Profilbild von Wordworld_Sophia

Wordworld_Sophia

Lesejury Star
offline

Wordworld_Sophia ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Wordworld_Sophia über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.09.2019

Schockiert und berührt!

Vollendet - Die Rache (Band 3)
0

Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" und "Vollendet - Der Aufstand" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert haben, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung ...

Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" und "Vollendet - Der Aufstand" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert haben, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung zu lesen. Und statt uns mit einem gemächlichen Mittelteil einer Reihe zu enttäuschen fährt der Autor auch hier wieder alle Geschütze auf: drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe - diese Geschichte ist genau wie ihre Vorgänger der blanke Wahnsinn!

Die Gestaltung ist mal wieder sehr an die Vorgänger angelehnt. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem gelben Titel aber besser als das Design der älteren Auflage, die ich ebenfalls gelesen habe.

Erste Sätze: "Sie haben unterschrieben. Der Heartland-Krieg ist vorbei."


Die Geschichte knüpft nach einem kurzen Prolog von der Geburtsstunde der Umwandlung über ihren Erfinder Janson Rheinschild direkt an den Geschehnissen von Band 2 an. Connor konnte dank Levs Hilfe von der Razzia auf dem Flugzeugfriedhof und vor Teilepirat Nelson fliehen und ist nun wieder auf der Flucht. Nur dass sein Weglaufen diesmal ein genaues Ziel hat: Sonias Antiquitätenladen in Ohio, wo er auf Antworten hofft, die ihm in seinem Kampf gegen die Umwandlung helfen könnten. Mit seinem Verstoß gegen die Bewährungsunterlagen wird auch Lev wieder zum Flüchtling und als sich im Indianerreservat eine Chance auf Ruhe bietet, steht er vor der Frage, ob er sein Leben weiter dem schweren, aussichtslosen Kampf gegen die Umwandlung widmen will...
Risa sitzt nach der Enttarnung des Proaktiven Bürgerforums auf der Straße und versucht sich alleine durchzuschlagen. Cam verrät die Organisation, die ihn erschaffen hat und setzt alles daran, Risa zu finden. Und als sie alle aufeinandertreffen ist nichts mehr wie zuvor...


"Das bedeutet, dass es in diesem Krieg jetzt drei Seiten gibt", erwidert Lev. Connor gesteht sich ein, dass er recht hat.
"Wenn also die eine Seite von Hass getrieben wird und die zweite von Furcht, was treibt uns an?"
"Hoffnung?", schlägt Lev vor."


Auch wenn die Geschichte insgesamt ein wenig ruhiger voranschreitet als der schnelle Spurt des ersten Teils, bekommen wir auch hier kaum eine Pause zum Verschnaufen. "Vollendet - Die Rache" leidet wie auch schon "Vollendet - Der Aufstand" keineswegs unter dem typischen Mittelteil-Syndrom sondern wartet mit vielen neuen Entwicklungen auf und schafft es, von der ersten bis zur letzten Seite für Hochspannung zu sorgen. Dabei ist die Handlung zwar nicht so dicht und zielführend gepackt wie Teil 1, wieder geht es aber ums Weglaufen vor dem Regime, den JuPos, verrückten Fans und Teilepiraten, kurz: um nackte Überleben von einem Tag auf den anderen. Im Gegensatz zum ersten Teil hat sich jedoch die Ausgangslage geändert: es geht nicht nur darum, über den Tag zu kommen sondern es gilt auch die Umwandlung zu bekämpfen und tausende Wandler vor ihrem grausamen Schicksal zu retten. Die gewonnene Sicherheit und Struktur des Friedhofs im zweiten Band wird hier wieder aufgelöst und da die AUF (Anti-Umwandlungsfront) praktisch am Boden ist, stehen die Flüchtenden fast alleine da. So haben wir es mit einem bekannten und doch ganz neuen Szenario zu tun. Connor, Lev und Risa sind keine hilflosen Kinder mehr, sie sind bekannte Terroristen, Idole unter den Wandlern und sie haben nur zwei Wünsche: Freiheit und das Ende der Umwandlung!

USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren. Wer sich nach Band 1 und Band 2 vielleicht gefragt hat - was soll da noch kommen? - dem sei versichert, dass Neal Shusterman auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit hält, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen. Wieder ist die Handlung so faszinierend, sind die Protagonisten so authentisch und die philosophischen Fragen so aufwühlend, dass wir glatt vergessen, wie absurd, abstoßen und makaber eigentlich dieses Schreckensszenario ist. Diese Idee wird wieder zu einer schockierenden und gleichzeitig wahnsinnig faszinierenden Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.


"Willst du den wahren Grund dafür wissen, warum das Umwandeln immer noch so erfolgreich ist, Miss Risa Ward? Nicht wegen der Körperteile, die wir für uns selbst wollen - sondern wegen der Dinge, die wir gewillt sind zu tun, um unsere Kinder zu retten."


Besonders hervorgehoben wird die perfide Idee wieder durch den meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil, der uns einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen beschert ohne grausam oder blutig zu sein. Das Beste ist jedoch des Autors Fähigkeit, neue Handlungsstränge geschickt mit den schon bekannten zu verweben und die Geschichte immer wieder in eine Richtung zu führen, die der Leser nicht erwartet hätte. Anstatt schon Erzähltes zu wiederholen, drehen schicksalhafte Kreise nur um am Ende wieder genau da anzukommen wo wir losgegangen sind: in Akron. Dabei bekommen wir auch endlich neue Hintergrundinformationen über den Heartland-Krieg, die Beginne der Umwandlung, die Jugend-Revolten und blicken immer mehr in den Abgrund des Proaktiven Bürgerforums, das seine Finger tiefer im Spiel hat, als man jemals geahnt hätte. Durch die Rückblenden aus der Sicht von Janson und Sonia Rheinschild erfahren wir auch interessante Details über die Gründung der AUF, des Proaktiven Bürgerforums und technische Hintergründe zur Umwandlung und die alles entscheidende Frage tritt auf: was wenn es eine Alternative zur Umwandlung gäbe...?

"Leuchte, Cam", sagt Roberta zu ihm. "Leuchte wie der Stern, der du bist."

Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung wird außerdem durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Statt nur wie in den Teilen zuvor an das Sicherheitsbestreben der Gesellschaft zu appellieren, werden die Werbeanzeigen immer schockierender und verlieren jegliche Skrupel. So wird bald auch das freiwillige Umwandeln von Erwachsenen gegen Geld ein Thema genau wie ein Gesetz über das Aushülsen von Gewaltverbrechern und die Umwandlung aller Sträflinge, das in einigen Bundesländern diskutiert wird. Außerdem versprechen neue Marken wie ThinkFast, NeuroWeave oder Sculptura mit denen man neue Eigenschaften kaufen, das Gedächtnis aufpeppen oder seinen Körper zum Traumbody werden lassen kann Luxus, Schönheit und Unsterblichkeit. Der Autor wirft immer wieder ein Leserbrief, ein politisches Statement oder eine Werbeanzeige ein, die uns der absolute Wahnsinn der Umwandlung vor Augen führt und stellt gleichzeitig reale Berichte vor einem jeden der sechs Teile gegenüber. Durch das Einfügen von realen Nachrichten und Links, die sich mit dem Thema beschäftigen wird uns auf erschütternde Art und Weise klar gemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder oder die neue Gefahr durch Körperbomben - die angesprochenen Themen geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Die Umwandlung ist die gewinnträchtigste Brache Amerikas, vielleicht der ganzen Welt. So ein Wirtschaftsmotor schützt sich selbst. Wenn wir die zerstören wollen, müssen wir klüger sein als sie." Und dann lächelt Cam. "Aber sie haben einen großen Fehler gemacht."
"Und der wäre?"
"Sie haben jemanden gebaut, der klüger ist als sie."


