Frankreich, hinab."

Durch den Prolog aus Noahs Sicht können wir hautnah erleben, was er durch seinen schrecklichen Unfall alles verloren hat, bevor wir ihn aus der Perspektive von Charlotte als grimmigen, aufbrausenden, verdrossenen Einsiedler kennenlernen. Während er sich vor der Welt zurückzieht, in Hörbüchern und bestelltem Essen versinkt und mit seinen Schmerzen kämpft, geht es bei Charlotte erstmal um ihre nächste Miete. Als Kellnerin und Barkeeperin kann sie sich gerade so ihr kleines Zimmer in New York leisten, seit sie sich eine Auszeit von der Musik gegönnt hat. Denn trotz dass sie nach außen fröhlich, offenherzig und aufgeschlossen wirkt, trägt auch sie einen tiefen Schmerz in sich, der ihre Musik zum Verstummen gebracht hat. Als sie eine Stelle als Assistentin von Noah Lake angeboten bekommt, sieht sie darin erstmal nur eine Chance, ihre finanzielle Notlage geradezubiegen, dass sie in ihm jedoch viel mehr findet, als nur einen Arbeitgeber kann sie noch nicht ahnen. Sie stürzt sich in eine chaotische, wunderschöne, turbulente Liebe, die mit einem Bewerbungsgespräch begann, das Noah gar nicht führen wollte, mit einer jungen Frau, die nur ein klein wenig Sicherheit und Frieden brauchte, um ihr gebrochenes Herz ausruhen zu lassen...


"Ich würde Sie als persönliche Assistentin einstellen, Miss Conroy. So steht es im Vertrag. Aber ich habe große Hoffnungen, dass Sie mehr für Noah werden, wenn Sie den Job übernehmen. Jemand, den er mehr braucht als ein Dienstmädchen oder eine Köchin."
"Was braucht er denn?"
Er lächelte traurig. "Jemanden, der bleibt."


Die Grundidee der Geschichte ist nun wirklich nicht neu sondern erinnert entfernt an Jojo Moyes "Ein ganzes halbes Jahr" (Wer jetzt schon die Taschentücher auspackt - keine Angst, es geht zwar emotional zu, gibt aber ein Happy End, ich versprech´s!). Das Lesegefühl hat mich aber eher an "Wenn Donner und Licht sich berühren" von Brittainy C. Cherry erinnert, auch wenn die Bücher auf der Handlungsebene außer der Musik nichts gemein haben. Auch dort wird der tiefe Schmerz der Protagonisten, der in Kunst umgewandelt wird, zum Hauptthema und die einfühlsame Heilung der Beiden reißt mit. Die Autorin erzählt abwechselnd aus der Sicht von Charlotte und Noah und lässt uns an ihrer Lage, ihren Gefühlen und ihrer zarten Verbindung teilhaben. Dabei deckt sie einen relativ großen Zeitraum ab und reiht einzelne Szenen aneinander, die durch Nacherzählung, Gefühlsbewertung und introspektive Monologe miteinander verbunden werden. So bekommen wir einen Überblick über prägende Szenen während eines relativ großen Zeitabschnitts und können uns vor allem auf die innere Entwicklung der Protagonisten konzentrieren. Es entsteht eine Geschichte voller Gefühle und Seele, in der die Musik eine wichtige Rolle als Träger dieser Empfindungen und Tiefe spielt. Negativ ist mir am Aufbau nur aufgefallen, dass es etwa in der Mitte ein seltsamer Sprung auftaucht, den ich nicht ganz nachvollziehen konnte weil sich alles plötzlich sehr schnell ändert. Als etwas seltsam empfand ich auch, dass sich Charlotte und Noah ewig siezen obwohl sie zwei junge Menschen sind und praktisch zusammen wohnen. Vielleicht ist das aber auch der Übersetzung geschuldet.


"Er braucht Hilfe. Er braucht seit Monaten Hilfe, und außer Ihnen hat es niemand auch nur versucht."
"Sie, Charlotte"; sagte Lucien ruhig. "Sie versuchen es."


