Profilbild von Wordworld_Sophia

Wordworld_Sophia

Lesejury Star
offline

Wordworld_Sophia ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Wordworld_Sophia über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.05.2019

Angestaubte Sprache, aufgeblasene Monologe und eine diskontinuierliche Konstruktion der Handlung

Faust
0

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen ...

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen Augenblick festhalten wolle, dann erhält er Fausts Seele. Mephisto tut alles, um Faust vom rechten Weg abzubringen. Er macht ihn jünger und verhilft ihm zu einer Affäre mit einem jungen, unschuldigen Mädchen - Gretchen - dessen physische und psychische Existenz er durch sein triebhaftes, egoistisches Verhalten zerstört. Seine Lebenskrise überwindet er jedoch nicht und sein Irren wird mit "Faust II" weitergeführt.


Vorangestellt muss ich wohl sagen, dass dieser Klassiker eine meiner Deutsch-Abi-Lektüren war, ich mich also im schulischen Rahmen damit beschäftigt habe. Auch wenn ich mir im Rahmen der Klassiker-Challenge das Ziel gesetzt habe, alten Klassikern eine Chance zu geben, hätte ich mich wohl nie an diesen verstaubten Schinken gewagt. Und auch wenn ich die Handlung besser verstanden habe, als ich zu Beginn angenommen hatte, habe ich mich nur durch diese Tragödie gequält. Das liegt meiner Ansicht nach weniger daran, dass ich ein Kulturbanause bin, vielmehr fand ich die Geschichte einfach grottenschlecht erzählt und weder die Handlung noch die Sprache oder die Themen konnten mich abholen. Natürlich ist es sehr schwierig ein solches Werk angemessen zu rezensieren. Und vielleicht kann es auch sein, dass aus mir mit dieser Meinungsäußerung auch der Frust spricht, dass ich mich mit diesem Werkt zwei Jahre lang beschäftigen musste. Dennoch würde ich sagen, dass ich mir nach etlichen Klausuren, detaillierter Textarbeit, spannenden Diskussionen und einer Abiprüfung durchaus das Recht verdient habe, das Werk von meinem Standpunkt aus kritisch zu bewerten.



Wie bin ich mit der Sprache zurecht gekommen?


Goethes Faust ist ein Theaterstück, das aus 28 einzelnen Szenen ohne Akteinteilung besteht. Vielmehr hat sich Goethe hier für ein Stationendrama mit asymmetrischem Aufbau entschieden (2 Peripetien), das man nach der typischen Dramenaufteilung in die Gelehrtentragödie und die Gretchentragödie gliedern kann. Dabei wird die Geschichte nur über Monologe und Dialoge erzählt, die bis auf eine Prosaszene in gereimten Versen verfasst sind. Wem sich bei den Worten Madrigalvers, Knittelvers, Blankvers und freien Rhythmen schon die Nackenhaare sträuben, sollte lieber die Finger davon lassen. Am meisten zu schaffen gemacht hat mir aber nicht die gereimte Sprache mit ihren vielfältigen Versformen und aufgeblasenen Wortbildern, sondern vor allem die diskontinuierliche Szenenfolge. Ständige Zeitsprünge, Ortswechsel und das plötzliche Auf- und Abtreten von Figuren machen das Verfolgen der dialogisch präsentierten Handlung sehr schwer. In der sprachlichen Gestaltung sind eindeutige Einflüsse des Sturm und Drangs erkennbar (eine Epoche deren Gefühlsbetontheit und Ichbezogenheit mir ehrlich gesagt sehr auf die Nerven geht). So hielt Goethe wohl nicht wirklich etwas von einer Einheit von Zeit, Ort, fortlaufender Handlung oder sprachlicher Geschlossenheit sondern legte stattdessen viel Wert auf ausschweifende Monologe von Seiten Fausts über seine Lebenskrise, seinen Treibstau oder über seine entgrenzenden Naturerlebnisse. Wenn ich also sage, die Sprache ist sehr altmodisch und recht anspruchsvoll meine ich eigentlich langweilig und angestaubt. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, welche Art von Faszination für dieses Werk, Menschen dazu treibt, sich freiwillig diesem Kuddelmuddel zu widmen.



Wie finde ich die Konstruktion der Handlung?


Goethe hat dieses Werk über mehrere Jahrzehnte hinweg in mehreren Phasen verfasst („Urfaust“, Fragmente, …). Leider kann man die zeitweisen Arbeitsschritte und die fehlende Stringenz auch der Handlung anspüren. So ist das passendste Attribut, das mir zum Aufbau des Dramas einfällt: verwirrende Inhomogenität. Viele wichtige Informationen werden übergangen, nebenbei erwähnt oder äußerst ungenau wiedergegeben und aufgrund der diskontinuierlichen Szenenfolge lassen sich auch die häufigen Zeitsprünge, die im krassen Gegensatz zu den ausschweifenden Wiederholungen am Anfang stehen, äußerst schlecht identifizieren. So wird dem unwissenden Leser Gretchens Schwangerschaft verschwiegen (bloß wenn man es weiß, kann man Anspielungen erkennen), die Geburt des Kindes, ihr Konflikt und ihr Kindsmord werden zugunsten der widerlich orgiastischen "Walpurgisnacht" und dem parodierenden "Walpurgisnachtstraum" komplett ausgespart. Ich halte mich selbst für eine recht aufmerksame Leserin, aber wenn ich keine schlauen Zusammenfassungen im Internet zur Hilfe gehabt hätte, hätte ich gerade im letzten Teil wenig der Handlung verstanden. Auf der einen Seiten haben mich also die vielen Wiederholungen gleicher Gedankengänge (vor allem Fausts scheinheilige Selbstgespräche, wie weit er bei Gretchen gehen darf) und auf der anderen Seite das Aussparen wichtiger Informationen und essenzieller Szenen, die zum Verständnis der Handlung notwendig sind sowie die nicht vorhandene Kennzeichnung von riesigen Zeitsprüngen, ziemlich verwirrt und genervt. Hätte ein heutiger Roman sich diese grottige Konstruktion geleistet, wäre er in der Luft zerrissen worden.


Kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren?

Allgemein ist das angesichts des Alters des Werks recht schwierig, da die Figuren in einer komplett anderen Zeit gelebt haben und sich sowohl ihre Denk- als auch Lebensweise stark von unserer unterscheidet. Dazu kommt, dass die Hauptfigur Faust mit seinen schätzungsweise 50 Jahren in einer Lebenskrise steckt, die man wohl heutzutage als Midlife Crises betiteln würde und die ich nur schwer auf meine eigene Lebenswelt beziehen kann. So leidet er an einem emotionalen Defizit, hat keine engen sozialen Bindungen und sein immenser Triebstau sorgt in seiner Beziehung mit Gretchen für ein Schwanken zwischen Schwärmerei und sexuellem Verlangen. Ein weiterer Punkt, weshalb ich mit Faust nicht besonders viel anfangen konnte, ist seine verantwortungslose, zerstörerische Ich-Bezogenheit, mit der er das Leben der jungen Margarete zerstört und die Tatsache, dass er all seine Schuld an ihrem Schicksal leugnet, verdrängt und auf Mephisto abzuwälzen versucht. Ihr seht also - ein sehr liebenswerter Charakter, dieser Heinrich Faust.

Da sich mit "Faust" und "Steppenwolf" gleich zwei Schwerpunktlektüren mit den Lebenskrisen älterer Männer befassen und das für mich als junge Frau nicht besonders relevant ist, kam die Prüfungskommission doch tatsächlich auf die Idee, uns "Faust" mit der Begründung schmackhaft zu machen, dass ja mit Margarete ein junges Mädchen eine wichtige Rolle spiele. Dass sie erst 14 Jahre alt ist und sich naiv (trotz guter Intuition) von dem viel älteren Faust verführen (mal ehrlich, das ist trotz seiner Verjüngung echt widerlich), benutzen und wegwerfen lässt, macht sie meiner Meinung nach trotzdem nicht unbedingt zur passendsten Identifikationsperson Die einzig erfreuliche Wendung, die ihren Charakter anbelangt ist, dass sie sich am Ende im Kerker dazu entscheidet, nicht mit Faust zu fliehen, sondern ihre Schuld bekennt, zu sich selbst zurückfindet und sich ihrem Gericht stellt.

Wen ich als einziges wirklich interessant fand, ist Mephisto, da er mit seinen verschiedenen Rollen und Erscheinungsformen sowie mit seiner Stellung als Katalysator des Guten im Weltgefüge als einziger eine gewisse Ambivalenz und Tiefe besitzt. Spannend finde ich auch den Gedanken, dass Faust und Mephisto als antithetische Figuration eines inneren Prozesses gesehen werden können, Mephisto also zum Alter Ego oder zur Wesensdimension Faust werden würde.


Ist das Thema des Romans noch zeitgemäß? Inwiefern lässt es sich auf die heutige Zeit beziehen?

Ganz grob geht es im Faust mit seiner "Zwei-Seelen-Problematik" um den Widerspruch zwischen Körper und Geist, Wissen und Spaß, Intellektualität und Sinnlichem, Göttlichem und Irdischem und dem daraus folgenden Streben nach Entgrenzung. Faust leidet unter seinem begrenzten Erkenntnisvermögen und als klassischer Pantheist unter der Enge des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs, was ihn in eine tiefe Depression stürzt (Gelehrtentragödie). Auf der anderen Seite, locken ihn aber auch die sinnlichen Erfüllungen, was zur Gretchentragödie führt. Diese Thematik, dieser grundsätzliche Widerspruch, ist in ihren Grundzügen meiner Meinung nach immer noch relevant.