Um den Leser auf Trab zu halten, bekommen wir hier natürlich wieder neue Handlungsstränge serviert. Es erzählen in personaler Er-Erzähl-Perspektive Connor, Risa, Lev, Cam, Starkey, Bam, Hayden, Nelson, Roberta, die Rheinschilds aus der Vergangenheit und die drei neuen Protagonisten Grace, Argent und Una. Die Geschwister Grace und Argent Skinner leben in Heartsdale ein gewöhnliches, langweiliges Leben, bis der fanatische Connor-Fan Argent sein Idol im Supermarkt trifft und glatt entführt. Während Argent ein absolut berechnender, dumm-dreister Widerling ist, ist seine minderbemittelte, unförmige Schwester Grace harmlos aber liebenswert. Denkt Connor zumindest, denn hinter dem schlichten Gemüt verstecken sich eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie, sodass sie (bald mein Lieblingscharakter) zu einer wertvollen Verbündeten wird. Auch Unas Leben ist eng mit dem von Lev, Connor, Risa und Cam verbunden, denn ihr Verlobter Wil begab sich in die Hände von Teilepiraten um Lev zu retten. Kein Wunder dass sie wütend ist: auf Lev und Connor die im Reservat auftauchen genau wie auf die Teilepiraten, die Umwandlung und ein gewisser Verbundmensch der die talentierten Gitarren-Hände ihrer großen Liebe erhalten hat...

Ein Rückzugsort im Indianerreservat, ein Unfall auf einer Straußenfarm, die Gefangenschaft eines fanatische Fans, ein Massenlager im Bergwerk, eine Tarnung auf einem Campingplatz, ein Überfall auf ein Ernte Camp, ein Wiedersehen im Antiquitätenladen, eine Therapiesitzung in einer Revival Community, eine Falle von Teilepiraten - wir haben mehr Sichtweisen als je zuvor, reisen mit den Protagonisten durch ganz Amerika und finden uns in den unterschiedlichsten Situationen wieder. Auch Hannah und die kleine Didi aus Teil eins haben nochmal ihren Auftritt und wir erfahren, dass CiFy mit seinen Väter die Tyler-Walker-Stiftung gegründet hat, die WGs fördern, in denen die Empfänger der Teile einer Person zusammenleben und den Umgewandelten somit wieder ganz machen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik sodass es trotz etwas entschleunigter Handlung nie langweilig wird.


"Wir sind keine Helden", antwortet Lev. Darüber muss Elina lächeln: "Wahre Helden glauben nie, dass sie welche sind.", sagt sie zum ihm. "mach nur so weiter, Leb, und leugne es mit jeder Faser deines Daseins."


Das Beste ist jedoch, dass Neal Shusterman seine zentralen Figuren Lev, Risa und Connor durch Cam erweitert und liebevoll weiterentwickelt, sodass wir immer wieder ganz neue Seiten an ihnen kennen lernen. Der impulsive, unbesonnene Connor, der auf dem Flugplatz Respekt, Verantwortung und Berechnung gelernt hat, muss mit seinem Versagen leben und sich fragen, was er wirklich erreichen will. Die zielstrebige und mitfühlende Risa hat ihren Kampfgeist an das Proaktive Bürgerforum verloren, sehnt sich einfach nach Frieden, ist das Flüchten so leid und weiß nicht, was sie gegenüber einem Wesen aus Wandlerteilen empfindet. Der verwirrte, orientierungslose Lev, dessen Gang durch die Hölle sein Kämpferherz freigelegt hat, kehrt in das Indianerreservat zurück, das ihn beherbergt hat und kümmert sich mehr um seine verwundete Seele als um die Revolution.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich den "Flüchtling aus Akron", den "Klatscher, der nicht klatschte" und das "Mädchen mit den gebrochenen Flügeln und einem gebrochenen Rückgrat" einmal noch mehr ins Herz schließen könnte, doch das ist hier passiert. Ich wünsche den dreien so von Herzen Glück, dass es mit jedem Satz mehr wehtut, wenn sie alles verlieren, was sie lieben und zusehen müssen, wie das wofür sie gekämpft haben in Flammen aufgeht. Mindestens genauso sehr wünsche ich Mason Michael Starkey das Verderben, der sich hier immer weiter als absolut skrupelloser, machtgeiler Terrorist entpuppt und mit seinen Taten die ganze Welt in Schrecken versetzt.


"Die denken, wir sind gewalttätig und müssten deshalb umgewandelt werden", beschwor er. "Wir müssen der Welt beweisen, dass das nicht stimmt."
Doch es braucht nur Starkey und fünf umgestoßene Stühle, um alles zu zerstören, wofür sich Connor eingesetzt hat."


Das geheime Highlight der Geschichte ist aber Camus Comprix, der erste Verbundmensch der Geschichte. Die sensible Art und Weise, wie der Autor durch ihn philosophische Fragen einfließen lässt und sie dann durch die intensive, einfühlsame Charakterstudie beantwortet, ist einfach hinreißend! Sind wir mehr als die Summe unserer Einzelteile? Was macht einen Menschen, ein Individuum aus? Ist Cam viele Menschen oder ein einzelner? Kann er als Eigentum seiner Erschaffer gelten oder hat er dieselben Rechte wie alle Menschen? Kann man ein fühlendes, denkendes Wesen sein wenn man nicht geboren wurde? Auch wenn der Gedanke an seine Existenz viel zu verschickt ist, um es ganz zu begreifen, muss man den verlorenen Jungen einfach ins Herz schließen, den die Welt für ein Monster hält und der die unfassbare Aufgabe hat, mehrere hundert Einzelteile zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen. Mit seiner wilden Assoziations-Sprache, seinem verzweifelten Ringen um Ich-Gefühl und seiner Sehnsucht nach Liebe hat er mich tief berührt! Auch wenn er hier immer mehr Charakterzüge zeigt, die mir nicht gefallen haben und seine Besessenheit von Risa ins Gruselige tendiert beginnt er von einem harmlosen Ausstellungsobjekt zum ernstzunehmenden Gegner des Proaktiven Bürgerforums zu werden.


“Bin ich wirklich am Leben? Existiere ich überhaupt? Gewiss existiert er als organische Masse, aber als fühlendes Wesen? Eher als jemand denn als etwas? Zu oft in seinem Leben weiß er es einfach nicht. Und wenn am Ende jeder Einzelne vor seinem Richter steht, wird er dann auch dort stehen, oder werden die einzelnen Teile in ihm zu ihren wahren Besitzern zurückkehren und eine Leere hinterlassen, wo er einst war?”


Das Ende lässt uns dann mit einem riesigen Cliffhanger und tausend unbeantworteten Fragen zurück, die es dringend erforderlich machen, den vierten Teil zu lesen (der nun ENDLICH auch auf Deutsch herausgekommen ist). Auch wenn Band 3 nicht ganz an das Niveau von Band 1 und 2 heranreicht stellt er eine wichtige und superspannende Vorbereitung auf das Finale dar und ich habe mit gleichermaßen Faszination und Abscheu beobachtet, wie sich ein blutiger Dreifrontenkrieg anbahnt. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich durch das Buch gehetzt und in den Strudel der Ereignisse gezogen wurde, lässt sich zum Abschluss also nur sagen, dass dieser Roman eine mehr als würdige Fortsetzung darstellt!



Fazit:


Wie die ganze Reihe schockiert und berührt uns "Vollendet - Die Rache" durch tiefgründige Charaktere, eine absurde Idee mit einem gruselig hohen Wirklichkeitsgehalt, philosophische Fragen, eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik und ein kleiner Schuss Wahnsinn.
Eine etwas gemächlichere aber umso wichtigere Vorbereitung auf das große Finale, dem ich nun mit Spannung entgegenfiebere.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.09.2019

Schockiert und berührt!

Vollendet – Die Rache
0

Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" und "Vollendet - Der Aufstand" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert haben, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung ...

Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" und "Vollendet - Der Aufstand" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert haben, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung zu lesen. Und statt uns mit einem gemächlichen Mittelteil einer Reihe zu enttäuschen fährt der Autor auch hier wieder alle Geschütze auf: drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe - diese Geschichte ist genau wie ihre Vorgänger der blanke Wahnsinn!

Die Gestaltung ist mal wieder sehr an die Vorgänger angelehnt. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem gelben Titel aber besser als das Design der älteren Auflage, die ich ebenfalls gelesen habe.