Um einem Buch fünf Sterne geben zu können, muss es meiner Meinung nach immer eine richtige Botschaft vermitteln. Das Genre Young Adult tut sich damit immer etwas schwer, wie ich finde. Die Charaktere haben immer schrecklich berührende Probleme, die Dramatik ufert aus, doch dadurch wirkt die Handlung recht fiktional und weit weg, auch wenn man die Gefühle der Protagonisten hautnah erleben kann. Doch hier kommt die Autorin fast ohne dahingebasteltes Drama oder nervtötende Missverständnisse aus und lässt die Gefühle ihrer Protagonisten immer natürlich und authentisch erscheinen, egal ob Hoffnung, Angst, Verlust, Liebe, Verständnis oder Enttäuschung. Selbst der klischeebehaftete "Du bist zu gut für mich"-Moment kommt fast echt daher. So konnte ich diese Geschichte, die auf der Metaebene von Hoffnung, Loslassen, Akzeptieren und Frieden schließen handelt, ungestört verfolgen.


"Hoffnung heißt "vielleicht". Hoffnung sind Abstufungen von Schwarz statt reines Schwarz, und das haben Sie im Augenblick nicht. Stattdessen haben Sie Gewissheit. Und manchmal ist das ebenso gut oder besser. Es liegt Frieden in der Gewissheit. Sie ist ehrlich. Es gibt kein Vielleicht. Nur die Wahrheit."


Ganz besonders toll fand ich jedoch die Schönheit der Musikbeschreibungen. Durch den sehr flüssigen, teilweise poetisch anklingenden Schreibstil wird die klassische Musik Mendelssohns oder Mozarts und nicht zuletzt Charlottes selbst, auf wundervolle Art und Weise magisch und erlebbar gemacht. Ich bin selbst ein riesiger Fan von Musik, egal ob im klassischen Bereich, oder im eher moderneren Pop und Rock (ich bevorzuge eher Rock) und konnte daher alles fühlen, was Charlotte so berührend aus ihrer Perspektive schildert. Durch die wundersame, lebendige Darstellung der Musik in Kombination mit der herzzerreißenden Liebesgeschichte entwickelt das Buch bald eine ganz eigene, unglaublich fesselnde Atmosphäre. Außerdem trägt ihr wundervoller Stil auch wesentlich zur Erschaffung einer bittersüßen Grundstimmung bei. Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. Sie erschafft durch die Mischung von zwei zerbrechlichen und doch starken Protagonisten, einer wunderschöner und doch hässlicher Stadt und herzzerreißend traurigen und anrührend süßen Momenten einen ambivalenten Mix voller Kontraste, Wahrheit und Tiefgründigkeit.


"Das unendliche Schwarz würde nie verschwinden. Das war gewiss. Aber Charlotte zu küssen war wie ein Licht darin aufgeleuchtet, wie ein Komet. Vielleicht. Vielleicht sind Abstufungen von Dunkelheit. Die süßeste Qual. Vielleicht ist Hoffnung."


Das Ende ist voll Schmerz, voll Liebe und voll Aufrichtigkeit und anders als die meisten YA-Bücher kommt kein übertriebenes Schmalz-Happy-End mit Flughafen-Renn-Szene, Heiratsantrag, Kinder oder Haus. Nein, die gewählte Schlussszene ist einfach genau richtig und hat mir sogar ein paar Tränchen entlockt und als ich das Buch aus der Hand legte, war ich emotional komplett am Ende! Trotzdem würde ich mir das jederzeit wieder antun für diese einmalige Achterbahn der Emotionen Auch wenn ich noch nicht ganz durchschaut habe, worum es im zweiten Teil "The Light In Us"-Reihe gehen soll, werde ich diesen Band also ohne Frage lesen. Charlottes und Noahs Geschichte ist eigentlich zu Ende erzählt aber vielleicht nutzt die Autorin ja die Chance auf eine neue Erzählung.... Ich bin auf jeden Fall gespannt und Emma Scott hat mit dem heutigen Tag einen neuen Fan dazugewonnen!