Sehr spannend finde ich außerdem, dass Goethe 1808 so offen über Religion und die Abkehr von dieser schreibt. Faust äußert sich als klassischer Pantheist und scheint nicht viel von Gretchens Frömmigkeit zu halten und auch das Gottesbild im "Prolog im Himmel" lässt eher auf eine ganzheitliche Betrachtung der religiösen Vorstellung schließen, als auf eine christliche. Goethes Vorstellung von "Gut und Böse" und Mephisto als wichtige Erfüllungshilfe, der die Menschen in ihrer Trägheit zum Streben bringt, empfinde ich ebenfalls als recht fortschrittlich.

Auch wenn das vermutlich nicht so beabsichtigt war, könnte man außerdem in Gretchens Opferrolle ein abschreckendes Beispiel für das Scheitern einer Beziehung sehen. Da sich die beiden in Alter, Schicht, Intelligenz, Reife, Religiosität und Ehrlichkeit der Absichten stark unterscheiden, ist ein Scheitern eigentlich vorprogrammiert. Ihre Beziehung war von Beginn an von Hierarchie, Abhängigkeit und von keiner richtigen Liebe von Seiten Fausts geprägt und stand unter dem Vorzeichen von Lug und Betrug.



Gesamteindruck: Ein Klassiker und must-read?

Goethes "Faust" ist insofern ein interessanter Klassiker als dass es Merkmale mehrerer verschiedener Epochen aufweist (Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Aufklärung) und für die damalige Zeit recht fortschrittlich war was Sozialkritik, Religionskritik und Wissenschaftskritik anbelangt. Ob es ein "must-read" ist, würde ich dennoch entschiedenen verneinen. Weder die umständliche Sprache mit den aufgeblasenen Dialogen, den vielen Wiederholungen noch die diskontinuierliche Konstruktion der Handlung oder die fragwürdigen Figuren konnten mich überzeugen. So ist alles was von dem Werk bleibt der schale Triumpf, es einmal in meinem Leben gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 13.05.2019

Angestaubte Sprache, aufgeblasene Monologe und eine diskontinuierliche Konstruktion der Handlung

Faust
0

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen ...

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen Augenblick festhalten wolle, dann erhält er Fausts Seele. Mephisto tut alles, um Faust vom rechten Weg abzubringen. Er macht ihn jünger und verhilft ihm zu einer Affäre mit einem jungen, unschuldigen Mädchen - Gretchen - dessen physische und psychische Existenz er durch sein triebhaftes, egoistisches Verhalten zerstört. Seine Lebenskrise überwindet er jedoch nicht und sein Irren wird mit "Faust II" weitergeführt.


Vorangestellt muss ich wohl sagen, dass dieser Klassiker eine meiner Deutsch-Abi-Lektüren war, ich mich also im schulischen Rahmen damit beschäftigt habe. Auch wenn ich mir im Rahmen der Klassiker-Challenge das Ziel gesetzt habe, alten Klassikern eine Chance zu geben, hätte ich mich wohl nie an diesen verstaubten Schinken gewagt. Und auch wenn ich die Handlung besser verstanden habe, als ich zu Beginn angenommen hatte, habe ich mich nur durch diese Tragödie gequält. Das liegt meiner Ansicht nach weniger daran, dass ich ein Kulturbanause bin, vielmehr fand ich die Geschichte einfach grottenschlecht erzählt und weder die Handlung noch die Sprache oder die Themen konnten mich abholen. Natürlich ist es sehr schwierig ein solches Werk angemessen zu rezensieren. Und vielleicht kann es auch sein, dass aus mir mit dieser Meinungsäußerung auch der Frust spricht, dass ich mich mit diesem Werkt zwei Jahre lang beschäftigen musste. Dennoch würde ich sagen, dass ich mir nach etlichen Klausuren, detaillierter Textarbeit, spannenden Diskussionen und einer Abiprüfung durchaus das Recht verdient habe, das Werk von meinem Standpunkt aus kritisch zu bewerten.



Wie bin ich mit der Sprache zurecht gekommen?


Goethes Faust ist ein Theaterstück, das aus 28 einzelnen Szenen ohne Akteinteilung besteht. Vielmehr hat sich Goethe hier für ein Stationendrama mit asymmetrischem Aufbau entschieden (2 Peripetien), das man nach der typischen Dramenaufteilung in die Gelehrtentragödie und die Gretchentragödie gliedern kann. Dabei wird die Geschichte nur über Monologe und Dialoge erzählt, die bis auf eine Prosaszene in gereimten Versen verfasst sind. Wem sich bei den Worten Madrigalvers, Knittelvers, Blankvers und freien Rhythmen schon die Nackenhaare sträuben, sollte lieber die Finger davon lassen. Am meisten zu schaffen gemacht hat mir aber nicht die gereimte Sprache mit ihren vielfältigen Versformen und aufgeblasenen Wortbildern, sondern vor allem die diskontinuierliche Szenenfolge. Ständige Zeitsprünge, Ortswechsel und das plötzliche Auf- und Abtreten von Figuren machen das Verfolgen der dialogisch präsentierten Handlung sehr schwer. In der sprachlichen Gestaltung sind eindeutige Einflüsse des Sturm und Drangs erkennbar (eine Epoche deren Gefühlsbetontheit und Ichbezogenheit mir ehrlich gesagt sehr auf die Nerven geht). So hielt Goethe wohl nicht wirklich etwas von einer Einheit von Zeit, Ort, fortlaufender Handlung oder sprachlicher Geschlossenheit sondern legte stattdessen viel Wert auf ausschweifende Monologe von Seiten Fausts über seine Lebenskrise, seinen Treibstau oder über seine entgrenzenden Naturerlebnisse. Wenn ich also sage, die Sprache ist sehr altmodisch und recht anspruchsvoll meine ich eigentlich langweilig und angestaubt. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, welche Art von Faszination für dieses Werk, Menschen dazu treibt, sich freiwillig diesem Kuddelmuddel zu widmen.



Wie finde ich die Konstruktion der Handlung?


Goethe hat dieses Werk über mehrere Jahrzehnte hinweg in mehreren Phasen verfasst („Urfaust“, Fragmente, …). Leider kann man die zeitweisen Arbeitsschritte und die fehlende Stringenz auch der Handlung anspüren. So ist das passendste Attribut, das mir zum Aufbau des Dramas einfällt: verwirrende Inhomogenität. Viele wichtige Informationen werden übergangen, nebenbei erwähnt oder äußerst ungenau wiedergegeben und aufgrund der diskontinuierlichen Szenenfolge lassen sich auch die häufigen Zeitsprünge, die im krassen Gegensatz zu den ausschweifenden Wiederholungen am Anfang stehen, äußerst schlecht identifizieren. So wird dem unwissenden Leser Gretchens Schwangerschaft verschwiegen (bloß wenn man es weiß, kann man Anspielungen erkennen), die Geburt des Kindes, ihr Konflikt und ihr Kindsmord werden zugunsten der widerlich orgiastischen "Walpurgisnacht" und dem parodierenden "Walpurgisnachtstraum" komplett ausgespart. Ich halte mich selbst für eine recht aufmerksame Leserin, aber wenn ich keine schlauen Zusammenfassungen im Internet zur Hilfe gehabt hätte, hätte ich gerade im letzten Teil wenig der Handlung verstanden. Auf der einen Seiten haben mich also die vielen Wiederholungen gleicher Gedankengänge (vor allem Fausts scheinheilige Selbstgespräche, wie weit er bei Gretchen gehen darf) und auf der anderen Seite das Aussparen wichtiger Informationen und essenzieller Szenen, die zum Verständnis der Handlung notwendig sind sowie die nicht vorhandene Kennzeichnung von riesigen Zeitsprüngen, ziemlich verwirrt und genervt. Hätte ein heutiger Roman sich diese grottige Konstruktion geleistet, wäre er in der Luft zerrissen worden.


Kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren?

Allgemein ist das angesichts des Alters des Werks recht schwierig, da die Figuren in einer komplett anderen Zeit gelebt haben und sich sowohl ihre Denk- als auch Lebensweise stark von unserer unterscheidet. Dazu kommt, dass die Hauptfigur Faust mit seinen schätzungsweise 50 Jahren in einer Lebenskrise steckt, die man wohl heutzutage als Midlife Crises betiteln würde und die ich nur schwer auf meine eigene Lebenswelt beziehen kann. So leidet er an einem emotionalen Defizit, hat keine engen sozialen Bindungen und sein immenser Triebstau sorgt in seiner Beziehung mit Gretchen für ein Schwanken zwischen Schwärmerei und sexuellem Verlangen. Ein weiterer Punkt, weshalb ich mit Faust nicht besonders viel anfangen konnte, ist seine verantwortungslose, zerstörerische Ich-Bezogenheit, mit der er das Leben der jungen Margarete zerstört und die Tatsache, dass er all seine Schuld an ihrem Schicksal leugnet, verdrängt und auf Mephisto abzuwälzen versucht. Ihr seht also - ein sehr liebenswerter Charakter, dieser Heinrich Faust.