Erste Sätze: "Sie haben unterschrieben. Der Heartland-Krieg ist vorbei."


Die Geschichte knüpft nach einem kurzen Prolog von der Geburtsstunde der Umwandlung über ihren Erfinder Janson Rheinschild direkt an den Geschehnissen von Band 2 an. Connor konnte dank Levs Hilfe von der Razzia auf dem Flugzeugfriedhof und vor Teilepirat Nelson fliehen und ist nun wieder auf der Flucht. Nur dass sein Weglaufen diesmal ein genaues Ziel hat: Sonias Antiquitätenladen in Ohio, wo er auf Antworten hofft, die ihm in seinem Kampf gegen die Umwandlung helfen könnten. Mit seinem Verstoß gegen die Bewährungsunterlagen wird auch Lev wieder zum Flüchtling und als sich im Indianerreservat eine Chance auf Ruhe bietet, steht er vor der Frage, ob er sein Leben weiter dem schweren, aussichtslosen Kampf gegen die Umwandlung widmen will...
Risa sitzt nach der Enttarnung des Proaktiven Bürgerforums auf der Straße und versucht sich alleine durchzuschlagen. Cam verrät die Organisation, die ihn erschaffen hat und setzt alles daran, Risa zu finden. Und als sie alle aufeinandertreffen ist nichts mehr wie zuvor...


"Das bedeutet, dass es in diesem Krieg jetzt drei Seiten gibt", erwidert Lev. Connor gesteht sich ein, dass er recht hat.
"Wenn also die eine Seite von Hass getrieben wird und die zweite von Furcht, was treibt uns an?"
"Hoffnung?", schlägt Lev vor."


Auch wenn die Geschichte insgesamt ein wenig ruhiger voranschreitet als der schnelle Spurt des ersten Teils, bekommen wir auch hier kaum eine Pause zum Verschnaufen. "Vollendet - Die Rache" leidet wie auch schon "Vollendet - Der Aufstand" keineswegs unter dem typischen Mittelteil-Syndrom sondern wartet mit vielen neuen Entwicklungen auf und schafft es, von der ersten bis zur letzten Seite für Hochspannung zu sorgen. Dabei ist die Handlung zwar nicht so dicht und zielführend gepackt wie Teil 1, wieder geht es aber ums Weglaufen vor dem Regime, den JuPos, verrückten Fans und Teilepiraten, kurz: um nackte Überleben von einem Tag auf den anderen. Im Gegensatz zum ersten Teil hat sich jedoch die Ausgangslage geändert: es geht nicht nur darum, über den Tag zu kommen sondern es gilt auch die Umwandlung zu bekämpfen und tausende Wandler vor ihrem grausamen Schicksal zu retten. Die gewonnene Sicherheit und Struktur des Friedhofs im zweiten Band wird hier wieder aufgelöst und da die AUF (Anti-Umwandlungsfront) praktisch am Boden ist, stehen die Flüchtenden fast alleine da. So haben wir es mit einem bekannten und doch ganz neuen Szenario zu tun. Connor, Lev und Risa sind keine hilflosen Kinder mehr, sie sind bekannte Terroristen, Idole unter den Wandlern und sie haben nur zwei Wünsche: Freiheit und das Ende der Umwandlung!

USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren. Wer sich nach Band 1 und Band 2 vielleicht gefragt hat - was soll da noch kommen? - dem sei versichert, dass Neal Shusterman auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit hält, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen. Wieder ist die Handlung so faszinierend, sind die Protagonisten so authentisch und die philosophischen Fragen so aufwühlend, dass wir glatt vergessen, wie absurd, abstoßen und makaber eigentlich dieses Schreckensszenario ist. Diese Idee wird wieder zu einer schockierenden und gleichzeitig wahnsinnig faszinierenden Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.


"Willst du den wahren Grund dafür wissen, warum das Umwandeln immer noch so erfolgreich ist, Miss Risa Ward? Nicht wegen der Körperteile, die wir für uns selbst wollen - sondern wegen der Dinge, die wir gewillt sind zu tun, um unsere Kinder zu retten."


Besonders hervorgehoben wird die perfide Idee wieder durch den meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil, der uns einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen beschert ohne grausam oder blutig zu sein. Das Beste ist jedoch des Autors Fähigkeit, neue Handlungsstränge geschickt mit den schon bekannten zu verweben und die Geschichte immer wieder in eine Richtung zu führen, die der Leser nicht erwartet hätte. Anstatt schon Erzähltes zu wiederholen, drehen schicksalhafte Kreise nur um am Ende wieder genau da anzukommen wo wir losgegangen sind: in Akron. Dabei bekommen wir auch endlich neue Hintergrundinformationen über den Heartland-Krieg, die Beginne der Umwandlung, die Jugend-Revolten und blicken immer mehr in den Abgrund des Proaktiven Bürgerforums, das seine Finger tiefer im Spiel hat, als man jemals geahnt hätte. Durch die Rückblenden aus der Sicht von Janson und Sonia Rheinschild erfahren wir auch interessante Details über die Gründung der AUF, des Proaktiven Bürgerforums und technische Hintergründe zur Umwandlung und die alles entscheidende Frage tritt auf: was wenn es eine Alternative zur Umwandlung gäbe...?

"Leuchte, Cam", sagt Roberta zu ihm. "Leuchte wie der Stern, der du bist."

Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung wird außerdem durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Statt nur wie in den Teilen zuvor an das Sicherheitsbestreben der Gesellschaft zu appellieren, werden die Werbeanzeigen immer schockierender und verlieren jegliche Skrupel. So wird bald auch das freiwillige Umwandeln von Erwachsenen gegen Geld ein Thema genau wie ein Gesetz über das Aushülsen von Gewaltverbrechern und die Umwandlung aller Sträflinge, das in einigen Bundesländern diskutiert wird. Außerdem versprechen neue Marken wie ThinkFast, NeuroWeave oder Sculptura mit denen man neue Eigenschaften kaufen, das Gedächtnis aufpeppen oder seinen Körper zum Traumbody werden lassen kann Luxus, Schönheit und Unsterblichkeit. Der Autor wirft immer wieder ein Leserbrief, ein politisches Statement oder eine Werbeanzeige ein, die uns der absolute Wahnsinn der Umwandlung vor Augen führt und stellt gleichzeitig reale Berichte vor einem jeden der sechs Teile gegenüber. Durch das Einfügen von realen Nachrichten und Links, die sich mit dem Thema beschäftigen wird uns auf erschütternde Art und Weise klar gemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder oder die neue Gefahr durch Körperbomben - die angesprochenen Themen geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Die Umwandlung ist die gewinnträchtigste Brache Amerikas, vielleicht der ganzen Welt. So ein Wirtschaftsmotor schützt sich selbst. Wenn wir die zerstören wollen, müssen wir klüger sein als sie." Und dann lächelt Cam. "Aber sie haben einen großen Fehler gemacht."
"Und der wäre?"
"Sie haben jemanden gebaut, der klüger ist als sie."


Um den Leser auf Trab zu halten, bekommen wir hier natürlich wieder neue Handlungsstränge serviert. Es erzählen in personaler Er-Erzähl-Perspektive Connor, Risa, Lev, Cam, Starkey, Bam, Hayden, Nelson, Roberta, die Rheinschilds aus der Vergangenheit und die drei neuen Protagonisten Grace, Argent und Una. Die Geschwister Grace und Argent Skinner leben in Heartsdale ein gewöhnliches, langweiliges Leben, bis der fanatische Connor-Fan Argent sein Idol im Supermarkt trifft und glatt entführt. Während Argent ein absolut berechnender, dumm-dreister Widerling ist, ist seine minderbemittelte, unförmige Schwester Grace harmlos aber liebenswert. Denkt Connor zumindest, denn hinter dem schlichten Gemüt verstecken sich eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie, sodass sie (bald mein Lieblingscharakter) zu einer wertvollen Verbündeten wird. Auch Unas Leben ist eng mit dem von Lev, Connor, Risa und Cam verbunden, denn ihr Verlobter Wil begab sich in die Hände von Teilepiraten um Lev zu retten. Kein Wunder dass sie wütend ist: auf Lev und Connor die im Reservat auftauchen genau wie auf die Teilepiraten, die Umwandlung und ein gewisser Verbundmensch der die talentierten Gitarren-Hände ihrer großen Liebe erhalten hat...