"Danke, Charlotte."
"Wofür?"
"Dafür, dass du hier bist. Bei mir."



Fazit:


Eine emotionale Geschichte über zwei verlorene Gestalten, die sich langsam gegenseitig heilen.
Widersprüchliche Gefühle wie Liebe, Dunkelheit, Schmerz und nicht zuletzt der poetische Stil der Autorin machen das Buch für Fans des Genres zu einem absoluten Must-Read.

Veröffentlicht am 12.09.2019

Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht - einfach das perfekte Finale

Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
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Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...

Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.


Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."


Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.


"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."


USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.


"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."


Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.


"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"


Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."


Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.


"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."


Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.



"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."


Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!

"I´ve got you… under my skin"


Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!




Fazit:


Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.09.2019

Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale!

Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
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Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...

Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.


Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."


Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.


"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."


USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.


"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."


Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.


"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"


Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."


Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.


"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."


Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.



"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."


Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!

"I´ve got you… under my skin"


Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!




Fazit:


Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Veröffentlicht am 11.09.2019

Mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön!

King of Scars
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"King of Scars" ist mein erster Ausflug ins Grisha-Verse und auch wenn ich die Geschichte wundervoll fand, bereue ich sehr, dass ich das Buch gelesen habe. Ich habe mir das Buch angefragt da ich meine ...

"King of Scars" ist mein erster Ausflug ins Grisha-Verse und auch wenn ich die Geschichte wundervoll fand, bereue ich sehr, dass ich das Buch gelesen habe. Ich habe mir das Buch angefragt da ich meine Chance sah, auch ein wenig Bardugo-Zauber erhaschen und mir die fünf Bände zuvor sparen zu können. Nach Aussagen des Verlags kann man dieses Buch auch ohne Vorkenntnisse lesen, aber ich warne euch: wenn ihr weder "Grisha" noch "Das Lied der Krähen" gelesen habt - Finger weg von diesem Buch! Wenn ihr euch im Grisha-Verse allerdings schon auskennt: ich kann euch diese Geschichte nur ans Herz legen!

"Ich bin das Monster, und das Monster ist ich."


Ich will es gar nicht leugnen - ich bin beim Bestellen dieser Geschichte auch der wunderschönen Gestaltung erlegen. Schaut euch dieses goldene Prachtstück doch nur mal an: auf schmutzig-goldenem Hintergrund sind fühlbare Prägungen aufgesetzt, die kleine Details der Handlung zeigen. Groß in der Mitte ist das Wappen von Zar Nikolai Lantsov zu sehen. Der majestätische Doppeladler mit der strahlenden Krone fasst den heller hervorgehobenen Titel wundervoll ein und wird durch Krallenspuren, die ebenfalls eine Verbindung zum Titel haben, durchtrennt.
Im linken unteren Eck sind die Türme des Zarenpalastes in Os Alta zu sehen, rechts unten weist das Segelschiff auf einen weiteren Handlungsstrang hin. Interessant sind aber vor allem die Motive rechts und links oben: die Rosen und der Drache, die beide versteckte Hinweise auf spannende Entwicklungen sind, die man sich als ahnungsloser Betrachter des Covers niemals vorstellen könnte. Abgerundet wird das liebevoll ausgearbeitete Coverbild durch den schwarzen Buchschnitt und die Karte in der vorderen Leselasche. Auch innerhalb der Buchdeckel ist das Buch ein wirklicher Hingucker! Geteilt ist die Geschichte in zwei große Kapitel: "Der Ertrinkende" und "Die Hexe im Wald". Außerdem hilft eine Übersicht über die Orden der Grisha zu Beginn, den Überblick zu behalten. Wie die Vorgängerbände auch ist "King of Scars" wieder aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Diese sind durch verzierte Embleme passend zu der jeweiligen Gabe oder Stellung des Erzählenden angekündigt. Insgesamt müsste man also allein für die Gestaltung schon fast 5 Sterne verteilen

Erster Satz: "Dima hörte das Knallen der Scheunentüren, bevor es jemand anderem auffiel."