Da sich mit "Faust" und "Steppenwolf" gleich zwei Schwerpunktlektüren mit den Lebenskrisen älterer Männer befassen und das für mich als junge Frau nicht besonders relevant ist, kam die Prüfungskommission doch tatsächlich auf die Idee, uns "Faust" mit der Begründung schmackhaft zu machen, dass ja mit Margarete ein junges Mädchen eine wichtige Rolle spiele. Dass sie erst 14 Jahre alt ist und sich naiv (trotz guter Intuition) von dem viel älteren Faust verführen (mal ehrlich, das ist trotz seiner Verjüngung echt widerlich), benutzen und wegwerfen lässt, macht sie meiner Meinung nach trotzdem nicht unbedingt zur passendsten Identifikationsperson Die einzig erfreuliche Wendung, die ihren Charakter anbelangt ist, dass sie sich am Ende im Kerker dazu entscheidet, nicht mit Faust zu fliehen, sondern ihre Schuld bekennt, zu sich selbst zurückfindet und sich ihrem Gericht stellt.

Wen ich als einziges wirklich interessant fand, ist Mephisto, da er mit seinen verschiedenen Rollen und Erscheinungsformen sowie mit seiner Stellung als Katalysator des Guten im Weltgefüge als einziger eine gewisse Ambivalenz und Tiefe besitzt. Spannend finde ich auch den Gedanken, dass Faust und Mephisto als antithetische Figuration eines inneren Prozesses gesehen werden können, Mephisto also zum Alter Ego oder zur Wesensdimension Faust werden würde.


Ist das Thema des Romans noch zeitgemäß? Inwiefern lässt es sich auf die heutige Zeit beziehen?

Ganz grob geht es im Faust mit seiner "Zwei-Seelen-Problematik" um den Widerspruch zwischen Körper und Geist, Wissen und Spaß, Intellektualität und Sinnlichem, Göttlichem und Irdischem und dem daraus folgenden Streben nach Entgrenzung. Faust leidet unter seinem begrenzten Erkenntnisvermögen und als klassischer Pantheist unter der Enge des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs, was ihn in eine tiefe Depression stürzt (Gelehrtentragödie). Auf der anderen Seite, locken ihn aber auch die sinnlichen Erfüllungen, was zur Gretchentragödie führt. Diese Thematik, dieser grundsätzliche Widerspruch, ist in ihren Grundzügen meiner Meinung nach immer noch relevant.

Sehr spannend finde ich außerdem, dass Goethe 1808 so offen über Religion und die Abkehr von dieser schreibt. Faust äußert sich als klassischer Pantheist und scheint nicht viel von Gretchens Frömmigkeit zu halten und auch das Gottesbild im "Prolog im Himmel" lässt eher auf eine ganzheitliche Betrachtung der religiösen Vorstellung schließen, als auf eine christliche. Goethes Vorstellung von "Gut und Böse" und Mephisto als wichtige Erfüllungshilfe, der die Menschen in ihrer Trägheit zum Streben bringt, empfinde ich ebenfalls als recht fortschrittlich.

Auch wenn das vermutlich nicht so beabsichtigt war, könnte man außerdem in Gretchens Opferrolle ein abschreckendes Beispiel für das Scheitern einer Beziehung sehen. Da sich die beiden in Alter, Schicht, Intelligenz, Reife, Religiosität und Ehrlichkeit der Absichten stark unterscheiden, ist ein Scheitern eigentlich vorprogrammiert. Ihre Beziehung war von Beginn an von Hierarchie, Abhängigkeit und von keiner richtigen Liebe von Seiten Fausts geprägt und stand unter dem Vorzeichen von Lug und Betrug.



Gesamteindruck: Ein Klassiker und must-read?

Goethes "Faust" ist insofern ein interessanter Klassiker als dass es Merkmale mehrerer verschiedener Epochen aufweist (Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Aufklärung) und für die damalige Zeit recht fortschrittlich war was Sozialkritik, Religionskritik und Wissenschaftskritik anbelangt. Ob es ein "must-read" ist, würde ich dennoch entschiedenen verneinen. Weder die umständliche Sprache mit den aufgeblasenen Dialogen, den vielen Wiederholungen noch die diskontinuierliche Konstruktion der Handlung oder die fragwürdigen Figuren konnten mich überzeugen. So ist alles was von dem Werk bleibt der schale Triumpf, es einmal in meinem Leben gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 13.05.2019

Angestaubte Sprache, aufgeblasene Monologe und eine diskontinuierliche Konstruktion der Handlung

Faust I
0

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen ...

Der depressive und vom Leben enttäuschte Universalgelehrte Faust geht zum Überwinden seiner Lebenskrise einen Packt mit dem Teufel Mephisto ein. Sollte Mephisto Faust so weit bringen, dass er einen glücklichen Augenblick festhalten wolle, dann erhält er Fausts Seele. Mephisto tut alles, um Faust vom rechten Weg abzubringen. Er macht ihn jünger und verhilft ihm zu einer Affäre mit einem jungen, unschuldigen Mädchen - Gretchen - dessen physische und psychische Existenz er durch sein triebhaftes, egoistisches Verhalten zerstört. Seine Lebenskrise überwindet er jedoch nicht und sein Irren wird mit "Faust II" weitergeführt.


Vorangestellt muss ich wohl sagen, dass dieser Klassiker eine meiner Deutsch-Abi-Lektüren war, ich mich also im schulischen Rahmen damit beschäftigt habe. Auch wenn ich mir im Rahmen der Klassiker-Challenge das Ziel gesetzt habe, alten Klassikern eine Chance zu geben, hätte ich mich wohl nie an diesen verstaubten Schinken gewagt. Und auch wenn ich die Handlung besser verstanden habe, als ich zu Beginn angenommen hatte, habe ich mich nur durch diese Tragödie gequält. Das liegt meiner Ansicht nach weniger daran, dass ich ein Kulturbanause bin, vielmehr fand ich die Geschichte einfach grottenschlecht erzählt und weder die Handlung noch die Sprache oder die Themen konnten mich abholen. Natürlich ist es sehr schwierig ein solches Werk angemessen zu rezensieren. Und vielleicht kann es auch sein, dass aus mir mit dieser Meinungsäußerung auch der Frust spricht, dass ich mich mit diesem Werkt zwei Jahre lang beschäftigen musste. Dennoch würde ich sagen, dass ich mir nach etlichen Klausuren, detaillierter Textarbeit, spannenden Diskussionen und einer Abiprüfung durchaus das Recht verdient habe, das Werk von meinem Standpunkt aus kritisch zu bewerten.



Wie bin ich mit der Sprache zurecht gekommen?


Goethes Faust ist ein Theaterstück, das aus 28 einzelnen Szenen ohne Akteinteilung besteht. Vielmehr hat sich Goethe hier für ein Stationendrama mit asymmetrischem Aufbau entschieden (2 Peripetien), das man nach der typischen Dramenaufteilung in die Gelehrtentragödie und die Gretchentragödie gliedern kann. Dabei wird die Geschichte nur über Monologe und Dialoge erzählt, die bis auf eine Prosaszene in gereimten Versen verfasst sind. Wem sich bei den Worten Madrigalvers, Knittelvers, Blankvers und freien Rhythmen schon die Nackenhaare sträuben, sollte lieber die Finger davon lassen. Am meisten zu schaffen gemacht hat mir aber nicht die gereimte Sprache mit ihren vielfältigen Versformen und aufgeblasenen Wortbildern, sondern vor allem die diskontinuierliche Szenenfolge. Ständige Zeitsprünge, Ortswechsel und das plötzliche Auf- und Abtreten von Figuren machen das Verfolgen der dialogisch präsentierten Handlung sehr schwer. In der sprachlichen Gestaltung sind eindeutige Einflüsse des Sturm und Drangs erkennbar (eine Epoche deren Gefühlsbetontheit und Ichbezogenheit mir ehrlich gesagt sehr auf die Nerven geht). So hielt Goethe wohl nicht wirklich etwas von einer Einheit von Zeit, Ort, fortlaufender Handlung oder sprachlicher Geschlossenheit sondern legte stattdessen viel Wert auf ausschweifende Monologe von Seiten Fausts über seine Lebenskrise, seinen Treibstau oder über seine entgrenzenden Naturerlebnisse. Wenn ich also sage, die Sprache ist sehr altmodisch und recht anspruchsvoll meine ich eigentlich langweilig und angestaubt. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, welche Art von Faszination für dieses Werk, Menschen dazu treibt, sich freiwillig diesem Kuddelmuddel zu widmen.



Wie finde ich die Konstruktion der Handlung?