Ein Rückzugsort im Indianerreservat, ein Unfall auf einer Straußenfarm, die Gefangenschaft eines fanatische Fans, ein Massenlager im Bergwerk, eine Tarnung auf einem Campingplatz, ein Überfall auf ein Ernte Camp, ein Wiedersehen im Antiquitätenladen, eine Therapiesitzung in einer Revival Community, eine Falle von Teilepiraten - wir haben mehr Sichtweisen als je zuvor, reisen mit den Protagonisten durch ganz Amerika und finden uns in den unterschiedlichsten Situationen wieder. Auch Hannah und die kleine Didi aus Teil eins haben nochmal ihren Auftritt und wir erfahren, dass CiFy mit seinen Väter die Tyler-Walker-Stiftung gegründet hat, die WGs fördern, in denen die Empfänger der Teile einer Person zusammenleben und den Umgewandelten somit wieder ganz machen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik sodass es trotz etwas entschleunigter Handlung nie langweilig wird.


"Wir sind keine Helden", antwortet Lev. Darüber muss Elina lächeln: "Wahre Helden glauben nie, dass sie welche sind.", sagt sie zum ihm. "mach nur so weiter, Leb, und leugne es mit jeder Faser deines Daseins."


Das Beste ist jedoch, dass Neal Shusterman seine zentralen Figuren Lev, Risa und Connor durch Cam erweitert und liebevoll weiterentwickelt, sodass wir immer wieder ganz neue Seiten an ihnen kennen lernen. Der impulsive, unbesonnene Connor, der auf dem Flugplatz Respekt, Verantwortung und Berechnung gelernt hat, muss mit seinem Versagen leben und sich fragen, was er wirklich erreichen will. Die zielstrebige und mitfühlende Risa hat ihren Kampfgeist an das Proaktive Bürgerforum verloren, sehnt sich einfach nach Frieden, ist das Flüchten so leid und weiß nicht, was sie gegenüber einem Wesen aus Wandlerteilen empfindet. Der verwirrte, orientierungslose Lev, dessen Gang durch die Hölle sein Kämpferherz freigelegt hat, kehrt in das Indianerreservat zurück, das ihn beherbergt hat und kümmert sich mehr um seine verwundete Seele als um die Revolution.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich den "Flüchtling aus Akron", den "Klatscher, der nicht klatschte" und das "Mädchen mit den gebrochenen Flügeln und einem gebrochenen Rückgrat" einmal noch mehr ins Herz schließen könnte, doch das ist hier passiert. Ich wünsche den dreien so von Herzen Glück, dass es mit jedem Satz mehr wehtut, wenn sie alles verlieren, was sie lieben und zusehen müssen, wie das wofür sie gekämpft haben in Flammen aufgeht. Mindestens genauso sehr wünsche ich Mason Michael Starkey das Verderben, der sich hier immer weiter als absolut skrupelloser, machtgeiler Terrorist entpuppt und mit seinen Taten die ganze Welt in Schrecken versetzt.


"Die denken, wir sind gewalttätig und müssten deshalb umgewandelt werden", beschwor er. "Wir müssen der Welt beweisen, dass das nicht stimmt."
Doch es braucht nur Starkey und fünf umgestoßene Stühle, um alles zu zerstören, wofür sich Connor eingesetzt hat."


Das geheime Highlight der Geschichte ist aber Camus Comprix, der erste Verbundmensch der Geschichte. Die sensible Art und Weise, wie der Autor durch ihn philosophische Fragen einfließen lässt und sie dann durch die intensive, einfühlsame Charakterstudie beantwortet, ist einfach hinreißend! Sind wir mehr als die Summe unserer Einzelteile? Was macht einen Menschen, ein Individuum aus? Ist Cam viele Menschen oder ein einzelner? Kann er als Eigentum seiner Erschaffer gelten oder hat er dieselben Rechte wie alle Menschen? Kann man ein fühlendes, denkendes Wesen sein wenn man nicht geboren wurde? Auch wenn der Gedanke an seine Existenz viel zu verschickt ist, um es ganz zu begreifen, muss man den verlorenen Jungen einfach ins Herz schließen, den die Welt für ein Monster hält und der die unfassbare Aufgabe hat, mehrere hundert Einzelteile zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen. Mit seiner wilden Assoziations-Sprache, seinem verzweifelten Ringen um Ich-Gefühl und seiner Sehnsucht nach Liebe hat er mich tief berührt! Auch wenn er hier immer mehr Charakterzüge zeigt, die mir nicht gefallen haben und seine Besessenheit von Risa ins Gruselige tendiert beginnt er von einem harmlosen Ausstellungsobjekt zum ernstzunehmenden Gegner des Proaktiven Bürgerforums zu werden.


“Bin ich wirklich am Leben? Existiere ich überhaupt? Gewiss existiert er als organische Masse, aber als fühlendes Wesen? Eher als jemand denn als etwas? Zu oft in seinem Leben weiß er es einfach nicht. Und wenn am Ende jeder Einzelne vor seinem Richter steht, wird er dann auch dort stehen, oder werden die einzelnen Teile in ihm zu ihren wahren Besitzern zurückkehren und eine Leere hinterlassen, wo er einst war?”


Das Ende lässt uns dann mit einem riesigen Cliffhanger und tausend unbeantworteten Fragen zurück, die es dringend erforderlich machen, den vierten Teil zu lesen (der nun ENDLICH auch auf Deutsch herausgekommen ist). Auch wenn Band 3 nicht ganz an das Niveau von Band 1 und 2 heranreicht stellt er eine wichtige und superspannende Vorbereitung auf das Finale dar und ich habe mit gleichermaßen Faszination und Abscheu beobachtet, wie sich ein blutiger Dreifrontenkrieg anbahnt. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich durch das Buch gehetzt und in den Strudel der Ereignisse gezogen wurde, lässt sich zum Abschluss also nur sagen, dass dieser Roman eine mehr als würdige Fortsetzung darstellt!



Fazit:


Wie die ganze Reihe schockiert und berührt uns "Vollendet - Die Rache" durch tiefgründige Charaktere, eine absurde Idee mit einem gruselig hohen Wirklichkeitsgehalt, philosophische Fragen, eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik und ein kleiner Schuss Wahnsinn.
Eine etwas gemächlichere aber umso wichtigere Vorbereitung auf das große Finale, dem ich nun mit Spannung entgegenfiebere.

Veröffentlicht am 30.08.2019

Mit träumerischer Magie, hartem Realismus und eingängiger Wahrhaftigkeit!

Washington Black
0

Da diese Geschichte von der Weltpresse in den Himmel gelobt wurde, musste ich sie natürlich unbedingt lesen. Und auch ich wollte diese ungewöhnliche Geschichte lieben - leider ließen mich der zerstückelte ...

Da diese Geschichte von der Weltpresse in den Himmel gelobt wurde, musste ich sie natürlich unbedingt lesen. Und auch ich wollte diese ungewöhnliche Geschichte lieben - leider ließen mich der zerstückelte Aufbau, die eigenwilligen Protagonisten, die vielen Genrefacetten und die klaffende Diskrepanz zwischen Magie und Realismus aber etwas ratlos zurück.


Das Cover ist eine wahre Schönheit! Es war eine unfassbar gute Idee, hier nahe an der Gestaltung der Originalausgabe zu bleiben, die den träumerischen Abenteuer-Charme der Geschichte wunderbar widerspiegelt. Im Zentrum der Gestaltung ist der Wolkenkutter zu sehen, der eine tragende Rolle im Roman spielt und gleichzusetzen mit dem Wunsch nach Freiheit ist. Durch die zarten, beigen Farben, den schwarzen Akzenten und den feinen, goldenen Linien wird die kindliche Sicht des Erzählers deutlich und die verspielten Wolkenwirbel an den Seiten runden die Gestaltung treffend ab. Wundervoll sind auch das goldene Lesebändchen und das Bild innerhalb der Buchdeckel, das zwei Gestalten im Dschungel zeigt, die auf eine Bucht hinunter blicken. Wir begleiten den Protagonisten George Washington Black von 1830 bis 1836 durch seine viergeteilte Lebensgeschichte. Jedem Teil ist ein Bild des Wolkenkutters mit dem kleinen Jungen und dem großen, dünnen Mann mit Fernrohr vorangestellt, welches das Leitmotiv der Handlung wird. Ein weiteres Bild, das zur Freiheit, dem Abenteuer und den ständigen Reisen passt, ist eine fliegende Möwe, die wir vor jedem neuen Kapitel sehen.