Wir starten mit einer Art Prolog, in dem wir unvoreingenommen aus der Fremdperspektive mit dem dunklen Monster konfrontiert werden, das in Nikolai schlummert. Danach werden wir in den anderen Handlungsstrang eingeführt, den Nina (schon bekannt aus der Krähen-Dilogie) in Fjerda bestreitet. Zu Beginn war ich heillos überfordert. Denn anstatt -wie ich angenommen hatte- eine neue Geschichte zu entwickeln, die zufällig in der alten Welt spielt, liest sich "King of Scars" wie ein Band 6 einer Reihe, die ich nicht gelesen habe. Statt ein Abenteuer zu erhalten, das sich zufällig im Grisha-Verse abspielt, lesen wir hier vom Grisha-Verse, das uns durch ein Abenteuer näher gebracht werden soll. Wir bekommen Namen, Orte, Grisha-Arten, Sonderbegriffe und Anspielungen auf die Grisha-Handlung mit Alina Starkov oder dem Tod von Matthias in den Krähen-Büchern nur so um die Ohren gehauen. Das verwirrt zum einen natürlich sehr, zum anderen wird auch für die anderen Bände hemmungslos gespoilert. Letzteres ist natürlich nicht die Schuld der Autorin aber ich habe mich zu Beginn viel zu sehr alleingelassen gefühlt, als dass ich dem Verlag zustimmen würde - man kann dieses Buch nicht ohne Vorkenntnisse lesen!


"Dieses Mal werde ich bereit für ihn sein." Zoya flüsterte die Worte in der Dunkelheit, unter dem Dach der Gemächer, die der Dunkle einmal bewohnt hatte, im Palast, den er aus dem Nichts erbaut hatte. Sie war kein naives Mädchen mehr, das sich voller Verzweiflung bei jeder Gelegenheit zu beweisen suchte. Sie war eine Befehlshaberin mit einer langen Liste an Opfern und einem noch längeren Gedächtnis."


Eine neue Reihe hätte auch für sich alleine stehen können müssen - das funktioniert hier aber leider nicht! Die Autorin verlässt sich bei manchen Protagonisten aber vor allem bei ihrem Setting viel zu sehr darauf, dass der Leser das Grisha-Verse schon kennt und vor allem sowieso schon liebt. Statt uns von dieser Welt zu begeistern und uns die Protagonisten vorzustellen, taucht sie sofort in die Geschichte ein, sodass beides viel zu blass blieb. Mit Anfangsschwierigkeiten hatte das dann nur noch wenig zu tun.
Doch als ich dann fast dachte, ich müsste das Buch abbrechen, hat die Geschichte eine spannende Eigendynamik entwickelt und mich trotz einiger Fragezeichen im Kopf mitreißen können. Die trockene Politik, Wirtschafts- und Technikausführungen, die mich zuvor gelangweilt haben, werden durch geheimnisvolle Entdeckungen, dunkle Magie und Abenteuer aufgepeppt. Die russischen Namen, die mich vormals verwirrt haben, konnte ich mir mithilfe der tollen Karte langsam merken und so konnte ich auch die diplomatischen Beziehungen endlich nachvollziehen. Vor allem aber wurden neue Protagonisten eingeführt, die für Gänsehaut und Herzmomente sorgen und über den holprigen Beginn hinweg trösten.


"Für Nikolai stellte ein Problem immer eine Gelegenheit dar, nicht anders als das, was eine Maschine der Fjerdan bot. Man zerlegte sie in ihre Einzelteile, fand heraus, was sie antrieb, dann nute man diese Teile, um daraus etwas zu bauen, das für einen arbeitete, statt gegen einen. Der Dämon war damit nicht einverstanden. Der Dämon hatte kein Interesse am Lösen von Problemen oder an der Staatskunst oder der Zukunft. Ihn trieb nur der Hunger, die Gier des Augenblicks, Töten und Verschlingen."