Goethe hat dieses Werk über mehrere Jahrzehnte hinweg in mehreren Phasen verfasst („Urfaust“, Fragmente, …). Leider kann man die zeitweisen Arbeitsschritte und die fehlende Stringenz auch der Handlung anspüren. So ist das passendste Attribut, das mir zum Aufbau des Dramas einfällt: verwirrende Inhomogenität. Viele wichtige Informationen werden übergangen, nebenbei erwähnt oder äußerst ungenau wiedergegeben und aufgrund der diskontinuierlichen Szenenfolge lassen sich auch die häufigen Zeitsprünge, die im krassen Gegensatz zu den ausschweifenden Wiederholungen am Anfang stehen, äußerst schlecht identifizieren. So wird dem unwissenden Leser Gretchens Schwangerschaft verschwiegen (bloß wenn man es weiß, kann man Anspielungen erkennen), die Geburt des Kindes, ihr Konflikt und ihr Kindsmord werden zugunsten der widerlich orgiastischen "Walpurgisnacht" und dem parodierenden "Walpurgisnachtstraum" komplett ausgespart. Ich halte mich selbst für eine recht aufmerksame Leserin, aber wenn ich keine schlauen Zusammenfassungen im Internet zur Hilfe gehabt hätte, hätte ich gerade im letzten Teil wenig der Handlung verstanden. Auf der einen Seiten haben mich also die vielen Wiederholungen gleicher Gedankengänge (vor allem Fausts scheinheilige Selbstgespräche, wie weit er bei Gretchen gehen darf) und auf der anderen Seite das Aussparen wichtiger Informationen und essenzieller Szenen, die zum Verständnis der Handlung notwendig sind sowie die nicht vorhandene Kennzeichnung von riesigen Zeitsprüngen, ziemlich verwirrt und genervt. Hätte ein heutiger Roman sich diese grottige Konstruktion geleistet, wäre er in der Luft zerrissen worden.


Kann ich mich mit den Protagonisten identifizieren?

Allgemein ist das angesichts des Alters des Werks recht schwierig, da die Figuren in einer komplett anderen Zeit gelebt haben und sich sowohl ihre Denk- als auch Lebensweise stark von unserer unterscheidet. Dazu kommt, dass die Hauptfigur Faust mit seinen schätzungsweise 50 Jahren in einer Lebenskrise steckt, die man wohl heutzutage als Midlife Crises betiteln würde und die ich nur schwer auf meine eigene Lebenswelt beziehen kann. So leidet er an einem emotionalen Defizit, hat keine engen sozialen Bindungen und sein immenser Triebstau sorgt in seiner Beziehung mit Gretchen für ein Schwanken zwischen Schwärmerei und sexuellem Verlangen. Ein weiterer Punkt, weshalb ich mit Faust nicht besonders viel anfangen konnte, ist seine verantwortungslose, zerstörerische Ich-Bezogenheit, mit der er das Leben der jungen Margarete zerstört und die Tatsache, dass er all seine Schuld an ihrem Schicksal leugnet, verdrängt und auf Mephisto abzuwälzen versucht. Ihr seht also - ein sehr liebenswerter Charakter, dieser Heinrich Faust.

Da sich mit "Faust" und "Steppenwolf" gleich zwei Schwerpunktlektüren mit den Lebenskrisen älterer Männer befassen und das für mich als junge Frau nicht besonders relevant ist, kam die Prüfungskommission doch tatsächlich auf die Idee, uns "Faust" mit der Begründung schmackhaft zu machen, dass ja mit Margarete ein junges Mädchen eine wichtige Rolle spiele. Dass sie erst 14 Jahre alt ist und sich naiv (trotz guter Intuition) von dem viel älteren Faust verführen (mal ehrlich, das ist trotz seiner Verjüngung echt widerlich), benutzen und wegwerfen lässt, macht sie meiner Meinung nach trotzdem nicht unbedingt zur passendsten Identifikationsperson Die einzig erfreuliche Wendung, die ihren Charakter anbelangt ist, dass sie sich am Ende im Kerker dazu entscheidet, nicht mit Faust zu fliehen, sondern ihre Schuld bekennt, zu sich selbst zurückfindet und sich ihrem Gericht stellt.

Wen ich als einziges wirklich interessant fand, ist Mephisto, da er mit seinen verschiedenen Rollen und Erscheinungsformen sowie mit seiner Stellung als Katalysator des Guten im Weltgefüge als einziger eine gewisse Ambivalenz und Tiefe besitzt. Spannend finde ich auch den Gedanken, dass Faust und Mephisto als antithetische Figuration eines inneren Prozesses gesehen werden können, Mephisto also zum Alter Ego oder zur Wesensdimension Faust werden würde.


Ist das Thema des Romans noch zeitgemäß? Inwiefern lässt es sich auf die heutige Zeit beziehen?

Ganz grob geht es im Faust mit seiner "Zwei-Seelen-Problematik" um den Widerspruch zwischen Körper und Geist, Wissen und Spaß, Intellektualität und Sinnlichem, Göttlichem und Irdischem und dem daraus folgenden Streben nach Entgrenzung. Faust leidet unter seinem begrenzten Erkenntnisvermögen und als klassischer Pantheist unter der Enge des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs, was ihn in eine tiefe Depression stürzt (Gelehrtentragödie). Auf der anderen Seite, locken ihn aber auch die sinnlichen Erfüllungen, was zur Gretchentragödie führt. Diese Thematik, dieser grundsätzliche Widerspruch, ist in ihren Grundzügen meiner Meinung nach immer noch relevant.

Sehr spannend finde ich außerdem, dass Goethe 1808 so offen über Religion und die Abkehr von dieser schreibt. Faust äußert sich als klassischer Pantheist und scheint nicht viel von Gretchens Frömmigkeit zu halten und auch das Gottesbild im "Prolog im Himmel" lässt eher auf eine ganzheitliche Betrachtung der religiösen Vorstellung schließen, als auf eine christliche. Goethes Vorstellung von "Gut und Böse" und Mephisto als wichtige Erfüllungshilfe, der die Menschen in ihrer Trägheit zum Streben bringt, empfinde ich ebenfalls als recht fortschrittlich.

Auch wenn das vermutlich nicht so beabsichtigt war, könnte man außerdem in Gretchens Opferrolle ein abschreckendes Beispiel für das Scheitern einer Beziehung sehen. Da sich die beiden in Alter, Schicht, Intelligenz, Reife, Religiosität und Ehrlichkeit der Absichten stark unterscheiden, ist ein Scheitern eigentlich vorprogrammiert. Ihre Beziehung war von Beginn an von Hierarchie, Abhängigkeit und von keiner richtigen Liebe von Seiten Fausts geprägt und stand unter dem Vorzeichen von Lug und Betrug.



Gesamteindruck: Ein Klassiker und must-read?

Goethes "Faust" ist insofern ein interessanter Klassiker als dass es Merkmale mehrerer verschiedener Epochen aufweist (Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Aufklärung) und für die damalige Zeit recht fortschrittlich war was Sozialkritik, Religionskritik und Wissenschaftskritik anbelangt. Ob es ein "must-read" ist, würde ich dennoch entschiedenen verneinen. Weder die umständliche Sprache mit den aufgeblasenen Dialogen, den vielen Wiederholungen noch die diskontinuierliche Konstruktion der Handlung oder die fragwürdigen Figuren konnten mich überzeugen. So ist alles was von dem Werk bleibt der schale Triumpf, es einmal in meinem Leben gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 10.05.2019

Ein düsteres, vielseitiges Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele!

Die Schlacht um Wörter und Blut (Das Buch von Kelanna 3)
0


"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, ...


"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, das in eine wundervoll schreckliche Welt aus Wasser, Schiffen und Magie entführt. Doch spätestens nach dem grandiosen Mittelteil "Ein Schatz aus Papier und Magie", der ästhetische Gestaltung, herzzerreißende Gefühle und brutale Action zu einer unvergesslichen Geschichte vereint, bin ich ein absoluter Fan von Traci Chee. Dieser finale Abschlussband schafft es noch, Band 1 und 2 in Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum zu toppen und zeigt mal wieder, wie viel Kraft Fantasy haben kann.

Ganz besonders hervorheben will ich zu Beginn wieder die Gestaltung, die ein einziger Traum in metallischem Rosé ist und zusammen mit den anderen beiden Cover zu den schönsten aber vor allem zu den passendsten Gestaltungen gehören, die ich jemals gesehen habe. Ganz im Zentrum des Bildes steht wieder das alte Buch mit den vergilbten Seiten, aus dessen Tiefen eine Kämpfertruppe reitet, Pfeile abschießt und von einem Mädchen in wallenden Gewändern beobachtet wird - einem Mädchen als Leserin oder als Gelesene, als Teil der Geschichte, die kein Anfang und kein Ende hat. Der Titel umrahmt dieses Bild wieder in schwarzen Schnörkeln und komplettiert die Gestaltung. Im Gegensatz zu der warmen, lebendigen Ausstrahlung von Band 1 und der kälteren, klinischeren Faszination des Silbers in Band 2, verströmt der metallisch schimmernde, Rotton mit braunen und violetten Einschlägen eine düstere, brutalere, blutigere Atmosphäre. Zusammen mit dem Titel und der blutroten Farbe unter dem Umschlag, der wieder mit wunderschönen, goldenen Gravuren verziert ist, kommt sofort die Assoziation von Blut und einer großen Schlacht auf. Einzig das hellrosa Lesebändchen scheint optisch nicht ganz in die Gestaltung zu passen.

Besonders gut gefallen hat mir aber auch wieder die Gestaltung innerhalb der Buchdeckel. Dort erwarten unser prüfendes Leserauge jede Menge liebevoll gestaltete Überraschungen wie zum Beispiel wieder eine geheime Botschaft, die zwischen den Zeilen versteckt an uns gerichtet ist:

"Dies ist eine Geschichte so weit wie das Meer,
doch die Freiheit geht für dich nur bis hierher.
Wohin du auch segelst, dein Weg ist gesetzt,
das Schicksal lacht dich aus und zieht fester das Netz.