Erster Satz: "Ich war vielleicht zehn, elf Jahre alt - genau kann ich das nicht sagen -, als mein erster Master starb."

Mit diesen Worten reisen wir in die drückend heiße Karibik - genauer nach Barbados auf die Faith Plantage, auf der seit Jahren von Sklaven Zuckerrohr angebaut wird. Wir treffen auf den jungen George Washington Black, der als "Feldnigger" mit den Grausamkeiten und der Willkür des Sklavendaseins leben muss. Seine Herkunft ist unbekannt, an seiner Seite steht jedoch unverrückbar "Big Kit", die ihn mit wilder Zärtlichkeit beschützt, bis sein Leben eine unvorhergesehene Wendung nimmt. Es folgt ein herzzerreißendes, brutales Porträt der Sklaverei aus der Sicht eines Kindes, das ans Herz geht, aber ein wenig unstringent erzählt ist. Wir springen vor und zurück in der Handlung, erhalten leise Vorausdeutungen nur um dann verwirrt in der Vergangenheit zurück gelassen zu werden. "Wie ist das, Kit? Frei sein?", fragt Wash Big Kit eines Tages, da er nichts anderes kennt als unfrei, wertlos, rechtlos und eines anderen Besitz zu sein. Als Christopher "Titch" Wilde, der Bruder seines grausamen Masters, ihn zu seinem wissenschaftlichen Assistent erhebt, erfährt er zum ersten Mal einen Vorgeschmack darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein, ein freier Mensch zu sein. Bei Titch lernt er wissenschaftliche Instrumente zu bedienen, mathematische Berechnungen anzustellen, zu lesen, zu schreiben und entdeckt schließlich auch das Zeichnen für sich. Doch dann zwingt sie ein schlimmer Zufall zur Fluch im selbstgebauten Wolkenkutter, der das ungleiche Paar über den ganzen Planeten führt...

"Meine Brust schmerzte vor Kummer und Staunen gleichermaßen, ein Staunen, das immer immer größer wurde und mir den Atem nahm. Der Wolkenkutter drehte sich zunehmend schneller, stieg aber immer noch höher. Ich fing an zu weinen - in tiefen, lautlosen, qualvollen Schluchzern - und drehte das Gesicht weg von Titch, starrte hinaus in die Grenzenlosigkeit der Welt. Die Luft wurde kälter, legte sich wie ein feines Netz auf meine Haut. Es gab nichts mehr als Schatten, rotes Licht, Feuersturm und Raserei. Und wir flogen mitten hinein in das Auge des Sturms, wild und wundersam."

So wird der Mittelteil der Geschichte eingeläutet - wie auch andere Kritiker sagen: viel zu früh für meinen Geschmack, wäre ich doch noch gerne ein wenig länger auf Barbados geblieben. Stattdessen endet die tragische Geschichte über die Sklaverei abrupt und wir suchen Unterschlupf in der Arktis, verlieren Titch, fliehen vor Kopfgeldjägern, finden Freiheit in Kanada und suchen mit Wash vor allem eines: eine Heimat. Leider scheint die Erzählung ab diesem Teil der Handlung genau wie Washingtons Leben ziellos vor sich hin zu plätschern und zerstückelt sich in seltsamen Zeitsprüngen, Ortswechseln und Begegnungen. Wie Washington dabei vom ahnungslosen Jungen zum reifen Wissenschaftler wird und langsam auch sein Künstlertum wieder entwickelt, wird dabei leider nur am Rande erzählt. Erst als Washington auf die junge Künstlerin Tanna und ihren Vater, den berühmten Meeresbiologen Dr. Goff trifft, nimmt die szenenhaft vor sich hertreibende Handlung wieder ein wenig mehr Struktur an und er folgt dem ungleichen Paar nach England, wo seine Flucht vor seiner Vergangenheit in einer verzweifelten Suche nach einer Heimat, Zugehörigkeit und Anerkennung mündet. Und so macht er sich - endlich zum freien Mann geworden - auf die Suche nach Titch, mit dem alles seinen Anfang nahm...

"Ich hatte eine Wahl. Nur wenige Augenblicke, um abzuwägen. Und ich traf sie. Würde ich mich heute wieder so entscheiden? Nun, das ist eine gute Frage. Nur so viel: Selbst wenn ich mir nur wenig von Big Kits Weisheit angeeignet habe, dann doch immerhin, mit dem Blick nach vorn durchs Leben zu gehen, nach dem zu streben, was noch kommt, da der Weg, der hinter einem liegt, unveränderlich ist."

So reisen wir also mit Wash von Barbados mit einem Wolkenkutter und einem Segelschiff nach Virginia, dann nach Hudson Bay in die Arktis, nach Nova Scotia in Kanada, nach England, in die Niederlande und schließlich nach Marrakesch in Marokko. Das wechselnde Setting wird trotz einiger Unglaubwürdigkeit was Praktikabilität der Reisen angeht durch Esi Edugyans wundervolle Sprache und ihre ausdrucksstarken Beschreibungen lebendig. Sie zeichnet Washintons Leben bitter, verstörend, hoffnungsvoll, sanftmütig und wunderschön - oft alles zugleich - und berührt mit eingängiger Wahrhaftigkeit. Leider erscheinen viele Formulierungen, die wohl im Original ungewöhnlich aber interessant waren etwas seltsam. Womöglich ist da bei der Übersetzung einiges verloren gegangen. Was bei mir ebenfalls nicht immer funktioniert hat, sind die seltsamen Gegensätze, durch die sowohl Handlung, Setting als auch die Protagonisten schlecht greifbar blieben.

"Ihr wart Kinder", sagte sein Vater. "Ich hattet keine Ahnung von Schönheit."
"Kinder wissen alles über Schönheit", konterte Titch leise. "Es sind die Erwachsenen, die sich nicht mehr erinnern."

Die Autorin erzählt auf seltsame Art und Weise gleichzeitig mit träumerischer Magie und hartem Realismus, von allem und von nichts, wunderschön aber manchmal leider etwas substanzlos. Auch die Protagonisten wie Big Kit, Titch, Peter Haas, Mister Philip, Mr. Goff oder Tanna sind spannende Kreationen, die man nie ganz versteht und die zu viele Gegensätze vereinen um auf den Leser schlüssig und real zu wirken. So erscheinen sie oftmals eher wie Traumfiguren, Geister oder Projektionen, die Washington auf seinem schwierigen Weg einen Abschnitt lang begleiten.

Zu der allgemeinen Verwirrung, die diese Erzählweise bei mir hervorgerufen hat, hat auch der wilde Genre-Mix beigetragen. Wir haben hier ein brutales Porträt der Sklaverei vorliegen genau wie ein Coming-of-Age-Roman. Zu wissenschaftlichem Entdeckergeist gesellt sich das künstlerische Genie Washingtons. Und zwischen diesen ganzen Teilen wird mit halsbrecherischem Abenteuer und tiefem Freiheitsdrang aufgefüllt. Im Kern ist die Geschichte meiner Meinung nach jedoch ein Bildungsroman, der auf Washingtons Entwicklung hin zu einem freien Mann mit Selbstwertgefühl und Entscheidungskraft fokussiert. Diese wilde Mischung führt aber leider dazu, dass ich am Ende nicht genau wusste, was mir die Geschichte nun sagen soll und sie mich ratlos zurückließ.

"Halte dich an das, was du siehst. Nicht an das, was du sehen sollst."