Insgesamt wird vor allem aus drei, gegen Ende sogar aus vier Perspektiven erzählt, die sich im Wesentlichen auf zwei Handlungsstränge konzentrieren. Der erste Handlungsstrang konzentriert sich auf den Zarenpalast in Os Alta, in dem Nikolai, seine Oberbefehlshaberin Zoya, die Zwillinge Tolya und Tamar sowie die Bildnerin Genya, und ihr Mann David am Frieden und der Sicherheit Ravkas arbeiten.
Nikolai Lantsov ist der neue Zar von Ravka. Da ich nicht genau verfolgen konnte, wie er an die Macht kam, was mit seinen Eltern war und weshalb er wieder kurz vor einem Krieg steht, vor allem aber da ich seinen Charakter im besten Falle ambivalent, im schlimmsten Falle widersprüchlich fand, konnte ich zu Beginn nicht so viel mit ihm anfangen. Auch bei ihm verlässt sich die Autorin zu sehr darauf, dass der Leser ihn aus den vorherigen Teilen schon liebt und der unvorbereitete Leser wie ich einer war, kann ihn erst im letzten Drittel ins Herz schließen-

Da hatte ich es mit Zoya Nazyalensky schon einfacher. Anders als der Zar ist sie eine Grisha und kann als Stürmerin den Wind beeinflussen. Sie ist eine von vielen starken Frauenfiguren, die wir hier kennenlernen dürfen und die mir sehr imponiert haben. Sie wirkt kalt, grausam, schützt sich mit beißendem Sarkasmus, verbirgt aber im Inneren eine schmerzhafte Unsicherheit und Hilflosigkeit und als sie ihre Geschichte erzählt, musste ich sie einfach lieben. Ihre Loyalität, ihre Stärke, ihre Gabe immer wieder über sich hinauszuwachsen hat mich inspiriert, auch wenn ich sie nicht unbedingt als sympathisch einstufen würde.


"Angst ist ein Phoenix". Worte, die Liliyana vor Jahren zu ihr gesagt und die Zoya viele Male für andere wiederholt hatte. "Du kannst sie tausend Mal brennen sehen, und doch wird die wiederkehren."


Der zweite Handlungsstrang spielt sich im eiskalten, frauenfeindlichen Fjerda ab, wo Nina Zenik auf einer Geheimmission dort verfolgte Grisha rettet und auf ein unglaubliches Geheimnis stößt. Nina ist eine Entherzerin aus Ravka, die sich den Krähen in Ketterdam angeschlossen hatte und nun um ihre verstorbene, große Liebe Matthias trauert. Diese Trauer konnte ich zwar nicht gut nachvollziehen da ich ja die Vorgeschichte nicht kannte, dennoch: die rundliche Nina mit dem riesigen Appetit auf Waffeln, der tödlichen Knochensplitter-Rüstung und dem unschuldigen Lächeln muss man einfach lieben. Da ihr Abenteuer am geradlinigsten verläuft, war mir ihr Handlungsstrang irgendwann auch der liebste. Das lag vor allem an der jungen Novizin mit einem Kämpferherz Hanne. Sie wurde schon bald zu meinem absoluten Lieblingscharakter und die Art und Weise, wie Leigh Bardugo sie gleichzeitig zerbrechlich und stark wirken lässt ist wundervoll! Leider verpasst es die Autorin aber, die beiden Handlungsstränge sinnvoll miteinander zu verbinden und so ist es als würden wir zwei Bücher gleichzeitig lesen, die aber nicht viel miteinander zu tun haben.

Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse. Dass ich trotz meiner massiven Anfangsschwierigkeiten in diese osteuropäisch angehauchte Fantasywelt eintauchen konnte, garantierte der wundervolle Schreibstil der Autorin. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit an schillernde Schauplätze und schockt uns mit Überraschungen. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön!
Jetzt muss ich natürlich auch die Grisha- und die Krähen-Reihe lesen, um die kompletten Vorgeschichten zu verstehen, bevor ich mich dem zweiten Teil der Reihe widmen kann.