Ein Wort mag in Kelanna ein Hauch nur sein,
doch wenn es geschrieben steht, trifft es auch ein.
Siehst du genau hin, gelingt der Versuch?
Das Buch ist eine Welt, denn die Welt ist ein Buch."

Und wir verstehen, dass die versteckten Botschaften Teil eines Gedichts waren, welches für die Handlung noch eine tiefere Bedeutung bekommt. Dazu sage ich nur eins: WOW! Von einer herausnehmbaren Klappkarte von Kelanna, über kurze Briefen, geheimnisvolle Zeichen und Inschriften, geschwärzte Seiten, vergilbt erscheinende, hervorgehobene Auszüge aus dem Buch, verschiedene Schriftarten bis zu versteckten Botschaften ist alles dabei um unser Gehirn auf Trab zu halten und unser Leserherz zu erfreuen! So werden wir auf ungewohnt aktive Weise mit in das Geschehen mit einbezogen und werden Teil dieser Geschichte, sowie Sefia Teil der ihrseits gelesenen Geschichte wird. Ganz große Klasse!


Erste Sätze: "Es war einmal, doch es würde nicht immer sein. So hören alle Geschichten auf."


Wir steigen mit einem schicksalshaften Prolog in die Geschichte ein, der an den Anfangsprolog im ersten Teil erinnert und wieder einmal das prophezeite Ende vorweg nimmt, das Sefia und Archer mit aller Kraft zu verhindern suchen. Es stand geschrieben, dass Sefia im Alter von fünf Jahren ihre Mutter verlieren, im Alter von neun erleben, wie ihr Vater ermordet wurde und auf der Flucht ihr letztes Familienmitglied verlieren sollte. Es stand geschrieben, dass sie mächtiger werden sollte, als ihre Eltern und eines Tages im schrecklichsten Krieg aller Zeiten das Blatt wenden würde. Es stand geschrieben, dass Archer mit einer Narbe gebrandmarkt, das Kämpfen gelehrt und zum größten Krieger aller Zeiten werden sollte. Es stand geschrieben, dass die beiden sich treffen und verlieben sollten. Und all das ist eingetroffen. Denn was geschrieben steht, trifft schließlich immer ein - das ist in Kelanna ein ungeschriebenes Gesetz. Doch es steht auch geschrieben, dass Sefia alles verlieren würde. Dass der Junge, den sie liebt eine unaufhaltsame Armee anführen, alle fünf Inseln im Roten Krieg erobern und dann alleine sterben würde. Und um das zu verhindern müssen die beiden nicht nur den Krieg aufhalten, der um sie herum bereits tobt, ihre Freunde retten, die zwischen die Schusslinien der Völker geraten und ein längst verschollenes Relikt aus alten Zeiten finden, sondern auch das Schicksal verändern und die Geschichte umschreiben, in der sie leben. Doch egal was die beiden tun, das Schicksal hat immer die Nase vorn und als die finale Schlacht bevor steht, läuft ihnen die Zeit davon...


"Die Macht der Skriptoren hat die Geografie der Welt verändern. Dann muss sie auch in der Lage sein, das Leben eines Jungen zu retten." Sie hob Zeigefinger und Mittelfinger und kreuzte sie. "Den Jungen, den ich liebe."


Mit dem vorweggenommenen Ende und der erkennbaren Hinführung aller Handlungsstränge auf eben dieses hat Traci Chee ihrer Geschichte einen düsteren Rahmen gegeben, welcher uns im Nacken sitzt und beim Lesen vorantreibt. Denn dass wir mit jeder Seite dem unausweichlichen Übel einen Schritt näher kommen und unsere geliebten Protagonisten dem Schicksal nicht entkommen können, erzeugt eine schmerzliche, verzweifelte, intensive Spannung, die uns gleichzeitig bangen und hoffen, schneller voran hetzen und langsamer lesen, aufgeben und mitleiden lässt. Auch wenn ich mir zu Beginn sicher war, dass die beiden einen Weg finden würden, ihr Schicksal abzuwenden, wurde ich mir mit jeder verstreichenden Seite unsicherer, ob die Autorin uns als letzten genialen Schachzug nicht genau das Ende vorsetzen würde, dass sie uns schon zu Beginn versprochen hatte. So wollte ich gleichzeitig schnell am Ende ankommen, um zu sehen, was im Endkampf wirklich passieren würde, gleichzeitig aber doch nie das Ende erreichen, falls ich dort wirklich mit der schmerzlichen Wahrheit konfrontiert werden würde.

Dieser ständige Zwiespalt gepaart mit dem für einen Fantasy-Roman und vor allem für einen Finalband sehr langsamen aber wunderbar flüssigen und intensiven Erzähltempo, haben mich schier wahnsinnig gemacht. Anstatt dass hier Schlachten Schlag auf Schlag auf uns herein prasseln, lässt sich Traci Chee mal wieder genüsslich viel Zeit, verschiedene Handlungsstränge auszubauen, die in verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten spielen und diese langsam, nach und nach zu einem Gesamtbild zu verflechten. Immer wieder erfahren wir hier mehr über die Geschichte Keleannas, die Pläne der Wache, die wahre Rolle von Sefias Eltern und die Vergangenheit Archers. Mit jeder neuen Wendung, mit jedem neuen Schritt in eine andere Richtung, mit jeder neuen Enthüllung, mit jedem Kapitel wird dieses Buch um ein wundervolles Detail reicher und die Handlung um einen Hauch komplexer. Man kann vielleicht kritisieren, dass in diesem Buch ein bisschen viel Hin- und Her die Handlung beherrscht und zwischendurch die Offenheit ein wenig auf die Bremse drückt, doch gerade diese chronische Unentschlossenheit, die rastlose Suche nach dem richtigen Weg und das sich Entfernen und wieder Aufeinanderzugehen der Protagonisten, macht das Feinfühlige der Geschichte aus. Durch den geschickt verschlungenen Aufbau der Geschichte und dem tollen Setting, das abwechslungsreich und wunderbar detailreich ausgearbeitet ist, wird die Geschichte zu einem kleinen Gesamtkunstwerk!


"Zuhause ist das, was du dazu machst, hatte Nin ihr einmal erklärt. Sefia hatte lange geglaubt, ihr Zuhause sei für immer verloren - ein Haus auf einem Hügel über dem Meer, eine Frau mit Wunderhänden -, doch als sie sich jetzt in der Kapitänskajüte umschaute, wurde ihr klar, dass sie nicht nur ein einziges Zuhause hatte, sondern mehrere."



Vor allem zeichnet diese Reihe jedoch die hinreißende Atmosphäre aus, die unter anderem durch den besonderen Schreibstil von Traci Chee generiert wird. Die bildgewaltige Sprache schafft es, die schöne Vielseitigkeit Kelannas und ihrer Bewohner in Worte zu bannen, sie mit Vergleichen greifbar zu machen und sie mit ergreifenden Metaphern direkt in unserem Herzen zu verankern. Dabei kreiert sie einen eigentlich abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen. Noch nie habe ich eine Geschichte gelesen, in der düstere Gedanken so dicht neben zärtlicher, verborgener Liebe liegen, in der neben der brutalen Welt noch so viel Platz für sehnsuchtsvolle Melancholie ist, in der auf der einen Seite spannende Abenteuer locken, während ein Wort weiter schon der tiefe Abgrund wartet. Trotz dass diese Teil handlungsintensiver, blutiger und epischer ist, beschert er uns dennoch einen zarten, vorsichtigen Blick auf die Charaktere und enthüllt mit einfühlsamen Gefühlsbeschreibungen die Abgründe der menschlichen Seele.
Durch den teils auktorialen Erzähler und teils personalen Erzähler bekommen wir die Möglichkeit, unsere lesenden Blicke über alle Zeiten, über alle Königreiche Kelannas und in etliche Köpfe schweifen zu lassen und gleichzeitig globale, lokale, zwischenmenschliche und innerpersonelle Entwicklungen im Auge zu behalten.


"Ich bin dir nicht deshalb gefolgt, weil du strak warst. Ich bin dir gefolgt weil du mutig, klug und freundlich warst. Ich habe nicht deshalb an dich geglaubt, weil du magische Kräfte hattest. Ich habe an dich geglaubt, weil du mitfühlend und einfallsreich und zu stur warst, um aufzugeben." Er küsste sie aufs Haar. "Ich liebe dich nicht deshalb, weil du mächtig bist. Ich liebe dich, weil du eine gute Freundin bist und eine noch bessere Gefährtin und mit Abstand der beste Mensch, der mir je begegnet ist." Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. "Sefia, du bist mehr als genug!"


Sefia ist immer noch die Hauptprotagonistin und mit ihrer verständnisvollen, mutigen, herzlichen, sensiblen, selbstbestimmten, gewitzten Art einfach liebenswert. Hier macht sie jedoch eine leise, zaghafte Entwicklung durch, die sie auf eine ganz neue Betrachtungsebene hebt. War sie zuvor von ihrem Durst nach Rache für den Tod ihrer Eltern und der Entführung ihrer Tante getrieben, litt sie nach der Begegnung mit der Wache noch unter der Wahrheit, dass ihre eigenen Eltern Schuld am Leid sind, dass Archer und so vielen anderen widerfahren war, beginnt sie hier mit der Entdeckung neuer Kräfte eine ungeahnte Verantwortung für Kelanna und all seine Bewohner zu entwickeln und muss gleichzeitig mit neuen Fragen kämpfen - was wird sie tun, wenn sie sich zwischen Archer und der Welt entscheiden muss? Kann sie ihn vor seinem Schicksal beschützen? Was ist sie bereit für ihr eigenes Glück zu opfern? Und: Wie kann sie weiterleben wenn er tatsächlich sterben sollte?

Auch Archer kämpft mit seinen inneren Dämonen. Seitdem er durch Sefia von seiner dunklen Zeit in den Kampfringen der Wache befreit wurde, ist viel passiert. Er hat langsam wieder den Menschen in sich entdeckt, zu sprechen begonnen und durch Liebe sein Herz geheilt. Er hat den geschlagenen, gebrochenen Teil in ihm nach Blut und Vergeltung schreien hören und dem Drang zu kämpfen nachgegeben, als er das Echo dieses Bedürfnisses in den Augen der anderen Blutritzer gesehen hat. Er hat mit den Blutritzern, der Mannschaft der "Strömung der Zuversicht" und Sefia eine neue Familie gefunden und gleichzeitig seine richtige Familie verloren. Und er wurde immer mehr zu dem unerbittlichen Krieger, den die Prophezeiung vorsieht, und spielte damit in die Hände der Wache. Ist er wirklich der Junge mit den Narben, der die Welt verändern und dann sterben wird? Kann er seine Blutritzer oder überhaupt irgendeine Armee anführen, wenn er immer noch jede Nacht vom Töten träumt? Will er vor seiner Verantwortung weglaufen und damit alle seine Freunde im Stich lassen, nur um dem Schicksal zu entkommen? Und kann er es zulassen, dass Sefia tausende von Leben auslöscht und die Geschichte neu schreibt, nur um sein Leben zu retten?


"Scarzas Stimme war sanft an Archers Schulter. "Wir werden die Last eine Weile für dich mittragen." Und da wusste Archer, wer er ohne Gewalt war, ohne das Töten, ohne Schicksal, Er vergrub das Gesicht in Sefias Haaren und weinte leise - vor Trauer und vor Erleichterung. Ich bin ein Junge, der lebt."


Neben den beiden tauchen natürlich unsere altbekannten und geliebten Seitenhandlungsstränge wieder auf, die mit der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. So sind wieder Käpt´n Lees´ Bestrebungen, durch unglaubliche Geschichten und Abenteuer unsterblich zu werden, Teil der Handlung und wir ziehen mit der "Strömung der Zuversicht" und den anderen Schiffen der Gesetzlosen in einen unmöglichen Krieg. Schon im ersten Teil habe ich den geheimnisvollen Käpt´n genau wie seine Crew, dem starken Zimmermann Ross, dem blinden und doch nicht orientierungslosen Ersten Steuermann, dem mutigen Lind, der geschickten Doc, dem missmutigen Jigo, dem begabten Cooky, der jungen Vorsängerin Jules mit der wunderschönen Stimme und vielen weiteren besonderen Persönlichkeiten, ins Herz geschlossen. Doch während Käpt´n Lees in Band 1 mit wahnwitzigen Abenteuern versucht hat, auf Teufel komm raus in den Köpfen der Menschen als Erinnerung zu überleben und somit unsterblich zu sein, versucht er sich seinen Platz in der Geschichte nun durch seinen heldenhaften Kampf gegen die Übermacht der Allianz zu sichern. Und das obwohl sein prophezeiter Tod immer näher rückt.


"Ohne auf die Kugeln zu achten, die zwischen den Gewehrmännern und dem Feind hin- und herflogen, erklomm Ed den Bugspriet. Da stand er in voller Größe über das Wasser gebeugt, weithin zu sehen. Hier bin ich, dachte er und betrachtete die Schiffe von Delienne. Euer König."



Nebenbei verfolgen wir auch wieder Tanin, deren Geschichte und Beweggründe genau wie der genaue Hintergrund der Machenschaften der Wache genauer durchleuchtet werden. Und während sie in zuvor noch klar als Antagonistin gesehen werden konnte, wird die Ambivalenz hier immer größer und dem Leser fällt es immer schwerer, sie für ihre Taten zu verurteilen. Sehr bereichert haben die Geschichte auch die beiden neueren Handlungsstränge, die die Geschichte des einsamen Königs von Delienne und die Erlebnisse der jungen Seekadetten Haldon Lac und Olly Hob auf sehr berührende Art und Weise verbinden. In Band 2 haben wir schon den melancholischen, lebensmüden Eduoar Corabelli kennengelernt, der als letzter König von seinem Berater und besten Freund Arcadimon aus dem Verkehr gezogen werden musste, damit sich der Plan der Wache erfüllen konnte. Da in Arcadimon aber zu lange schon widersprüchliche Gefühle kämpfen und er es nicht über sich bringen konnte, den Mann zu töten, der er mit ganzem Herzen liebt, hat er seinen Tod vorgetäuscht und damit sein eigenes Leben in Gefahr gebracht. Als Ed, der sich seitdem anonym und unerkannt auf der Flucht befindet, auf die beiden verrückten und sensationshungrigen Rotröcke Lac und Hob trifft, färbt ein wenig von ihrer Lebensfreude auf ihn ab, und er beginnt wieder ein Ziel vor Augen seine Melancholie zu überwinden und schließlich in seine Rolle als König hinein zu wachsen.

!!Achtung Spoiler!!


Was dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele aber wirklich so herausstechen lässt, ist dass die Autorin hier wieder mit dem Grundgedanken einer Geschichte spielt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen lässt und die philosophische Frage in den Raum wirft, ob wir bloß Teil einer Geschichte sind, die andere lesen. So eröffnet sie neue Möglichkeiten für die Geschichte und schafft gleichzeitig eine Hymne an das Lesen an sich. Ein Beispiel für solch einen Transzendenzversuch ist, dass sie dem Leser die Möglichkeit bietet, vor der großen Schlacht, mit dem Lesen aufzuhören, damit alle geliebten Protagonisten weiterlesen. So legt sie die Verantwortung für das Ende der Geschichte in die Hände des Lesers und erklärt somit, warum immer eintreffen muss, was geschrieben steht: als Leser kann man einfach nicht aufhören zu lesen, egal was einen noch erwartet.

"Du wirst nicht erfahren, wie es endet. Denn es endet nicht. Die Geschichte geht immer weiter und weiter, für immer, und sie leben. Sie leben alle. Solange du nicht umblätterst."

Ein weiterer absolut genialer Schachzug ist, dass die Erzählerin der Geschichte als aktive Figur in die Handlung einsteigt und somit die Leserin oder wie im Originaltitel angedeutet, "The Storyteller", als Person mit Gefühlen auftaucht. Dieser Gedankengang ist so gruselig wie faszinierend und hat mich wirklich beeindruckt. Genauso sehr beeindruckt hat mich ihr Mut, das absolut gemeine Ende wirklich durchzuziehen. Denn in der letzten epischen Schlacht erfüllt sich doch tatsächlich das vorgesehene Schicksal für alle Protagonisten und lässt uns gleichzeitig verzweifelt, tieftraurig, orientierungslos und mit dem Wunsch zurück, man hätte an der Stelle aufgehört, wo es uns freigestellt wurde weiterzulesen.

"Die Welt war ein Buch. Sie lebte in einem Buch. Sie war in einem Buch. Und alle Bücher waren von jemandem geschrieben worden. (…) Da blickte Sefia auf, durch die steinerne Decke des Tresors hindurch, durch die Bergluft, an den Sternen vorbei.
Und dahinter...
Da war ich, schaute sie an, während ich dir ihre Geschichte erzähle."



!!Spoiler Ende!!




Fazit:

Dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele toppt seine beiden Vorgänger nochmal was Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum angeht und wird mit seiner bildgewaltigen Sprache, den tiefgründigen, ambivalenten Protagonisten, der genialen Handlungskonzeption, dem abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen und den spannenden Experimenten mit Erzählperspektiven zu einer Hymne an das Lesen an sich.
Einfach WOW!

Veröffentlicht am 10.05.2019

Ein düsteres, vielseitiges Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele!

Die Schlacht um Wörter und Blut (Das Buch von Kelanna 3)
1


"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, ...


"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, das in eine wundervoll schreckliche Welt aus Wasser, Schiffen und Magie entführt. Doch spätestens nach dem grandiosen Mittelteil "Ein Schatz aus Papier und Magie", der ästhetische Gestaltung, herzzerreißende Gefühle und brutale Action zu einer unvergesslichen Geschichte vereint, bin ich ein absoluter Fan von Traci Chee. Dieser finale Abschlussband schafft es noch, Band 1 und 2 in Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum zu toppen und zeigt mal wieder, wie viel Kraft Fantasy haben kann.

Ganz besonders hervorheben will ich zu Beginn wieder die Gestaltung, die ein einziger Traum in metallischem Rosé ist und zusammen mit den anderen beiden Cover zu den schönsten aber vor allem zu den passendsten Gestaltungen gehören, die ich jemals gesehen habe. Ganz im Zentrum des Bildes steht wieder das alte Buch mit den vergilbten Seiten, aus dessen Tiefen eine Kämpfertruppe reitet, Pfeile abschießt und von einem Mädchen in wallenden Gewändern beobachtet wird - einem Mädchen als Leserin oder als Gelesene, als Teil der Geschichte, die kein Anfang und kein Ende hat. Der Titel umrahmt dieses Bild wieder in schwarzen Schnörkeln und komplettiert die Gestaltung. Im Gegensatz zu der warmen, lebendigen Ausstrahlung von Band 1 und der kälteren, klinischeren Faszination des Silbers in Band 2, verströmt der metallisch schimmernde, Rotton mit braunen und violetten Einschlägen eine düstere, brutalere, blutigere Atmosphäre. Zusammen mit dem Titel und der blutroten Farbe unter dem Umschlag, der wieder mit wunderschönen, goldenen Gravuren verziert ist, kommt sofort die Assoziation von Blut und einer großen Schlacht auf. Einzig das hellrosa Lesebändchen scheint optisch nicht ganz in die Gestaltung zu passen.

Besonders gut gefallen hat mir aber auch wieder die Gestaltung innerhalb der Buchdeckel. Dort erwarten unser prüfendes Leserauge jede Menge liebevoll gestaltete Überraschungen wie zum Beispiel wieder eine geheime Botschaft, die zwischen den Zeilen versteckt an uns gerichtet ist:

"Dies ist eine Geschichte so weit wie das Meer,
doch die Freiheit geht für dich nur bis hierher.
Wohin du auch segelst, dein Weg ist gesetzt,
das Schicksal lacht dich aus und zieht fester das Netz.

Ein Wort mag in Kelanna ein Hauch nur sein,
doch wenn es geschrieben steht, trifft es auch ein.
Siehst du genau hin, gelingt der Versuch?
Das Buch ist eine Welt, denn die Welt ist ein Buch."

Und wir verstehen, dass die versteckten Botschaften Teil eines Gedichts waren, welches für die Handlung noch eine tiefere Bedeutung bekommt. Dazu sage ich nur eins: WOW! Von einer herausnehmbaren Klappkarte von Kelanna, über kurze Briefen, geheimnisvolle Zeichen und Inschriften, geschwärzte Seiten, vergilbt erscheinende, hervorgehobene Auszüge aus dem Buch, verschiedene Schriftarten bis zu versteckten Botschaften ist alles dabei um unser Gehirn auf Trab zu halten und unser Leserherz zu erfreuen! So werden wir auf ungewohnt aktive Weise mit in das Geschehen mit einbezogen und werden Teil dieser Geschichte, sowie Sefia Teil der ihrseits gelesenen Geschichte wird. Ganz große Klasse!


Erste Sätze: "Es war einmal, doch es würde nicht immer sein. So hören alle Geschichten auf."


Wir steigen mit einem schicksalshaften Prolog in die Geschichte ein, der an den Anfangsprolog im ersten Teil erinnert und wieder einmal das prophezeite Ende vorweg nimmt, das Sefia und Archer mit aller Kraft zu verhindern suchen. Es stand geschrieben, dass Sefia im Alter von fünf Jahren ihre Mutter verlieren, im Alter von neun erleben, wie ihr Vater ermordet wurde und auf der Flucht ihr letztes Familienmitglied verlieren sollte. Es stand geschrieben, dass sie mächtiger werden sollte, als ihre Eltern und eines Tages im schrecklichsten Krieg aller Zeiten das Blatt wenden würde. Es stand geschrieben, dass Archer mit einer Narbe gebrandmarkt, das Kämpfen gelehrt und zum größten Krieger aller Zeiten werden sollte. Es stand geschrieben, dass die beiden sich treffen und verlieben sollten. Und all das ist eingetroffen. Denn was geschrieben steht, trifft schließlich immer ein - das ist in Kelanna ein ungeschriebenes Gesetz. Doch es steht auch geschrieben, dass Sefia alles verlieren würde. Dass der Junge, den sie liebt eine unaufhaltsame Armee anführen, alle fünf Inseln im Roten Krieg erobern und dann alleine sterben würde. Und um das zu verhindern müssen die beiden nicht nur den Krieg aufhalten, der um sie herum bereits tobt, ihre Freunde retten, die zwischen die Schusslinien der Völker geraten und ein längst verschollenes Relikt aus alten Zeiten finden, sondern auch das Schicksal verändern und die Geschichte umschreiben, in der sie leben. Doch egal was die beiden tun, das Schicksal hat immer die Nase vorn und als die finale Schlacht bevor steht, läuft ihnen die Zeit davon...


"Die Macht der Skriptoren hat die Geografie der Welt verändern. Dann muss sie auch in der Lage sein, das Leben eines Jungen zu retten." Sie hob Zeigefinger und Mittelfinger und kreuzte sie. "Den Jungen, den ich liebe."


Mit dem vorweggenommenen Ende und der erkennbaren Hinführung aller Handlungsstränge auf eben dieses hat Traci Chee ihrer Geschichte einen düsteren Rahmen gegeben, welcher uns im Nacken sitzt und beim Lesen vorantreibt. Denn dass wir mit jeder Seite dem unausweichlichen Übel einen Schritt näher kommen und unsere geliebten Protagonisten dem Schicksal nicht entkommen können, erzeugt eine schmerzliche, verzweifelte, intensive Spannung, die uns gleichzeitig bangen und hoffen, schneller voran hetzen und langsamer lesen, aufgeben und mitleiden lässt. Auch wenn ich mir zu Beginn sicher war, dass die beiden einen Weg finden würden, ihr Schicksal abzuwenden, wurde ich mir mit jeder verstreichenden Seite unsicherer, ob die Autorin uns als letzten genialen Schachzug nicht genau das Ende vorsetzen würde, dass sie uns schon zu Beginn versprochen hatte. So wollte ich gleichzeitig schnell am Ende ankommen, um zu sehen, was im Endkampf wirklich passieren würde, gleichzeitig aber doch nie das Ende erreichen, falls ich dort wirklich mit der schmerzlichen Wahrheit konfrontiert werden würde.

Dieser ständige Zwiespalt gepaart mit dem für einen Fantasy-Roman und vor allem für einen Finalband sehr langsamen aber wunderbar flüssigen und intensiven Erzähltempo, haben mich schier wahnsinnig gemacht. Anstatt dass hier Schlachten Schlag auf Schlag auf uns herein prasseln, lässt sich Traci Chee mal wieder genüsslich viel Zeit, verschiedene Handlungsstränge auszubauen, die in verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten spielen und diese langsam, nach und nach zu einem Gesamtbild zu verflechten. Immer wieder erfahren wir hier mehr über die Geschichte Keleannas, die Pläne der Wache, die wahre Rolle von Sefias Eltern und die Vergangenheit Archers. Mit jeder neuen Wendung, mit jedem neuen Schritt in eine andere Richtung, mit jeder neuen Enthüllung, mit jedem Kapitel wird dieses Buch um ein wundervolles Detail reicher und die Handlung um einen Hauch komplexer. Man kann vielleicht kritisieren, dass in diesem Buch ein bisschen viel Hin- und Her die Handlung beherrscht und zwischendurch die Offenheit ein wenig auf die Bremse drückt, doch gerade diese chronische Unentschlossenheit, die rastlose Suche nach dem richtigen Weg und das sich Entfernen und wieder Aufeinanderzugehen der Protagonisten, macht das Feinfühlige der Geschichte aus. Durch den geschickt verschlungenen Aufbau der Geschichte und dem tollen Setting, das abwechslungsreich und wunderbar detailreich ausgearbeitet ist, wird die Geschichte zu einem kleinen Gesamtkunstwerk!


"Zuhause ist das, was du dazu machst, hatte Nin ihr einmal erklärt. Sefia hatte lange geglaubt, ihr Zuhause sei für immer verloren - ein Haus auf einem Hügel über dem Meer, eine Frau mit Wunderhänden -, doch als sie sich jetzt in der Kapitänskajüte umschaute, wurde ihr klar, dass sie nicht nur ein einziges Zuhause hatte, sondern mehrere."



Vor allem zeichnet diese Reihe jedoch die hinreißende Atmosphäre aus, die unter anderem durch den besonderen Schreibstil von Traci Chee generiert wird. Die bildgewaltige Sprache schafft es, die schöne Vielseitigkeit Kelannas und ihrer Bewohner in Worte zu bannen, sie mit Vergleichen greifbar zu machen und sie mit ergreifenden Metaphern direkt in unserem Herzen zu verankern. Dabei kreiert sie einen eigentlich abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen. Noch nie habe ich eine Geschichte gelesen, in der düstere Gedanken so dicht neben zärtlicher, verborgener Liebe liegen, in der neben der brutalen Welt noch so viel Platz für sehnsuchtsvolle Melancholie ist, in der auf der einen Seite spannende Abenteuer locken, während ein Wort weiter schon der tiefe Abgrund wartet. Trotz dass diese Teil handlungsintensiver, blutiger und epischer ist, beschert er uns dennoch einen zarten, vorsichtigen Blick auf die Charaktere und enthüllt mit einfühlsamen Gefühlsbeschreibungen die Abgründe der menschlichen Seele.
Durch den teils auktorialen Erzähler und teils personalen Erzähler bekommen wir die Möglichkeit, unsere lesenden Blicke über alle Zeiten, über alle Königreiche Kelannas und in etliche Köpfe schweifen zu lassen und gleichzeitig globale, lokale, zwischenmenschliche und innerpersonelle Entwicklungen im Auge zu behalten.


"Ich bin dir nicht deshalb gefolgt, weil du strak warst. Ich bin dir gefolgt weil du mutig, klug und freundlich warst. Ich habe nicht deshalb an dich geglaubt, weil du magische Kräfte hattest. Ich habe an dich geglaubt, weil du mitfühlend und einfallsreich und zu stur warst, um aufzugeben." Er küsste sie aufs Haar. "Ich liebe dich nicht deshalb, weil du mächtig bist. Ich liebe dich, weil du eine gute Freundin bist und eine noch bessere Gefährtin und mit Abstand der beste Mensch, der mir je begegnet ist." Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. "Sefia, du bist mehr als genug!"


Sefia ist immer noch die Hauptprotagonistin und mit ihrer verständnisvollen, mutigen, herzlichen, sensiblen, selbstbestimmten, gewitzten Art einfach liebenswert. Hier macht sie jedoch eine leise, zaghafte Entwicklung durch, die sie auf eine ganz neue Betrachtungsebene hebt. War sie zuvor von ihrem Durst nach Rache für den Tod ihrer Eltern und der Entführung ihrer Tante getrieben, litt sie nach der Begegnung mit der Wache noch unter der Wahrheit, dass ihre eigenen Eltern Schuld am Leid sind, dass Archer und so vielen anderen widerfahren war, beginnt sie hier mit der Entdeckung neuer Kräfte eine ungeahnte Verantwortung für Kelanna und all seine Bewohner zu entwickeln und muss gleichzeitig mit neuen Fragen kämpfen - was wird sie tun, wenn sie sich zwischen Archer und der Welt entscheiden muss? Kann sie ihn vor seinem Schicksal beschützen? Was ist sie bereit für ihr eigenes Glück zu opfern? Und: Wie kann sie weiterleben wenn er tatsächlich sterben sollte?

Auch Archer kämpft mit seinen inneren Dämonen. Seitdem er durch Sefia von seiner dunklen Zeit in den Kampfringen der Wache befreit wurde, ist viel passiert. Er hat langsam wieder den Menschen in sich entdeckt, zu sprechen begonnen und durch Liebe sein Herz geheilt. Er hat den geschlagenen, gebrochenen Teil in ihm nach Blut und Vergeltung schreien hören und dem Drang zu kämpfen nachgegeben, als er das Echo dieses Bedürfnisses in den Augen der anderen Blutritzer gesehen hat. Er hat mit den Blutritzern, der Mannschaft der "Strömung der Zuversicht" und Sefia eine neue Familie gefunden und gleichzeitig seine richtige Familie verloren. Und er wurde immer mehr zu dem unerbittlichen Krieger, den die Prophezeiung vorsieht, und spielte damit in die Hände der Wache. Ist er wirklich der Junge mit den Narben, der die Welt verändern und dann sterben wird? Kann er seine Blutritzer oder überhaupt irgendeine Armee anführen, wenn er immer noch jede Nacht vom Töten träumt? Will er vor seiner Verantwortung weglaufen und damit alle seine Freunde im Stich lassen, nur um dem Schicksal zu entkommen? Und kann er es zulassen, dass Sefia tausende von Leben auslöscht und die Geschichte neu schreibt, nur um sein Leben zu retten?


"Scarzas Stimme war sanft an Archers Schulter. "Wir werden die Last eine Weile für dich mittragen." Und da wusste Archer, wer er ohne Gewalt war, ohne das Töten, ohne Schicksal, Er vergrub das Gesicht in Sefias Haaren und weinte leise - vor Trauer und vor Erleichterung. Ich bin ein Junge, der lebt."


Neben den beiden tauchen natürlich unsere altbekannten und geliebten Seitenhandlungsstränge wieder auf, die mit der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. So sind wieder Käpt´n Lees´ Bestrebungen, durch unglaubliche Geschichten und Abenteuer unsterblich zu werden, Teil der Handlung und wir ziehen mit der "Strömung der Zuversicht" und den anderen Schiffen der Gesetzlosen in einen unmöglichen Krieg. Schon im ersten Teil habe ich den geheimnisvollen Käpt´n genau wie seine Crew, dem starken Zimmermann Ross, dem blinden und doch nicht orientierungslosen Ersten Steuermann, dem mutigen Lind, der geschickten Doc, dem missmutigen Jigo, dem begabten Cooky, der jungen Vorsängerin Jules mit der wunderschönen Stimme und vielen weiteren besonderen Persönlichkeiten, ins Herz geschlossen. Doch während Käpt´n Lees in Band 1 mit wahnwitzigen Abenteuern versucht hat, auf Teufel komm raus in den Köpfen der Menschen als Erinnerung zu überleben und somit unsterblich zu sein, versucht er sich seinen Platz in der Geschichte nun durch seinen heldenhaften Kampf gegen die Übermacht der Allianz zu sichern. Und das obwohl sein prophezeiter Tod immer näher rückt.


"Ohne auf die Kugeln zu achten, die zwischen den Gewehrmännern und dem Feind hin- und herflogen, erklomm Ed den Bugspriet. Da stand er in voller Größe über das Wasser gebeugt, weithin zu sehen. Hier bin ich, dachte er und betrachtete die Schiffe von Delienne. Euer König."



Nebenbei verfolgen wir auch wieder Tanin, deren Geschichte und Beweggründe genau wie der genaue Hintergrund der Machenschaften der Wache genauer durchleuchtet werden. Und während sie in zuvor noch klar als Antagonistin gesehen werden konnte, wird die Ambivalenz hier immer größer und dem Leser fällt es immer schwerer, sie für ihre Taten zu verurteilen. Sehr bereichert haben die Geschichte auch die beiden neueren Handlungsstränge, die die Geschichte des einsamen Königs von Delienne und die Erlebnisse der jungen Seekadetten Haldon Lac und Olly Hob auf sehr berührende Art und Weise verbinden. In Band 2 haben wir schon den melancholischen, lebensmüden Eduoar Corabelli kennengelernt, der als letzter König von seinem Berater und besten Freund Arcadimon aus dem Verkehr gezogen werden musste, damit sich der Plan der Wache erfüllen konnte. Da in Arcadimon aber zu lange schon widersprüchliche Gefühle kämpfen und er es nicht über sich bringen konnte, den Mann zu töten, der er mit ganzem Herzen liebt, hat er seinen Tod vorgetäuscht und damit sein eigenes Leben in Gefahr gebracht. Als Ed, der sich seitdem anonym und unerkannt auf der Flucht befindet, auf die beiden verrückten und sensationshungrigen Rotröcke Lac und Hob trifft, färbt ein wenig von ihrer Lebensfreude auf ihn ab, und er beginnt wieder ein Ziel vor Augen seine Melancholie zu überwinden und schließlich in seine Rolle als König hinein zu wachsen.

!!Achtung Spoiler!!


Was dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele aber wirklich so herausstechen lässt, ist dass die Autorin hier wieder mit dem Grundgedanken einer Geschichte spielt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen lässt und die philosophische Frage in den Raum wirft, ob wir bloß Teil einer Geschichte sind, die andere lesen. So eröffnet sie neue Möglichkeiten für die Geschichte und schafft gleichzeitig eine Hymne an das Lesen an sich. Ein Beispiel für solch einen Transzendenzversuch ist, dass sie dem Leser die Möglichkeit bietet, vor der großen Schlacht, mit dem Lesen aufzuhören, damit alle geliebten Protagonisten weiterlesen. So legt sie die Verantwortung für das Ende der Geschichte in die Hände des Lesers und erklärt somit, warum immer eintreffen muss, was geschrieben steht: als Leser kann man einfach nicht aufhören zu lesen, egal was einen noch erwartet.

"Du wirst nicht erfahren, wie es endet. Denn es endet nicht. Die Geschichte geht immer weiter und weiter, für immer, und sie leben. Sie leben alle. Solange du nicht umblätterst."

Ein weiterer absolut genialer Schachzug ist, dass die Erzählerin der Geschichte als aktive Figur in die Handlung einsteigt und somit die Leserin oder wie im Originaltitel angedeutet, "The Storyteller", als Person mit Gefühlen auftaucht. Dieser Gedankengang ist so gruselig wie faszinierend und hat mich wirklich beeindruckt. Genauso sehr beeindruckt hat mich ihr Mut, das absolut gemeine Ende wirklich durchzuziehen. Denn in der letzten epischen Schlacht erfüllt sich doch tatsächlich das vorgesehene Schicksal für alle Protagonisten und lässt uns gleichzeitig verzweifelt, tieftraurig, orientierungslos und mit dem Wunsch zurück, man hätte an der Stelle aufgehört, wo es uns freigestellt wurde weiterzulesen.

"Die Welt war ein Buch. Sie lebte in einem Buch. Sie war in einem Buch. Und alle Bücher waren von jemandem geschrieben worden. (…) Da blickte Sefia auf, durch die steinerne Decke des Tresors hindurch, durch die Bergluft, an den Sternen vorbei.
Und dahinter...
Da war ich, schaute sie an, während ich dir ihre Geschichte erzähle."



!!Spoiler Ende!!




Fazit:

Dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele toppt seine beiden Vorgänger nochmal was Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum angeht und wird mit seiner bildgewaltigen Sprache, den tiefgründigen, ambivalenten Protagonisten, der genialen Handlungskonzeption, dem abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen und den spannenden Experimenten mit Erzählperspektiven zu einer Hymne an das Lesen an sich.
Einfach WOW!