Am Ende den Ausschlag für meine eher enttäuschte Bilanz hat jedoch das sehr unbefriedigende und abgewürgte Ende gegeben. Wir verlassen die Geschichte nämlich äußerst abrupt mitten in einer spannenden Entwicklung und scheinbar ohne jeden Grund. Es bleiben eine Tonne ungeklärter Fragen und noch viel nicht ausgeschöpftes Potential, das genau wie das restliche Leben Washingtons ungenutzt liegen gelassen wird. Außerdem erhält der Roman gegen Ende einen äußerst seltsamen, schicksalsträchtigen, mythischen Einschlag, der nicht recht zur realistisch-nüchternen-wissenschaftlichen Darstellung des Rests passen will. Was sich Esi Edugyan bei diesem Ende gedacht hat, fällt mir beim besten Willen nicht ein - das gibt einen Stern Abzug!


Fazit:

Ein berührendes Porträt der Sklaverei, das gleichzeitig Coming-of-Age- und Bildungsroman voller wissenschaftlichem Entdeckergeist, künstlerischem Genie, halsbrecherischem Abenteuer und tiefem Freiheitsdrang ist. Der Roman erzählt mit träumerischer Magie und hartem Realismus, bitter verstörend, hoffnungsvoll, sanftmütig und wunderschön - oft alles zugleich - und berührt mit eingängiger Wahrhaftigkeit. Leider trüben der zerstückelte Aufbau, die vielen Gegensätze und das abgewürgte Ende das Bild und so bleibt die Frage, was uns dieser Roman eigentlich sagen will!

Veröffentlicht am 30.08.2019

Mit träumerischer Magie, hartem Realismus und eingängiger Wahrhaftigkeit!

Washington Black
0

Da diese Geschichte von der Weltpresse in den Himmel gelobt wurde, musste ich sie natürlich unbedingt lesen. Und auch ich wollte diese ungewöhnliche Geschichte lieben - leider ließen mich der zerstückelte ...

Da diese Geschichte von der Weltpresse in den Himmel gelobt wurde, musste ich sie natürlich unbedingt lesen. Und auch ich wollte diese ungewöhnliche Geschichte lieben - leider ließen mich der zerstückelte Aufbau, die eigenwilligen Protagonisten, die vielen Genrefacetten und die klaffende Diskrepanz zwischen Magie und Realismus aber etwas ratlos zurück.


Das Cover ist eine wahre Schönheit! Es war eine unfassbar gute Idee, hier nahe an der Gestaltung der Originalausgabe zu bleiben, die den träumerischen Abenteuer-Charme der Geschichte wunderbar widerspiegelt. Im Zentrum der Gestaltung ist der Wolkenkutter zu sehen, der eine tragende Rolle im Roman spielt und gleichzusetzen mit dem Wunsch nach Freiheit ist. Durch die zarten, beigen Farben, den schwarzen Akzenten und den feinen, goldenen Linien wird die kindliche Sicht des Erzählers deutlich und die verspielten Wolkenwirbel an den Seiten runden die Gestaltung treffend ab. Wundervoll sind auch das goldene Lesebändchen und das Bild innerhalb der Buchdeckel, das zwei Gestalten im Dschungel zeigt, die auf eine Bucht hinunter blicken. Wir begleiten den Protagonisten George Washington Black von 1830 bis 1836 durch seine viergeteilte Lebensgeschichte. Jedem Teil ist ein Bild des Wolkenkutters mit dem kleinen Jungen und dem großen, dünnen Mann mit Fernrohr vorangestellt, welches das Leitmotiv der Handlung wird. Ein weiteres Bild, das zur Freiheit, dem Abenteuer und den ständigen Reisen passt, ist eine fliegende Möwe, die wir vor jedem neuen Kapitel sehen.

Erster Satz: "Ich war vielleicht zehn, elf Jahre alt - genau kann ich das nicht sagen -, als mein erster Master starb."

Mit diesen Worten reisen wir in die drückend heiße Karibik - genauer nach Barbados auf die Faith Plantage, auf der seit Jahren von Sklaven Zuckerrohr angebaut wird. Wir treffen auf den jungen George Washington Black, der als "Feldnigger" mit den Grausamkeiten und der Willkür des Sklavendaseins leben muss. Seine Herkunft ist unbekannt, an seiner Seite steht jedoch unverrückbar "Big Kit", die ihn mit wilder Zärtlichkeit beschützt, bis sein Leben eine unvorhergesehene Wendung nimmt. Es folgt ein herzzerreißendes, brutales Porträt der Sklaverei aus der Sicht eines Kindes, das ans Herz geht, aber ein wenig unstringent erzählt ist. Wir springen vor und zurück in der Handlung, erhalten leise Vorausdeutungen nur um dann verwirrt in der Vergangenheit zurück gelassen zu werden. "Wie ist das, Kit? Frei sein?", fragt Wash Big Kit eines Tages, da er nichts anderes kennt als unfrei, wertlos, rechtlos und eines anderen Besitz zu sein. Als Christopher "Titch" Wilde, der Bruder seines grausamen Masters, ihn zu seinem wissenschaftlichen Assistent erhebt, erfährt er zum ersten Mal einen Vorgeschmack darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein, ein freier Mensch zu sein. Bei Titch lernt er wissenschaftliche Instrumente zu bedienen, mathematische Berechnungen anzustellen, zu lesen, zu schreiben und entdeckt schließlich auch das Zeichnen für sich. Doch dann zwingt sie ein schlimmer Zufall zur Fluch im selbstgebauten Wolkenkutter, der das ungleiche Paar über den ganzen Planeten führt...

"Meine Brust schmerzte vor Kummer und Staunen gleichermaßen, ein Staunen, das immer immer größer wurde und mir den Atem nahm. Der Wolkenkutter drehte sich zunehmend schneller, stieg aber immer noch höher. Ich fing an zu weinen - in tiefen, lautlosen, qualvollen Schluchzern - und drehte das Gesicht weg von Titch, starrte hinaus in die Grenzenlosigkeit der Welt. Die Luft wurde kälter, legte sich wie ein feines Netz auf meine Haut. Es gab nichts mehr als Schatten, rotes Licht, Feuersturm und Raserei. Und wir flogen mitten hinein in das Auge des Sturms, wild und wundersam."

So wird der Mittelteil der Geschichte eingeläutet - wie auch andere Kritiker sagen: viel zu früh für meinen Geschmack, wäre ich doch noch gerne ein wenig länger auf Barbados geblieben. Stattdessen endet die tragische Geschichte über die Sklaverei abrupt und wir suchen Unterschlupf in der Arktis, verlieren Titch, fliehen vor Kopfgeldjägern, finden Freiheit in Kanada und suchen mit Wash vor allem eines: eine Heimat. Leider scheint die Erzählung ab diesem Teil der Handlung genau wie Washingtons Leben ziellos vor sich hin zu plätschern und zerstückelt sich in seltsamen Zeitsprüngen, Ortswechseln und Begegnungen. Wie Washington dabei vom ahnungslosen Jungen zum reifen Wissenschaftler wird und langsam auch sein Künstlertum wieder entwickelt, wird dabei leider nur am Rande erzählt. Erst als Washington auf die junge Künstlerin Tanna und ihren Vater, den berühmten Meeresbiologen Dr. Goff trifft, nimmt die szenenhaft vor sich hertreibende Handlung wieder ein wenig mehr Struktur an und er folgt dem ungleichen Paar nach England, wo seine Flucht vor seiner Vergangenheit in einer verzweifelten Suche nach einer Heimat, Zugehörigkeit und Anerkennung mündet. Und so macht er sich - endlich zum freien Mann geworden - auf die Suche nach Titch, mit dem alles seinen Anfang nahm...

"Ich hatte eine Wahl. Nur wenige Augenblicke, um abzuwägen. Und ich traf sie. Würde ich mich heute wieder so entscheiden? Nun, das ist eine gute Frage. Nur so viel: Selbst wenn ich mir nur wenig von Big Kits Weisheit angeeignet habe, dann doch immerhin, mit dem Blick nach vorn durchs Leben zu gehen, nach dem zu streben, was noch kommt, da der Weg, der hinter einem liegt, unveränderlich ist."

So reisen wir also mit Wash von Barbados mit einem Wolkenkutter und einem Segelschiff nach Virginia, dann nach Hudson Bay in die Arktis, nach Nova Scotia in Kanada, nach England, in die Niederlande und schließlich nach Marrakesch in Marokko. Das wechselnde Setting wird trotz einiger Unglaubwürdigkeit was Praktikabilität der Reisen angeht durch Esi Edugyans wundervolle Sprache und ihre ausdrucksstarken Beschreibungen lebendig. Sie zeichnet Washintons Leben bitter, verstörend, hoffnungsvoll, sanftmütig und wunderschön - oft alles zugleich - und berührt mit eingängiger Wahrhaftigkeit. Leider erscheinen viele Formulierungen, die wohl im Original ungewöhnlich aber interessant waren etwas seltsam. Womöglich ist da bei der Übersetzung einiges verloren gegangen. Was bei mir ebenfalls nicht immer funktioniert hat, sind die seltsamen Gegensätze, durch die sowohl Handlung, Setting als auch die Protagonisten schlecht greifbar blieben.

"Ihr wart Kinder", sagte sein Vater. "Ich hattet keine Ahnung von Schönheit."
"Kinder wissen alles über Schönheit", konterte Titch leise. "Es sind die Erwachsenen, die sich nicht mehr erinnern."

Die Autorin erzählt auf seltsame Art und Weise gleichzeitig mit träumerischer Magie und hartem Realismus, von allem und von nichts, wunderschön aber manchmal leider etwas substanzlos. Auch die Protagonisten wie Big Kit, Titch, Peter Haas, Mister Philip, Mr. Goff oder Tanna sind spannende Kreationen, die man nie ganz versteht und die zu viele Gegensätze vereinen um auf den Leser schlüssig und real zu wirken. So erscheinen sie oftmals eher wie Traumfiguren, Geister oder Projektionen, die Washington auf seinem schwierigen Weg einen Abschnitt lang begleiten.

Zu der allgemeinen Verwirrung, die diese Erzählweise bei mir hervorgerufen hat, hat auch der wilde Genre-Mix beigetragen. Wir haben hier ein brutales Porträt der Sklaverei vorliegen genau wie ein Coming-of-Age-Roman. Zu wissenschaftlichem Entdeckergeist gesellt sich das künstlerische Genie Washingtons. Und zwischen diesen ganzen Teilen wird mit halsbrecherischem Abenteuer und tiefem Freiheitsdrang aufgefüllt. Im Kern ist die Geschichte meiner Meinung nach jedoch ein Bildungsroman, der auf Washingtons Entwicklung hin zu einem freien Mann mit Selbstwertgefühl und Entscheidungskraft fokussiert. Diese wilde Mischung führt aber leider dazu, dass ich am Ende nicht genau wusste, was mir die Geschichte nun sagen soll und sie mich ratlos zurückließ.

"Halte dich an das, was du siehst. Nicht an das, was du sehen sollst."

Am Ende den Ausschlag für meine eher enttäuschte Bilanz hat jedoch das sehr unbefriedigende und abgewürgte Ende gegeben. Wir verlassen die Geschichte nämlich äußerst abrupt mitten in einer spannenden Entwicklung und scheinbar ohne jeden Grund. Es bleiben eine Tonne ungeklärter Fragen und noch viel nicht ausgeschöpftes Potential, das genau wie das restliche Leben Washingtons ungenutzt liegen gelassen wird. Außerdem erhält der Roman gegen Ende einen äußerst seltsamen, schicksalsträchtigen, mythischen Einschlag, der nicht recht zur realistisch-nüchternen-wissenschaftlichen Darstellung des Rests passen will. Was sich Esi Edugyan bei diesem Ende gedacht hat, fällt mir beim besten Willen nicht ein - das gibt einen Stern Abzug!


Fazit:

Ein berührendes Porträt der Sklaverei, das gleichzeitig Coming-of-Age- und Bildungsroman voller wissenschaftlichem Entdeckergeist, künstlerischem Genie, halsbrecherischem Abenteuer und tiefem Freiheitsdrang ist. Der Roman erzählt mit träumerischer Magie und hartem Realismus, bitter verstörend, hoffnungsvoll, sanftmütig und wunderschön - oft alles zugleich - und berührt mit eingängiger Wahrhaftigkeit. Leider trüben der zerstückelte Aufbau, die vielen Gegensätze und das abgewürgte Ende das Bild und so bleibt die Frage, was uns dieser Roman eigentlich sagen will!

Veröffentlicht am 29.08.2019

Eine mitreißende Rock-Star-Romanze!

Idol - Gib mir deine Liebe
2

Die VIP-Reihe von NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Kristen Callihan ist eines dieser Guilty Pleasures. Eigentlich ist sie voll von Klischees und oberflächlicher Leidenschaft, aber trotzdem bin ich einfach ...

Die VIP-Reihe von NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Kristen Callihan ist eines dieser Guilty Pleasures. Eigentlich ist sie voll von Klischees und oberflächlicher Leidenschaft, aber trotzdem bin ich einfach süchtig danach und habe schon Band 1 "Idol - Gib mir die Welt" und Band 2 "Idol - Gib mir dein Herz" mit größerer Begeisterung gelesen als mir lieb ist. Nun bin ich der Anziehungskraft wieder erlegen und habe mir auch "Idol - Gib mir deine Liebe", welcher vom Leadgitarrist Jax handelt, den wir aus den vorherigen Bänden schon kennen, angefragt.

"Jeder, der über die Liebe spottet, hat noch nie wahre Leidenschaft erlebt und hat keine Ahnung, wovon er redet.“


Das Cover ist in Farbgebung und Formatierung dem ersten und zweiten Teil angepasst, hat aber meiner Meinung nach eine ganz andere Ausstrahlung. Um es mal vorsichtig zu formulieren: das ist eines dieser Bücher, bei denen ich das Cover in einer U-Bahn sehr gerne verdecken würde, da es doch sehr eindeutig verrät, worum es geht. Während das Cover von Band 1 noch bunt, schillernd, glamourös und sexy war, dabei aber nicht viel verraten hat und wir nur einen dunklen Umriss im hellen Durcheinander aus Nebel, Scheinwerferlicht und Schattenspielen gesehen haben, finde ich das Motiv, der oberkörperfreie Typ hier irgendwie billig. Ich mag es absolut nicht, wenn mir Bilder die Vorstellung eines Charakters verderben. Ich finde alles am Cover schreit: erotischer Milliardärroman - was es streng genommen auch ist, aber da kann man sich im New Adult Genre schon etwas Gehobeneres ausdenken finde ich )

Erster Satz: "Ein Mann verfolgt mich."

Wir steigen in die Geschichte von Stella und John mit einer total absurden Szene in einem Supermarkt ein. New York steht kurz vor einem Schneesturm und Stella will sich gerade mit den überlebenswichtigen Vorräten wie Cookies oder Schoko-Minze-Eis eindecken, als ein fremder, heißer Typ mit genau derselben Idee die letzte Packung unter der Nase wegschnappt. Aus der schicksalshaften Begegnung wird schnell eine enge Beziehung als sich der Minz-Eis-Dieb als Stellas neuer Nachbar herausstellt. Denn der attraktive Minz-Eis-ist kein anderer als Jax Blackwood, Leadsänger und Gitarrist der Rockband Kill John und Stella soll in Killians Abwesenheit dessen Haustiere hüten. Es kommt wie es kommen muss und wir dürfen dabei zusehen, wie sieh zwischen den beiden Protagonisten eine Anziehungskraft entwickelt, die auch beim Leser spürbar wird und dem ein oder anderen amüsanten Wortgefecht beiwohnen...


"Ich schwöre, meine erste Grundschulliebe hatte eine Puppe, die genauso aussah wie du. Ich glaube, sie nannte sie Chucky."
Ich darf den Rockstar nicht treten. Sein Körper ist vermutlich versichert."


Eigentlich ist das ein total typisches, vorhersehbares Buch: ein Mann Typ "sexy, unglaublich gutaussehend, mächtig, reich und mit Problemen belastet" und eine Frau Typ "durchschnittlich aber insgeheim doch wunderschön, offenherzig, gewillt seine Mauern zu durchbrechen und natürlich mit noch mehr Problemen belastet" treffen sich und -booommm- Anziehungskraft, Intrigen und jede Menge Drama. Ja ich kenne dieses Erfolgskonzept und doch falle ich jedes Mal aufs Neue wieder darauf rein. Mit den vielen Wiederholungen ähnlicher Szenen und manchen kleinen Logiklücken ist der Plot keineswegs ein Meisterwerk und auch das Grundgerüst der Geschichte also Stellas Engagement als Haustierhüterin für Killians Kater Stevens und seinen Goldfisch Hawn und ihre erste Begegnung stehen auf sehr wackligen Beinen und gehen nur mit viel Großzügigkeit als glaubwürdig inszeniert durch. Trotzdem habe ich das Prickeln von Anfang an gespürt und konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Durch den stetigen Perspektivenwechsel und die vielen spannenden Nebencharaktere (zum Beispiel die elegante Maddy oder der entrückte Künstler Ramon) blieb die Geschichte immer spannend und ich wurde sehr gerne wieder ein Teil der verrückten, düsteren, lockenden Rock-Welt der Band Kill John.


"Ich habe Angst." Meine Stimme zittert und ihre Miene wird weich. Sie lehnt sich vor und kommt dichter an mich heran. "Wovor?" Ja, wovor eigentlich? Vo dem heißesten, lustigsten, seltsamsten, unvorhersehbarsten Mann, dem sich je begegnet bin."


Der Schreibstil ist mal wieder sehr flüssig und locker, was mir gut gefällt, an manchen Stellen waren mir die Formulierungen aber wieder viel zu derb (könnte vielleicht an der Übersetzung liegen). Doch trotz dass ich die Ausdrucksweise der Charaktere und die ständigen sexualisierten Gedanken manchmal als störend empfunden habe, hat mir der ehrliche Schreibstil der Autorin grundsätzlich gefallen. Auch der Witz und Humor, der den Umgang der Protagonisten Großteils prägt hat, trägt viel dazu bei, die Lesestimmung zu verbessern. In Zusammenspiel mit der sich leise entwickelnden Beziehung der Protagonisten hat die wilde Mischung aus Verführung, Anziehungskraft, Scheinwerferlicht, Musik, Sinnlichkeit, Reichtum neben den Schattenseiten der Berühmtheit wie Groupies, Drogen, Paparazzi, Abhängigkeit vom Plattenvertrag, die in schnellem Tempo immer wieder gegenüber gestellt werden, die mitreißende Wirkung des Romans ausgemacht. Sehr schön war auch wieder, nebenher etwas von der Band mitzubekommen und liebgewonnene Charaktere wiederzusehen. Besonders Scottie als leicht überforderter Papa des Sonnenscheins Felix hat mein Herz zum Schmelzen gebracht.

Wunderbar ist auch, dass hier die Darstellung der Kraft der Musik wieder in den Vordergrund tritt und wir mit Jax die Kraft des Rhythmus´, die Dynamik der Massen und allgemein die Macht der Musik, die Leidenschaft, die Harmonie, spüren dürfen. Natürlich führt der Titel "Idol" erstmal zur Band Kill John, doch es geht im Hintergrund auch viel um wahre Musikidole der vergangenen Dekaden, allen voran Kurt Cobain, David Bowie und Prince, die auch in der Widmung der Autorin erwähnt sind. Für alle, die sich nicht für die Rockmusik des letzten Jahrhunderts interessieren, werden viele Dinge in der Geschichte wohl unverständlich sein, doch Kristen Callihan hat wohl recht, wenn sie schreibt, dass uns diese Rockidole viel zu früh genommen wurden.


"Er legt seine Finger auf die Gitarrensaiten, öffnet den Mund und die Welt verändert sich. Meine Welt verändert sich. Wer ich war, all meine Probleme, all meine Ängste, alles verschwand und es gab nur noch Klang, Musik und Gefühle. Seine Gefühle, bittersüß und wunderschön und schmerzhaft."


Besonders gut gefallen hat mir aber, dass die Protagonisten hier viel greifbarer als die in den vorherigen Bänden erschienen. Kristen Callihan porträtiert New York hier als schillernde, authentische Metropole voller einsamer Außenseiter und das sind John und Stella beide auf ihre Weise auch: einsam, verloren und orientierungslos. John leidet trotz seines Erfolgs und seines Ruhms unter Depressionen und der Angst zu fallen, sodass sich immer wieder dunkle Gedanken einschleichen und an manchen Tagen die Wände erdrückend naherücken. Aus den vorigen Bänden wissen wir, das er vor einigen Jahren versucht hat, sich umzubringen, leider ist diese Thematik aber nur als nettes Drumherum eingesetzt und viel zu wenig genutzt um sagen zu können, der Roman beschäftige sich mit der Thematik. Dennoch erhält die Geschichte durch Jax´ Leid und Stellas Drang nach Anschluss eine emotionalere Tiefgründigkeit, die in den anderen Bänden nicht spürbar war.


"Ich lebe für diesen Rausch, für die Augenblicke auf der Bühne, in denen ich mich unverwundbar fühle und glaube, alles tun zu können. Nichts auf dieser Welt schlägt dieses Gefühl. Die Musik ist meine Seele und wenn ich spiele, bin ich unsterblich. Aber man kann nicht sein ganzes Leben für einen einzigen Augenblick leben. Und der Absturz aus dieser unmöglichen Höhe schmerzt."



Auch Stella ist trotz ihres sonnigen Gemüts und ihrer vielen Bekanntschaften im Grund allein seit sie ihr Vater in einer fremden, riesigen Stadt sitzen gelassen hat. Als sie dann auch noch ihr Heim verliert und an ihrem Job zweifelt, weiß sie nicht mehr wohin sie gehen und was sie machen soll und sehnt sich einfach nach Sicherheit und Geborgenheit. Ob sie diese ausgerechnet beim Frauenheld und Lebemann Jax Blackwood finden wird? Man wünscht den beiden aus vollem Herzen ein Happy End und verfolgt mit Spannung, wie sie durch die wundervolle, heilende Kraft der Musik zueinanderfinden.

Ja und dann kam das Ende. Ich verstehe einfach nicht, warum es Autoren nicht einfach bei einem langsam auslaufenden Ende belassen können, wenn die Handlung nicht anderes hergibt. Aber stattdessen muss nach einem ersten Drittel Anziehung, einem zweiten Drittel Annäherung und einem (meiner Meinung nach zu langen) Sexteil der obligatorische Drop kommen um danach ein übertrieben glückliches Happy-End inszenieren zu können. Ich brauche kein schmalziger Epilog, keine vermeidbare, vorhersehbare Heart-Break-Probleme und auch keine riesige Gesten und Liebeserklärungen wenn das nicht zur Geschichte passt. An alle Autoren da draußen: das nervt, versucht lieber mal was ganz anderes! Mir wären noch etliche Dinge eingefallen, die man noch zu Ende hätte führen können (oder viel mehr müssen) anstatt dieses an den Haaren herbei gezogenen Endes. Zum Beispiel die Sache mit Stellas Vater, die Andeutungen zu Johns Familie, Johns Schreibblockade und so weiter. An Themen für ein Ende hätte es wirklich nicht gemangelt! Ach, ich weiß gar nicht, warum ich dieses Genre überhaupt noch lese, wenn ich mich durchgängig darüber aufrege. Ah ja richtig, wegen des unglaublichen Unterhaltungswerts




Fazit:

Eine mitreißende Rock-Star-Romanze, die sich durch greifbarere Protagonisten, emotionale Tiefgründigkeit und einem schillernden, authentischen Setting von seinen Vorgängern abhebt. Dabei steht das Grundgerüst aber leider auf wackligen Beinen und der vorhersehbare, obligatorische Drop am Ende zerstört den einfühlsamen Eindruck wieder, sodass nur Freunde des Genres voll auf ihre Kosten kommen werden. Wer viel Neues sucht, wird von diesem dritten Teil enttäuscht werden.