Fazit:


Ein gelungener Auftakt voller Schmerz, Macht, Freundschaft, Mitgefühl, Liebe, Kraft, Mut und natürlich viel Magie. Leider lässt die Autorin den Grisha-fremden Leser am Anfang total alleine und hat bei mir für Fust und Verwirrung gesorgt. Dennoch konnte mich dieses wundervolle Märchen überzeugen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön!

Veröffentlicht am 11.09.2019

Mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön!

King of Scars
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"King of Scars" ist mein erster Ausflug ins Grisha-Verse und auch wenn ich die Geschichte wundervoll fand, bereue ich sehr, dass ich das Buch gelesen habe. Ich habe mir das Buch angefragt da ich meine ...

"King of Scars" ist mein erster Ausflug ins Grisha-Verse und auch wenn ich die Geschichte wundervoll fand, bereue ich sehr, dass ich das Buch gelesen habe. Ich habe mir das Buch angefragt da ich meine Chance sah, auch ein wenig Bardugo-Zauber erhaschen und mir die fünf Bände zuvor sparen zu können. Nach Aussagen des Verlags kann man dieses Buch auch ohne Vorkenntnisse lesen, aber ich warne euch: wenn ihr weder "Grisha" noch "Das Lied der Krähen" gelesen habt - Finger weg von diesem Buch! Wenn ihr euch im Grisha-Verse allerdings schon auskennt: ich kann euch diese Geschichte nur ans Herz legen!

"Ich bin das Monster, und das Monster ist ich."


Ich will es gar nicht leugnen - ich bin beim Bestellen dieser Geschichte auch der wunderschönen Gestaltung erlegen. Schaut euch dieses goldene Prachtstück doch nur mal an: auf schmutzig-goldenem Hintergrund sind fühlbare Prägungen aufgesetzt, die kleine Details der Handlung zeigen. Groß in der Mitte ist das Wappen von Zar Nikolai Lantsov zu sehen. Der majestätische Doppeladler mit der strahlenden Krone fasst den heller hervorgehobenen Titel wundervoll ein und wird durch Krallenspuren, die ebenfalls eine Verbindung zum Titel haben, durchtrennt.
Im linken unteren Eck sind die Türme des Zarenpalastes in Os Alta zu sehen, rechts unten weist das Segelschiff auf einen weiteren Handlungsstrang hin. Interessant sind aber vor allem die Motive rechts und links oben: die Rosen und der Drache, die beide versteckte Hinweise auf spannende Entwicklungen sind, die man sich als ahnungsloser Betrachter des Covers niemals vorstellen könnte. Abgerundet wird das liebevoll ausgearbeitete Coverbild durch den schwarzen Buchschnitt und die Karte in der vorderen Leselasche. Auch innerhalb der Buchdeckel ist das Buch ein wirklicher Hingucker! Geteilt ist die Geschichte in zwei große Kapitel: "Der Ertrinkende" und "Die Hexe im Wald". Außerdem hilft eine Übersicht über die Orden der Grisha zu Beginn, den Überblick zu behalten. Wie die Vorgängerbände auch ist "King of Scars" wieder aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Diese sind durch verzierte Embleme passend zu der jeweiligen Gabe oder Stellung des Erzählenden angekündigt. Insgesamt müsste man also allein für die Gestaltung schon fast 5 Sterne verteilen

Erster Satz: "Dima hörte das Knallen der Scheunentüren, bevor es jemand anderem auffiel."

Wir starten mit einer Art Prolog, in dem wir unvoreingenommen aus der Fremdperspektive mit dem dunklen Monster konfrontiert werden, das in Nikolai schlummert. Danach werden wir in den anderen Handlungsstrang eingeführt, den Nina (schon bekannt aus der Krähen-Dilogie) in Fjerda bestreitet. Zu Beginn war ich heillos überfordert. Denn anstatt -wie ich angenommen hatte- eine neue Geschichte zu entwickeln, die zufällig in der alten Welt spielt, liest sich "King of Scars" wie ein Band 6 einer Reihe, die ich nicht gelesen habe. Statt ein Abenteuer zu erhalten, das sich zufällig im Grisha-Verse abspielt, lesen wir hier vom Grisha-Verse, das uns durch ein Abenteuer näher gebracht werden soll. Wir bekommen Namen, Orte, Grisha-Arten, Sonderbegriffe und Anspielungen auf die Grisha-Handlung mit Alina Starkov oder dem Tod von Matthias in den Krähen-Büchern nur so um die Ohren gehauen. Das verwirrt zum einen natürlich sehr, zum anderen wird auch für die anderen Bände hemmungslos gespoilert. Letzteres ist natürlich nicht die Schuld der Autorin aber ich habe mich zu Beginn viel zu sehr alleingelassen gefühlt, als dass ich dem Verlag zustimmen würde - man kann dieses Buch nicht ohne Vorkenntnisse lesen!


"Dieses Mal werde ich bereit für ihn sein." Zoya flüsterte die Worte in der Dunkelheit, unter dem Dach der Gemächer, die der Dunkle einmal bewohnt hatte, im Palast, den er aus dem Nichts erbaut hatte. Sie war kein naives Mädchen mehr, das sich voller Verzweiflung bei jeder Gelegenheit zu beweisen suchte. Sie war eine Befehlshaberin mit einer langen Liste an Opfern und einem noch längeren Gedächtnis."


Eine neue Reihe hätte auch für sich alleine stehen können müssen - das funktioniert hier aber leider nicht! Die Autorin verlässt sich bei manchen Protagonisten aber vor allem bei ihrem Setting viel zu sehr darauf, dass der Leser das Grisha-Verse schon kennt und vor allem sowieso schon liebt. Statt uns von dieser Welt zu begeistern und uns die Protagonisten vorzustellen, taucht sie sofort in die Geschichte ein, sodass beides viel zu blass blieb. Mit Anfangsschwierigkeiten hatte das dann nur noch wenig zu tun.
Doch als ich dann fast dachte, ich müsste das Buch abbrechen, hat die Geschichte eine spannende Eigendynamik entwickelt und mich trotz einiger Fragezeichen im Kopf mitreißen können. Die trockene Politik, Wirtschafts- und Technikausführungen, die mich zuvor gelangweilt haben, werden durch geheimnisvolle Entdeckungen, dunkle Magie und Abenteuer aufgepeppt. Die russischen Namen, die mich vormals verwirrt haben, konnte ich mir mithilfe der tollen Karte langsam merken und so konnte ich auch die diplomatischen Beziehungen endlich nachvollziehen. Vor allem aber wurden neue Protagonisten eingeführt, die für Gänsehaut und Herzmomente sorgen und über den holprigen Beginn hinweg trösten.


"Für Nikolai stellte ein Problem immer eine Gelegenheit dar, nicht anders als das, was eine Maschine der Fjerdan bot. Man zerlegte sie in ihre Einzelteile, fand heraus, was sie antrieb, dann nute man diese Teile, um daraus etwas zu bauen, das für einen arbeitete, statt gegen einen. Der Dämon war damit nicht einverstanden. Der Dämon hatte kein Interesse am Lösen von Problemen oder an der Staatskunst oder der Zukunft. Ihn trieb nur der Hunger, die Gier des Augenblicks, Töten und Verschlingen."


Insgesamt wird vor allem aus drei, gegen Ende sogar aus vier Perspektiven erzählt, die sich im Wesentlichen auf zwei Handlungsstränge konzentrieren. Der erste Handlungsstrang konzentriert sich auf den Zarenpalast in Os Alta, in dem Nikolai, seine Oberbefehlshaberin Zoya, die Zwillinge Tolya und Tamar sowie die Bildnerin Genya, und ihr Mann David am Frieden und der Sicherheit Ravkas arbeiten.
Nikolai Lantsov ist der neue Zar von Ravka. Da ich nicht genau verfolgen konnte, wie er an die Macht kam, was mit seinen Eltern war und weshalb er wieder kurz vor einem Krieg steht, vor allem aber da ich seinen Charakter im besten Falle ambivalent, im schlimmsten Falle widersprüchlich fand, konnte ich zu Beginn nicht so viel mit ihm anfangen. Auch bei ihm verlässt sich die Autorin zu sehr darauf, dass der Leser ihn aus den vorherigen Teilen schon liebt und der unvorbereitete Leser wie ich einer war, kann ihn erst im letzten Drittel ins Herz schließen-

Da hatte ich es mit Zoya Nazyalensky schon einfacher. Anders als der Zar ist sie eine Grisha und kann als Stürmerin den Wind beeinflussen. Sie ist eine von vielen starken Frauenfiguren, die wir hier kennenlernen dürfen und die mir sehr imponiert haben. Sie wirkt kalt, grausam, schützt sich mit beißendem Sarkasmus, verbirgt aber im Inneren eine schmerzhafte Unsicherheit und Hilflosigkeit und als sie ihre Geschichte erzählt, musste ich sie einfach lieben. Ihre Loyalität, ihre Stärke, ihre Gabe immer wieder über sich hinauszuwachsen hat mich inspiriert, auch wenn ich sie nicht unbedingt als sympathisch einstufen würde.


"Angst ist ein Phoenix". Worte, die Liliyana vor Jahren zu ihr gesagt und die Zoya viele Male für andere wiederholt hatte. "Du kannst sie tausend Mal brennen sehen, und doch wird die wiederkehren."


Der zweite Handlungsstrang spielt sich im eiskalten, frauenfeindlichen Fjerda ab, wo Nina Zenik auf einer Geheimmission dort verfolgte Grisha rettet und auf ein unglaubliches Geheimnis stößt. Nina ist eine Entherzerin aus Ravka, die sich den Krähen in Ketterdam angeschlossen hatte und nun um ihre verstorbene, große Liebe Matthias trauert. Diese Trauer konnte ich zwar nicht gut nachvollziehen da ich ja die Vorgeschichte nicht kannte, dennoch: die rundliche Nina mit dem riesigen Appetit auf Waffeln, der tödlichen Knochensplitter-Rüstung und dem unschuldigen Lächeln muss man einfach lieben. Da ihr Abenteuer am geradlinigsten verläuft, war mir ihr Handlungsstrang irgendwann auch der liebste. Das lag vor allem an der jungen Novizin mit einem Kämpferherz Hanne. Sie wurde schon bald zu meinem absoluten Lieblingscharakter und die Art und Weise, wie Leigh Bardugo sie gleichzeitig zerbrechlich und stark wirken lässt ist wundervoll! Leider verpasst es die Autorin aber, die beiden Handlungsstränge sinnvoll miteinander zu verbinden und so ist es als würden wir zwei Bücher gleichzeitig lesen, die aber nicht viel miteinander zu tun haben.

Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse. Dass ich trotz meiner massiven Anfangsschwierigkeiten in diese osteuropäisch angehauchte Fantasywelt eintauchen konnte, garantierte der wundervolle Schreibstil der Autorin. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit an schillernde Schauplätze und schockt uns mit Überraschungen. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön!
Jetzt muss ich natürlich auch die Grisha- und die Krähen-Reihe lesen, um die kompletten Vorgeschichten zu verstehen, bevor ich mich dem zweiten Teil der Reihe widmen kann.



Fazit:


Ein gelungener Auftakt voller Schmerz, Macht, Freundschaft, Mitgefühl, Liebe, Kraft, Mut und natürlich viel Magie. Leider lässt die Autorin den Grisha-fremden Leser am Anfang total alleine und hat bei mir für Fust und Verwirrung gesorgt. Dennoch konnte mich dieses wundervolle Märchen überzeugen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön!