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Veröffentlicht am 16.03.2019

Komplex, atmosphärisch, bewegend, düster und doch voller funkelnder Schönheit - so muss Fantasy sein!

Das kalte Reich des Silbers
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Nachdem ich lange um "Das dunkle Herz des Waldes" der Fantasy-Newcomerin Naomi Novik vor etwa zwei Jahren herumgeschlichen bin, nur um es dann nie zu lesen, musste ich bei ihrem zweiten Fantasy-Epos im ...

Nachdem ich lange um "Das dunkle Herz des Waldes" der Fantasy-Newcomerin Naomi Novik vor etwa zwei Jahren herumgeschlichen bin, nur um es dann nie zu lesen, musste ich bei ihrem zweiten Fantasy-Epos im cbj-Verlag natürlich zuschlagen und mir selbst ein Bild ihres Stils verschaffen, der die Fantasy-Welt verzückte. Schon nach wenigen Seiten konnte ich jede der begeisterten Rezensionen nachvollziehen und mich der Geschichte, die an eine Mischung aus "Das Reich der sieben Höfe" von Sarah J. Maas und "Wintersong" von S. Jae Jones erinnert ohne eine davon wirklich nachzuerzählen, gespannt hingeben. Und so bezauberte mich Noami Novik mit einem fantastischen Porträt dreier starker Frauen in einer Welt voller Intrigen, winterlicher Kälte und dämonischem Feuer.


Schon die wunderschöne Gestaltung hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Auch wenn es einige Dinge gibt, die mich ein wenig stören, konnten diese nicht den schillernden Gesamteindruck trüben. Mit dem mattweißen Hintergrund, den silbernen Bäumen, dem glänzenden Eis und den kleinen Vögeln werden wir in eine kalte aber doch funkelnd schöne Winterwelt entführt, von der sich das Mädchen mit den langen braunen Haaren und dem grünen Kleid wunderbar abhebt. Auch wenn sie super ins Bild passt, stört sie mich in zweierlei Hinsichten. Erstens mag ich aus Prinzip keine echten Gesichter auf Buchcovers da sie oft nicht mit meiner Vorstellung des Protagonisten korrespondieren. Und zweitens geht es hier um drei beinahe gleichwertige Protagonistinnen während durch das Cover und auch durch den Klapptext fälschlicherweise suggeriert wird, Mirjems Schicksal sei das einzige, um was es hier ginge. Da mir das deutsche Cover hier aber ausnahmsweise mal besser gefällt als das Original will ich hier aber mal nicht kleinlich sein. Denn die Gestaltung schafft es nicht nur schön auszusehen und die kalte, funkelnde, düstere Stimmung der Geschichte zu vermitteln, auch wichtige Aspekte wie der Kontrast von Silber und Gold sind hier durch den goldenen Titel und die goldene, glänzende Ranke verarbeitet. Unter dem Umschlag erwartet uns ein schlichtes Grau, doch schlägt man das Buch auf, sind die Innenseiten in glänzendem Gold gehalten.


Erster Satz: "Die wahre Geschichte ist nicht halb so hübsch wie die, die man euch erzählt hat."


Damit beginnt Noami Novik ihre Geschichte um Schulden, Handel, Intrigen, Leid, Dunkelheit und Winter aber auch um Freundschaft, Familie, Ehrlichkeit, harte Arbeit und goldener Lohn. Und sie behält Recht - hübsch ist diese Geschichte wahrlich nicht. Sie handelt nicht von Prinzessinnen, Aufstieg, Schönheit, wahre Liebe und dem großen Glück sondern erzählt das eng verflochtene Schicksal dreier starker, junger Frauen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt sind und dabei in ein verrücktes Abenteuer geraten.


"Dreimal, sterbliches Mädchen", antwortete er in einem Rhythmus der beinahe wie ein Lied klang. "Dreimal sollst du für mich Silber in Gold verwandeln, oder du wirst selbst zu Eis werden." (…)
"Und dann?"
Er lachte hoch und wild und sagte höhnisch: "Und dann, wenn es dir gelingt, werde ich dich zu meiner Königin machen."
- Mirjem -


Zuerst lernen wie Mirjem kenne, die Tochter eines jüdischen, gutherzigen Pfandleihers, die ihren knurrenden Magen und das eingefallene Gesicht ihrer Mutter nicht mehr ertragen kann und beginnt, unnachgiebig Schulden zurückzufordern. Bald heißt es, sie könne Silber zu Gold machen, woran der kalte Herr des Waldes, der König der Staryk sehr interessiert ist. Er stellt ihr drei unmögliche Aufgaben und so scheint es für ihr Leben nur noch zwei Optionen zu geben - entweder sie wird von ihm in Eis verwandelt oder sie lebt bis an ihr Lebensende als seine Königin in seinem Winterreich und verwandelt Silber in Gold, wodurch seine Macht erstarkt und der Winter erbarmungslos über ihre Heimat kommen würde...


"Was Ihr in meine Hände legt, ist mehr als alles, was ich besitze", sagte ich, weil es wehtat, sie diese Dinge sagen zu hören, die nicht wahr waren, als wäre ich nur aus Herzensgüte gekommen, um ihr zu helfen und nicht, weil ich an Silber kommen und weil ich in Sicherheit sein wollte.
"Dann hast du nicht genug, und ich habe mehr, als ich brauche", sagte sie. "Still jetzt, meine Liebe. (…) Es gibt Männer, die im Inneren Wölfe sind, und sie wollen andere Menschen fressen, um sich die Bäuche vollzuschlagen. Und so ein Mann hat dein ganzen Leben lang mit dir unter einem Dach gelebt. Aber da seid ihr nun, du und deine Brüder, und du bist nicht verschlungen worden und in keinem von euch lebt ein Wolf. Ihr habt einander zu essen gegeben und ihr habt den Wolf ferngehalten. Das ist alles, was wir auf der Welt füreinander tun können: den Wolf fernhalten."
- Wanda -


Der zweite Handlungsstrang dreht sich um Wanda, die Tochter eines vereinsamten Bauers, welcher seit dem Tod ihrer Mutter jedes Geld versäuft, sie und ihre zwei Brüder Sergej und Stepon verprügelt und plant, sie möglichst gewinnbringend an den ersten Heiratsinteressenten zu verschachern. Als sie bei Mirjem angestellt wird um ihr beim Eintreiben der Schulden behilflich zu sein, sie die Magie der Zahlen und Buchstaben erlernt, eigenes Geld verdient und zum ersten Mal mit Respekt behandelt wird, keimt in ihr der Traum nach einem freien, selbst bestimmten Leben auf und sie ahnt, dass sie so viel mehr sein kann und viel mehr wert ist, als die Arbeit ihrer Hände und die gesunden Kinder, die sie gebären kann...

Als drittes lernen wir die junge Irina kennen, die als Tochter des Herzogs von Wisnja den höchsten Stand der drei Mädchen hat, jedoch keineswegs besser dasteht als die zwei anderen. Als unscheinbare, blasse Tochter seiner ersten Frau ist sie für ihren intriganten Vater nicht mehr wert als eine Magd und die Optionen für eine gewinnbringende Heirat stehen sehr schlecht. Das ändert sich jedoch schlagartig, als ein dürres, jüdisches Mädchen namens Mirjem vor ihrer Tür auftaucht und ihr für ein Vermögen ein Schmuckensemble aus eiskaltem Silber verkauft, das nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Denn sobald Irina den Ring, die Kette und die Krone trägt, umschmeichelt sie die kalte Kraft des Silbers und lässt sie wie eine aufregende Schönheit wirken. Damit rechnet sich ihr Vater eine reale Chance auf die Heirat mit dem jungen, unverheirateten Zaren aus, der wenige Tage später zu Besuch kommen soll. Doch dieser verbirgt ein feuriges Geheimnis und um zu überleben muss Irina einen tödlichen Handel mit ihm eingehen...


"Was sehen die anderen?", fragte er. Ich nahm ihm das Bild aus der Hand und sah mich zum ersten Mal mit meiner Krone. (…) Es war ein gewöhnliches Gesicht ohne Schönheit, aber es war ganz sicher meines und nicht das Gesicht von jemand anderem. "Mich", antwortete ich und reichte ihm das Blatt zurück."
- Irinia -


Keine von den Dreien ist eine Schönheit, doch alle kämpfen sie mit Hingabe für das, was sie lieben und lassen sich in der kalten, männerdominierten Welt nicht unterkriegen. Die interessante Art und Weise, wie die Schicksale miteinander verwoben sind, wie die Autorin immer wieder Orte und Symbole einfügt, die die Protagonisten auf subtile Art und Weise verbinden nur um an Ende alle Stränge spektakulär zusammenfließen zu lassen, hat mich sehr beeindruckt. Sehr gerne habe ich verfolgt, wie die Drei das tun, was sie für richtig halten, dabei unglaubliche Risiken eingehen, gegen dunkle Mächte kämpfen und daran wachsen. Wer dabei auf herzzerreißende Lovestories wartet, der wird enttäuscht werden, denn erst am Ende lassen sich leise Andeutungen finden, die jedoch sehr offen und distanziert bleiben. Doch diese Geschichte hat keine brennende Leidenschaft und knisternde Romantik nötig, um Leserherzen zu gewinnen. Dieser Roman lebt vielmehr vom krassen Wechselspiel zwischen kühler, berechnender Logik und mythischer, düsterer Fantasy und verblüfft immer wieder mit Wendungen, Intrigen und Gedankenspielen, die weitaus komplexer sind, als man das von Fantasy-Romanen erwarten würde. Wer die wirklichen Strippenzieher, was deren Motive und wie ihre Verhältnisse in dieser Geschichte sind, wird erst sehr spät aufgedeckt, sodass es trotz einiger kurzer Wiederholungen im letzten Drittel bis zum Ende spannend bleibt. Spoiler Alert Das Ende an sich tritt dann relativ abrupt auf den Plan und bleibt außerdem recht offen. Damit habe ich grundsätzlich kein Problem aber dass alle der vermeintlichen Monster am Ende jedoch entlastet werden und sogar die Opferrolle annehmen ist dann doch etwas unglaubwürdig und so gerät die sorgsam aufgebaute Ambivalenz von Mirnatius und dem Staryk König am Ende aus dem Gleichgewicht. Spoiler Ende


"Ein silberfarbenes Glitzern war in der Ferne zwischen den Bäumen aufgetaucht; die Straße der Staryk blitzte auf. Die Pferde liefen noch schneller, aber die Straße der Staryk blieb den ganzen Heimweg über bei uns und glänzte zwischen den Bäumen. Ich konnte sie an meiner Seite spüren: ein Hauch von kälterem Wind, der versuchte, sich an mich zu pressen und durch meine Haut zu schneiden. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Die Kälte in mir war größer als die Kälte da draußen."
- Mirjem -


Etwas gewöhnungsbedürftig ist, dass die oft wechselnden Perspektiven nicht gekennzeichnet wurden. Anstatt dass wie in etlichen anderen Romanen durch ein Name, ein Zeichen oder eine Formatierungsänderung deutlich gemacht wird, wer im folgenden Paragraph die Ich-Erzählung übernimmt, werden wir hier einfach in eine Perspektive hineingeworfen und müssen uns in den ersten Sätzen durch den Kontext erschließen, aus wessen Sicht wir die Handlung gerade erleben. Das ist zuerst sehr seltsam, anstrengend und kann auch zu Missverständnissen führen, da wir gegen Ende neben Mirjem, Wanda und Irina auch die Perspektiven von Wandas Bruder Stepon, dem Zaren Mirnatius oder Irinas Kinderfrau Magreta einnehmen. Was hingegen wieder sehr für die Autorin spricht ist, dass hier jede Person als Ich-Erzähler eine ganz individuelle Erzählerstimme bekommt, die durch besondere Formulierung, Wortwahl und atmosphärische Färbung zustande kommt. Wer das hinbekommt, spielt erzähltechnisch definitiv auf höchstem Niveau. An dieser Stelle also ein großes Kompliment an die Übersetzerin Marianne Schmidt für die tolle Leistung! Nichtsdestotrotz hätte es mir das Lesen sehr viel einfacher gestaltet, wenn ein Perspektivenwechsel durch Namen gekennzeichnet gewesen wäre.


"Sie streichelte mir über den Kopf und sagte zärtlich: "Irinuschka, meine Tapfere. Trauere nicht so. Der Winter ist vorüber."
"Ja", sagte ich, und meine Kehle schmerzte. "Aber er ist vorüber, weil ich dem Feuer Nahrung gegeben habe, Magra, und es verlangt nach mehr Holz."
- Irina -



Auch abseits der Erzähltechnik spielt Naomi Noviks Stil in einer Top-Liga. Bildgewaltig und voller Details (576 Seiten!!) entführt sie in ein winterliches Fantasy-Setting, das zwischen Urban-Fantasy und High-Fantasie schwankt und viele spannende neue Ideen präsentiert. Anstatt über altbekannte Wesen wie Vampire, Werwölfe, Fae, Elfen, Zwerge oder Hexen zu schreiben lässt sie einen Feuerdämonen auf ein ganz neues Volk treffen: die Staryk - strahlende, kalte Eiswesen, die ihre ewige Winterwelt der Dunkelheit abgerungen haben und sonnenwarmes Gold sammeln um gegen diese bestehen zu können. Mit der Aufgabe, Silber in Gold zu verwandeln und weiteren Parallelen erinnert ein Teil der Handlung an eine neue Version des Märchens "Rumpelstilzchen“ von den Brüdern Grimm. Bei genauerem Hinsehen tauchen jedoch mehr Elemente aus slawischen Märchen auf. Das winterliche Königreich Lithvas erinnert sehr an das Russland vergangener Tage, wo Zaren herrschen, Juden verfolgt werden und Erzählungen über die Baba Jaga kursieren - wir befinden uns also definitiv in einer eher östlich orientierten Mythologie. Zwischen Problemen und Grausamkeiten von dieser Welt mischen sich scheinbar mühelos magische Phänomene und Naomi Novik schafft es mit manchmal etwas sperrigen aber immer magischen Worten, eine spannende neue Welt zum Leben zu erwecken.


"Er stieß ein raues, wildes Lachen aus. "Was hast du denn noch nicht von mir bekommen? Meine Hand und meine Krone und meine Würde, und du verlangst, dass ich dir noch mehr gebe? Nein. Du solltest zufrieden sein mit dem, was du bereits von mir erhalten hast, im Gegenzug für deine Gabe. Sterbliches Mädchen, sei gewarnt", fügte er mit einem kalten Zischen hinzu. Seine Augen waren jetzt so zusammengekniffen, dass sie nur noch blaue Schatten waren wie ein tiefer Spalt in einem gefrorenen Fluss - eine Warnung, nicht hindurchzufallen und im Wasser darunter zu ertrinken."
- Mirjem -


Da ist eine Tochter, die innerlich hart und kalt wie Eis wird, damit ihre Familie überleben kann. Da ist eine Mutter, die ihr Kind für ein bisschen Macht dem Verderben ausliefert. Da sind Väter, die ihre Kinder bis zur Besinnungslosigkeit schlagen oder versuchen ihre Töchter möglichst gewinnbringend zu verheiraten. Da sind Familien, die von Hunger und Verzweiflung zu Gräueltaten getrieben werden, als deren Getreide in der Kälte verfault und deren Vieh erfriert. Und zwischen dem weltlichen Leid sind da geheimnisvolle, schneeweiße Straßen, die sich plötzlich zwischen schneebedeckten Bäumen auftun und wieder verschwinden. Bäume, die die Seele gestorbener Menschen aufnehmen. Schlichte Röcke, die sich in Ballkleider verwandeln. Silber, das Menschen in seinen Bann zieht und Gold, das den Frühling fern hält. Da ist eine winterliche Welt mit einem gläsernen Berg und Hütten, die auf der Grenze der Existenzen errichtet sind. Und wie das kalte Silber in den Schatzkammern der Staryk durch Mirjem zu warmem Gold wird, werden hier Worte durch Naomi Novik zu einem tiefgründigen, bewegenden, dunklen Erlebnis, das man nicht mehr so schnell vergisst.


Fazit:


Das fantastische Porträt dreier starker Frauen in einer Welt voller Intrigen, winterlicher Kälte und dämonischem Feuer. Komplex, atmosphärisch, bewegend, düster und doch voller funkelnder Schönheit - so muss Fantasy sein!

Veröffentlicht am 16.03.2019

Komplex, atmosphärisch, bewegend, düster und doch voller funkelnder Schönheit - so muss Fantasy sein!

Das kalte Reich des Silbers
0

Nachdem ich lange um "Das dunkle Herz des Waldes" der Fantasy-Newcomerin Naomi Novik vor etwa zwei Jahren herumgeschlichen bin, nur um es dann nie zu lesen, musste ich bei ihrem zweiten Fantasy-Epos im ...

Nachdem ich lange um "Das dunkle Herz des Waldes" der Fantasy-Newcomerin Naomi Novik vor etwa zwei Jahren herumgeschlichen bin, nur um es dann nie zu lesen, musste ich bei ihrem zweiten Fantasy-Epos im cbj-Verlag natürlich zuschlagen und mir selbst ein Bild ihres Stils verschaffen, der die Fantasy-Welt verzückte. Schon nach wenigen Seiten konnte ich jede der begeisterten Rezensionen nachvollziehen und mich der Geschichte, die an eine Mischung aus "Das Reich der sieben Höfe" von Sarah J. Maas und "Wintersong" von S. Jae Jones erinnert ohne eine davon wirklich nachzuerzählen, gespannt hingeben. Und so bezauberte mich Noami Novik mit einem fantastischen Porträt dreier starker Frauen in einer Welt voller Intrigen, winterlicher Kälte und dämonischem Feuer.


Schon die wunderschöne Gestaltung hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Auch wenn es einige Dinge gibt, die mich ein wenig stören, konnten diese nicht den schillernden Gesamteindruck trüben. Mit dem mattweißen Hintergrund, den silbernen Bäumen, dem glänzenden Eis und den kleinen Vögeln werden wir in eine kalte aber doch funkelnd schöne Winterwelt entführt, von der sich das Mädchen mit den langen braunen Haaren und dem grünen Kleid wunderbar abhebt. Auch wenn sie super ins Bild passt, stört sie mich in zweierlei Hinsichten. Erstens mag ich aus Prinzip keine echten Gesichter auf Buchcovers da sie oft nicht mit meiner Vorstellung des Protagonisten korrespondieren. Und zweitens geht es hier um drei beinahe gleichwertige Protagonistinnen während durch das Cover und auch durch den Klapptext fälschlicherweise suggeriert wird, Mirjems Schicksal sei das einzige, um was es hier ginge. Da mir das deutsche Cover hier aber ausnahmsweise mal besser gefällt als das Original will ich hier aber mal nicht kleinlich sein. Denn die Gestaltung schafft es nicht nur schön auszusehen und die kalte, funkelnde, düstere Stimmung der Geschichte zu vermitteln, auch wichtige Aspekte wie der Kontrast von Silber und Gold sind hier durch den goldenen Titel und die goldene, glänzende Ranke verarbeitet. Unter dem Umschlag erwartet uns ein schlichtes Grau, doch schlägt man das Buch auf, sind die Innenseiten in glänzendem Gold gehalten.


Erster Satz: "Die wahre Geschichte ist nicht halb so hübsch wie die, die man euch erzählt hat."


Damit beginnt Noami Novik ihre Geschichte um Schulden, Handel, Intrigen, Leid, Dunkelheit und Winter aber auch um Freundschaft, Familie, Ehrlichkeit, harte Arbeit und goldener Lohn. Und sie behält Recht - hübsch ist diese Geschichte wahrlich nicht. Sie handelt nicht von Prinzessinnen, Aufstieg, Schönheit, wahre Liebe und dem großen Glück sondern erzählt das eng verflochtene Schicksal dreier starker, junger Frauen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt sind und dabei in ein verrücktes Abenteuer geraten.


"Dreimal, sterbliches Mädchen", antwortete er in einem Rhythmus der beinahe wie ein Lied klang. "Dreimal sollst du für mich Silber in Gold verwandeln, oder du wirst selbst zu Eis werden." (…)
"Und dann?"
Er lachte hoch und wild und sagte höhnisch: "Und dann, wenn es dir gelingt, werde ich dich zu meiner Königin machen."
- Mirjem -


Zuerst lernen wie Mirjem kenne, die Tochter eines jüdischen, gutherzigen Pfandleihers, die ihren knurrenden Magen und das eingefallene Gesicht ihrer Mutter nicht mehr ertragen kann und beginnt, unnachgiebig Schulden zurückzufordern. Bald heißt es, sie könne Silber zu Gold machen, woran der kalte Herr des Waldes, der König der Staryk sehr interessiert ist. Er stellt ihr drei unmögliche Aufgaben und so scheint es für ihr Leben nur noch zwei Optionen zu geben - entweder sie wird von ihm in Eis verwandelt oder sie lebt bis an ihr Lebensende als seine Königin in seinem Winterreich und verwandelt Silber in Gold, wodurch seine Macht erstarkt und der Winter erbarmungslos über ihre Heimat kommen würde...


"Was Ihr in meine Hände legt, ist mehr als alles, was ich besitze", sagte ich, weil es wehtat, sie diese Dinge sagen zu hören, die nicht wahr waren, als wäre ich nur aus Herzensgüte gekommen, um ihr zu helfen und nicht, weil ich an Silber kommen und weil ich in Sicherheit sein wollte.
"Dann hast du nicht genug, und ich habe mehr, als ich brauche", sagte sie. "Still jetzt, meine Liebe. (…) Es gibt Männer, die im Inneren Wölfe sind, und sie wollen andere Menschen fressen, um sich die Bäuche vollzuschlagen. Und so ein Mann hat dein ganzen Leben lang mit dir unter einem Dach gelebt. Aber da seid ihr nun, du und deine Brüder, und du bist nicht verschlungen worden und in keinem von euch lebt ein Wolf. Ihr habt einander zu essen gegeben und ihr habt den Wolf ferngehalten. Das ist alles, was wir auf der Welt füreinander tun können: den Wolf fernhalten."
- Wanda -


Der zweite Handlungsstrang dreht sich um Wanda, die Tochter eines vereinsamten Bauers, welcher seit dem Tod ihrer Mutter jedes Geld versäuft, sie und ihre zwei Brüder Sergej und Stepon verprügelt und plant, sie möglichst gewinnbringend an den ersten Heiratsinteressenten zu verschachern. Als sie bei Mirjem angestellt wird um ihr beim Eintreiben der Schulden behilflich zu sein, sie die Magie der Zahlen und Buchstaben erlernt, eigenes Geld verdient und zum ersten Mal mit Respekt behandelt wird, keimt in ihr der Traum nach einem freien, selbst bestimmten Leben auf und sie ahnt, dass sie so viel mehr sein kann und viel mehr wert ist, als die Arbeit ihrer Hände und die gesunden Kinder, die sie gebären kann...

Als drittes lernen wir die junge Irina kennen, die als Tochter des Herzogs von Wisnja den höchsten Stand der drei Mädchen hat, jedoch keineswegs besser dasteht als die zwei anderen. Als unscheinbare, blasse Tochter seiner ersten Frau ist sie für ihren intriganten Vater nicht mehr wert als eine Magd und die Optionen für eine gewinnbringende Heirat stehen sehr schlecht. Das ändert sich jedoch schlagartig, als ein dürres, jüdisches Mädchen namens Mirjem vor ihrer Tür auftaucht und ihr für ein Vermögen ein Schmuckensemble aus eiskaltem Silber verkauft, das nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Denn sobald Irina den Ring, die Kette und die Krone trägt, umschmeichelt sie die kalte Kraft des Silbers und lässt sie wie eine aufregende Schönheit wirken. Damit rechnet sich ihr Vater eine reale Chance auf die Heirat mit dem jungen, unverheirateten Zaren aus, der wenige Tage später zu Besuch kommen soll. Doch dieser verbirgt ein feuriges Geheimnis und um zu überleben muss Irina einen tödlichen Handel mit ihm eingehen...


"Was sehen die anderen?", fragte er. Ich nahm ihm das Bild aus der Hand und sah mich zum ersten Mal mit meiner Krone. (…) Es war ein gewöhnliches Gesicht ohne Schönheit, aber es war ganz sicher meines und nicht das Gesicht von jemand anderem. "Mich", antwortete ich und reichte ihm das Blatt zurück."
- Irinia -


Keine von den Dreien ist eine Schönheit, doch alle kämpfen sie mit Hingabe für das, was sie lieben und lassen sich in der kalten, männerdominierten Welt nicht unterkriegen. Die interessante Art und Weise, wie die Schicksale miteinander verwoben sind, wie die Autorin immer wieder Orte und Symbole einfügt, die die Protagonisten auf subtile Art und Weise verbinden nur um an Ende alle Stränge spektakulär zusammenfließen zu lassen, hat mich sehr beeindruckt. Sehr gerne habe ich verfolgt, wie die Drei das tun, was sie für richtig halten, dabei unglaubliche Risiken eingehen, gegen dunkle Mächte kämpfen und daran wachsen. Wer dabei auf herzzerreißende Lovestories wartet, der wird enttäuscht werden, denn erst am Ende lassen sich leise Andeutungen finden, die jedoch sehr offen und distanziert bleiben. Doch diese Geschichte hat keine brennende Leidenschaft und knisternde Romantik nötig, um Leserherzen zu gewinnen. Dieser Roman lebt vielmehr vom krassen Wechselspiel zwischen kühler, berechnender Logik und mythischer, düsterer Fantasy und verblüfft immer wieder mit Wendungen, Intrigen und Gedankenspielen, die weitaus komplexer sind, als man das von Fantasy-Romanen erwarten würde. Wer die wirklichen Strippenzieher, was deren Motive und wie ihre Verhältnisse in dieser Geschichte sind, wird erst sehr spät aufgedeckt, sodass es trotz einiger kurzer Wiederholungen im letzten Drittel bis zum Ende spannend bleibt. Spoiler Alert Das Ende an sich tritt dann relativ abrupt auf den Plan und bleibt außerdem recht offen. Damit habe ich grundsätzlich kein Problem aber dass alle der vermeintlichen Monster am Ende jedoch entlastet werden und sogar die Opferrolle annehmen ist dann doch etwas unglaubwürdig und so gerät die sorgsam aufgebaute Ambivalenz von Mirnatius und dem Staryk König am Ende aus dem Gleichgewicht. Spoiler Ende


"Ein silberfarbenes Glitzern war in der Ferne zwischen den Bäumen aufgetaucht; die Straße der Staryk blitzte auf. Die Pferde liefen noch schneller, aber die Straße der Staryk blieb den ganzen Heimweg über bei uns und glänzte zwischen den Bäumen. Ich konnte sie an meiner Seite spüren: ein Hauch von kälterem Wind, der versuchte, sich an mich zu pressen und durch meine Haut zu schneiden. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Die Kälte in mir war größer als die Kälte da draußen."
- Mirjem -


Etwas gewöhnungsbedürftig ist, dass die oft wechselnden Perspektiven nicht gekennzeichnet wurden. Anstatt dass wie in etlichen anderen Romanen durch ein Name, ein Zeichen oder eine Formatierungsänderung deutlich gemacht wird, wer im folgenden Paragraph die Ich-Erzählung übernimmt, werden wir hier einfach in eine Perspektive hineingeworfen und müssen uns in den ersten Sätzen durch den Kontext erschließen, aus wessen Sicht wir die Handlung gerade erleben. Das ist zuerst sehr seltsam, anstrengend und kann auch zu Missverständnissen führen, da wir gegen Ende neben Mirjem, Wanda und Irina auch die Perspektiven von Wandas Bruder Stepon, dem Zaren Mirnatius oder Irinas Kinderfrau Magreta einnehmen. Was hingegen wieder sehr für die Autorin spricht ist, dass hier jede Person als Ich-Erzähler eine ganz individuelle Erzählerstimme bekommt, die durch besondere Formulierung, Wortwahl und atmosphärische Färbung zustande kommt. Wer das hinbekommt, spielt erzähltechnisch definitiv auf höchstem Niveau. An dieser Stelle also ein großes Kompliment an die Übersetzerin Marianne Schmidt für die tolle Leistung! Nichtsdestotrotz hätte es mir das Lesen sehr viel einfacher gestaltet, wenn ein Perspektivenwechsel durch Namen gekennzeichnet gewesen wäre.


"Sie streichelte mir über den Kopf und sagte zärtlich: "Irinuschka, meine Tapfere. Trauere nicht so. Der Winter ist vorüber."
"Ja", sagte ich, und meine Kehle schmerzte. "Aber er ist vorüber, weil ich dem Feuer Nahrung gegeben habe, Magra, und es verlangt nach mehr Holz."
- Irina -



Auch abseits der Erzähltechnik spielt Naomi Noviks Stil in einer Top-Liga. Bildgewaltig und voller Details (576 Seiten!!) entführt sie in ein winterliches Fantasy-Setting, das zwischen Urban-Fantasy und High-Fantasie schwankt und viele spannende neue Ideen präsentiert. Anstatt über altbekannte Wesen wie Vampire, Werwölfe, Fae, Elfen, Zwerge oder Hexen zu schreiben lässt sie einen Feuerdämonen auf ein ganz neues Volk treffen: die Staryk - strahlende, kalte Eiswesen, die ihre ewige Winterwelt der Dunkelheit abgerungen haben und sonnenwarmes Gold sammeln um gegen diese bestehen zu können. Mit der Aufgabe, Silber in Gold zu verwandeln und weiteren Parallelen erinnert ein Teil der Handlung an eine neue Version des Märchens "Rumpelstilzchen“ von den Brüdern Grimm. Bei genauerem Hinsehen tauchen jedoch mehr Elemente aus slawischen Märchen auf. Das winterliche Königreich Lithvas erinnert sehr an das Russland vergangener Tage, wo Zaren herrschen, Juden verfolgt werden und Erzählungen über die Baba Jaga kursieren - wir befinden uns also definitiv in einer eher östlich orientierten Mythologie. Zwischen Problemen und Grausamkeiten von dieser Welt mischen sich scheinbar mühelos magische Phänomene und Naomi Novik schafft es mit manchmal etwas sperrigen aber immer magischen Worten, eine spannende neue Welt zum Leben zu erwecken.


"Er stieß ein raues, wildes Lachen aus. "Was hast du denn noch nicht von mir bekommen? Meine Hand und meine Krone und meine Würde, und du verlangst, dass ich dir noch mehr gebe? Nein. Du solltest zufrieden sein mit dem, was du bereits von mir erhalten hast, im Gegenzug für deine Gabe. Sterbliches Mädchen, sei gewarnt", fügte er mit einem kalten Zischen hinzu. Seine Augen waren jetzt so zusammengekniffen, dass sie nur noch blaue Schatten waren wie ein tiefer Spalt in einem gefrorenen Fluss - eine Warnung, nicht hindurchzufallen und im Wasser darunter zu ertrinken."
- Mirjem -


Da ist eine Tochter, die innerlich hart und kalt wie Eis wird, damit ihre Familie überleben kann. Da ist eine Mutter, die ihr Kind für ein bisschen Macht dem Verderben ausliefert. Da sind Väter, die ihre Kinder bis zur Besinnungslosigkeit schlagen oder versuchen ihre Töchter möglichst gewinnbringend zu verheiraten. Da sind Familien, die von Hunger und Verzweiflung zu Gräueltaten getrieben werden, als deren Getreide in der Kälte verfault und deren Vieh erfriert. Und zwischen dem weltlichen Leid sind da geheimnisvolle, schneeweiße Straßen, die sich plötzlich zwischen schneebedeckten Bäumen auftun und wieder verschwinden. Bäume, die die Seele gestorbener Menschen aufnehmen. Schlichte Röcke, die sich in Ballkleider verwandeln. Silber, das Menschen in seinen Bann zieht und Gold, das den Frühling fern hält. Da ist eine winterliche Welt mit einem gläsernen Berg und Hütten, die auf der Grenze der Existenzen errichtet sind. Und wie das kalte Silber in den Schatzkammern der Staryk durch Mirjem zu warmem Gold wird, werden hier Worte durch Naomi Novik zu einem tiefgründigen, bewegenden, dunklen Erlebnis, das man nicht mehr so schnell vergisst.


Fazit:


Das fantastische Porträt dreier starker Frauen in einer Welt voller Intrigen, winterlicher Kälte und dämonischem Feuer. Komplex, atmosphärisch, bewegend, düster und doch voller funkelnder Schönheit - so muss Fantasy sein!

Veröffentlicht am 04.03.2019

Ein Roman, der genau den Nerv der Zeit trifft!

On The Come Up
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"You can´t stop me on the come up"

Nachdem Angie Thomas 2017 mit ihrem Sozialthriller um die andauernde Polizeigewalt und den offenen Rassismus in den USA die Welt aufgerüttelt hat, musste ich natürlich ...

"You can´t stop me on the come up"

Nachdem Angie Thomas 2017 mit ihrem Sozialthriller um die andauernde Polizeigewalt und den offenen Rassismus in den USA die Welt aufgerüttelt hat, musste ich natürlich ihren nächsten Roman "On The Come Up" auch lesen. Und auch wenn das ein wenig meine Sorge war, ist ihr neuer Roman keineswegs eine etwas veränderte Neuauflage von „The Hate U Give“ sondern erzählt eine ganz neue Geschichte über ein anderes Mädchen, mit anderem Unterton, anderer Message und anderem Schwerpunkt, erschafft dabei aber ein Ergebnis, das genauso wichtig, genauso schmerzhaft aufrichtig und berührend ist, wie ihr Debüt. Einfach nur WOW!

"Was hat die Welt in letzter Zeit mit dir gemacht?"
Sie hat meine Familie in eine extrem miese Lage gebracht. Sie hat meine Mom um ihren Job gebracht. Sie hat mich auf den Boden geschmissen. Sie hat mich hoodlum genannt.
"Sie hat mir verdammt viel angetan.", sage ich.
Da lehnt Doc sich lächelnd zurück. "Dann lass die Welt mal wissen, wie du dich fühlst."

Das Cover ist schon Teil des wundervollen Kunstwerkes, das diese Geschichte darstellt. Gott-segne-den-cbj-Verlag - hat dieser sich nämlich entschieden, das Originalcover beizubehalten. Im Gegensatz zu "The Hate U Give", das uns strahlend weiß entgegenleuchtete und dessen Titel in schwarzer Schrift geschrieben war, ist hier der Hintergrund schwarz und der Titel prangt in großen, weißen Lettern neben dem Hauptmotiv. Wie das Design hier wieder mit den Kontrasten "Schwarz" und "Weiß" spielt, was natürlich einen passenden Bezug zur Handlung darstellt, ist auffallend hintersinnig. Bis auf den umgekehrten Kontrast lassen sich noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen "THUG" und "OTCU" feststellen: beide haben einen roten Buchrücken, der Autorentitel und weitere Highlights sind in eben dieser Farbe geschrieben und außer dem Comic-Mädchen ist das Bild leer. Auch hier trifft die Gestaltung des Mädchens meine Vorstellung von ihr ganz wunderbar. Die dunkelhäutige Silhouette trägt Timberland Boots, hat Braids (also permanent geflochtene Haare wie z.B. Cornrows), trägt einen Anglerhut, eine Armeehose, ein schwarzes Top, ein Mikrofon in der Hand und den Arm zur Siegespose erhoben - in zwei Worten: genau Bri. Auch der Titel passt wieder wie die Faust aufs Auge und der Untertitel fasst ebenfalls den Grundgedanken der Geschichte wunderbar zusammen.


"There´s a beast that roams my streets,
and he goes by the name of crack cocaine,
it´s kinda strange how he gets in the veins
and turn mothers into strangers who only share the same name"


Auch innerhalb der Buchdeckel ist das Buch super konzipiert - sowohl vom Verlag als auch von der Autorin. In drei Teile - "Old School", "Golden Age" und "New School" - und 34 Kapitel geteilt ist die Geschichte übersichtlich formatiert und gebündelt lesbar. Außerdem sind die vielen wundervollen Rap-Texte, die in der Handlung vorkommen abgedruckt und zwar -Halleluja- in Originalsprache! Ich finde, es gibt nichts Anstrengenderes als wenn kunstvolle Wortgebilde, Lyrik oder Gedichte (und als Lyrik kann man diese Texte definitiv bezeichnen) schlecht ins Deutsche übersetzt werden. Manche amerikanische Ausdrücke und vor allem Slang kann man einfach nicht übersetzten ohne dass es total lächerlich klingt und deshalb danke ich der Übersetzerin Henriette Zeltner von Herzen dafür, dass sie es bei den Originalen belassen hat. So sind gewisse Grundkenntnisse der englischen Sprache zwar Voraussetzung für das Verstehen der Hiphop-Passagen, an vielen Stellen steht jedoch als Kompromiss sowohl die englische als auch die deutsche Version einer wichtigen Zeile da.


"Unarmed and dangerous, but America, you made us,
only time we famous, is when we die and you blame us."


Was ebenfalls auffällt, ist dass Slang, Jugendsprache und wichtige Rap-Ausdrücke wie zum Beispiel "Battle", "Flow" oder "Shout-Out" ebenfalls in Originalsprache belassen wurden. Hasser von Anglizismen werden hier zwar nicht viel Spaß haben aber die restliche Leserschaft kann sich eines authentischen Leseerlebnisses erfreuen. Als kleine Hilfe stellt uns der Verlag wieder ein kurzes Glossar am Ende mit kurzen Erklängen der wichtigsten Slang-, Rap- und Insider-Begriffen zur Seite, sodass man schnell hinten spicken kann, wenn einem nicht ganz klar ist, was Bri mit "S´up?" will oder wer denn "Lil´ Kim" ist, über die alle reden. In Anbetracht dieser vielen Pluspunkte ist es nur ein sehr kleiner Wermutstropfen, dass sich leider viele Tippfehler finden lassen.


Erster Satz: "Vielleicht muss ich heute Abend noch jemand killen."


So beginnt Angie Thomas ihren zweiten Roman, der jedoch keineswegs gleich auf der ersten Seite von einem Mord spricht - nein, es geht hier um den großen Traum unserer Protagonistin Bri, ein Rap-Battle im Ring zu gewinnen und als Hip-Hop-Star groß rauszukommen - den Traum zu verwirklichen, den ihr Vater alias der große Rapper Lawless, fast zu erreichen geschafft hätte, wenn er nicht erschossen worden wäre. Bri hat definitiv Talent im Rappen, doch auch als sie sich im Ring beweist und ihren Battle-Gegner Milez tatsächlich "killt", stehen ihre Chancen auf den großen Durchbruch eher schlecht. Zuhause wartet ein leerer Kühlschrank auf sie, im Briefkasten stapeln sich unbezahlte Rechnungen, ständig wird Strom oder Gas abgestellt und es droht der Rausschmiss aus der Wohnung. Denn obwohl ihr großer Bruder Trey einen Studienabschluss mit Auszeichnungen hat und ihre Mutter Jay rund um die Uhr arbeitet, reicht es nicht aus um über die Runden zu kommen. Der Grund ist: kommen aus Garden Heights, einem Ghetto-ähnlichen Stadtteil, der durch Gang-Gewalt und Drogenhandel ebenso bestimmt wird wie durch die florierende Hiphop-Szene. Und dieser Fakt gepaart mit der Farbe ihrer Haut (schwarz) reicht aus, dass Trey nur in einer Pizzeria arbeiten kann und Jay als ehemalig Drogenabhängige keinen Job mehr findet, als sie gekündigt wird. Bri soll sich also unbedingt auf die Schule konzentrieren und "etwas aus ihrem Leben machen" doch alles was sie will, ist rappen, damit ihrer Familie helfen und endlich nicht mehr unsichtbar sein. Und als sie alle Wut und Frustration in einem Song katalysiert wird sie tatsächlich über nach berühmt - doch schnell wünscht sie sich, wieder unsichtbar zu sein, denn sie gerät durch ein paar wütende Zeilen mitten in einen Streit, der zu eskalieren droht, mitten in die Fronten zwischen zwei wütende Gangs während sie in den Medien gleichzeitig als talentiert Newcomerin gefeiert und als gewaltbereite Anstifterin verschrien wird - und sie muss sich entscheiden, wer sie sein will und ob sie ihr "Come-Up" wirklich zu jedem Preis durchziehen will...


"Verdammt, all das, wovon ich geträumt habe, könnte wahr werden. Ich könnte es als Rapperin schaffen. Das ist nicht nur irgendein wildes Produkt meiner Fantasie. Das ist... möglich."


Mit Bris Leben in Garden Heights illustriert Angie Thomas leider die aktuelle Situation vieler Randgruppen und der dunkelhäutigen Bevölkerung in Amerika und erzählt eine authentische und erschreckende Geschichte über das Leben in verarmten Vierteln, Vorurteile, unterschwelligen Rassismus und offen ausgesprochenen Hass. Alltäglicher Rassismus wie skeptische Blicke des Verkäufers in einem Laden, doppelte Kontrollen durch Sicherheitsbeamte und abfällige Bemerkungen werden dabei genauso schmerzhaft ehrlich dargestellt wie die Gang-Gewalt, die ständige Bedrohung durch Waffen, der Handel mit Drogen, die hohe Arbeitslosigkeit und Verschuldung, die das Leben in der "Hood" kennzeichnen. Gerade auch diese unfassbare Armut und Perspektivlosigkeit der "Ghetto"-Bewohner geht ans Herz und zerfetzt die Idee des "Amerikanischen Traums" in der Luft. Durch Anspielungen auf Martin Luther King, die Bürgerrechtsbewegung, Malcolm X oder die Black Panther Party geht sie nebenbei auch auf den historischen Kontext ein, wobei nur wenig Hintergrundwissen erwartet wird und viele Erklärungen dem unwissenden Leser unter die Arme greifen. Auch Polizeigewalt und Willkür spielen hier wie in "The Hate U Give" eine Rolle, hier aber nur am Rande. So wird am Ende wohl jedem Leser eindrücklich klar, dass es auch nach 8 Jahre Obama-Präsidentschaft (und unter Trump nun sowieso) bittere Realität ist, dass dunkelhäutige Menschen in Amerika immer noch diskriminiert werden, im Durchschnitt ärmer sind, schlechtere Jobs, einen schwereren Zugang zu Bildung und dafür mehr Probleme mit Polizeigewalt haben.


"Jay seufzt. "Manchmal gelten für Schwarze andere Regeln, Baby", sagt sie. "Verdammt, manchmal spielen die Dame während wir in einer scheißkomplizierten Schachpartie stecken. Das ist eine beschissene Tatsache, aber es ist eine Tatsache."


Diese brutal ehrliche und ans Herz gehend konzipierte Gesellschaftskritik ist jedoch nicht Mittelpunkt des Romans und wird auch nicht mit Holzhammer-Methode in den Leser eingeprügelt. Im absoluten Fokus steht hier unsere Protagonistin Bri - ihre Träume, ihr Handeln, ihre Gefühle und ihr Instrument um die Stimme zu erheben: Hiphop. Eigentlich kann ich mit dieser Stilrichtung nicht besonders viel anfangen, da ich Gangster Rap immer als ziemlich lächerlich empfunden habe. Hier geht es jedoch um genau das: die Illusionen in der Szene, die Klischees um Drogen, Waffen und Gewalt, die aber eigentlich nichts anderes sind als ein wütender Hilfeschrei. Auch wenn die Musik einfach nicht meins ist, kann ich jetzt viel besser nachvollziehen, wie viel gerade diese Stilrichtung bewegen kann und dass es sich oft lohnt genauer hinzuhören.


"Dieser Kerl wird mit ein paar Lines dein Leben verändern." So war es. Seit Nas mir erklärt hat, die Welt gehöre mir, war nichts mehr so wie vorher. Nach diesem Gefühl bin ich süchtig. Es ist der Grund, warum ich rappe."


Um das Feeling zu bekommen, das Bri beschreibt, habe ich mir vor dem Lesen einige ihrer Top 5 Rapper mal angehört, was ich wirklich jedem Leser empfehlen kann, der noch nicht viel mit Rap zu tun hatte. Bris abgedruckte Freestyle-Raps und vor allem ihr Song "On The Come Up" sind kleine Kunstwerke mit Wortspielen, Reimen und viel spitzer Kritik, die die Geschichte unglaublich reicher machen und mit dem richtigen Beat im Ohr kann man gut nachvollziehen, was die ganze Welt so faszinierend an Hiphop findet. Doch es geht nicht nur um die Musik, en Rhythmus, die Message an sich sondern auch das ganze Milieu darum. Angie Thomas, die als Jugendliche selbst gerappt hat, lässt genügend Realität und eigene Erfahrungen aus der Hip-Hop-Szene miteinfließen, sodass die Rap-Welt authentisch scheint und beim Leser die Emotionen ankommen, die sie vermitteln will.


"Manchmal träume ich, dass ich ertrinke. In einem großen blauen Ozean, der so tief ist, dass ich den Grund nicht sehe. Aber ich sage mir, dass ich nicht sterben werde, egal wie viel Wasser in meine Lungen dringt oder wie tief ich auch sinke. Ich werde nicht sterben, einfach weil ich das sage. Plötzlich kann ich unter Wasser atmen. (…) Aber jetzt bin ich wach und dabei, zu ertrinken. Und ich habe keine Ahnung, wie ich auch nur irgendwas in den Griff kriegen soll."


Und da kam bei mir wirklich einiges an Emotionen an. Bris Schicksal und ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit wohnt so viel Kraft, Leidenschaft, Ehrlichkeit, Authentizität, Schmerz und Angst inne, aber vor allem ist da sehr viel Wut und Enttäuschung, die direkt unter die Haut geht und einen nicht mehr loslässt. Dafür sorgt auch der jugendliche, direkte Schreibstil der Autorin, dem es mit erschreckend klaren Worten gelingt, dem Leser ein beängstigend eindrückliches Bild von der ganzen Situation zu vermitteln. Es ist wirklich erstaunlich, wie spielend leicht Angie Thomas es schafft, ein mir total fremdes Milieu sowie Probleme und Ängste, die absolut gar nicht meiner eigenen Realität entsprechen an mich heranzutragen, sodass ich erschüttert da sitze und unbedingt etwas tun will! Das kreiert eine eher bedrückende Atmosphäre und unterschwellige Spannung, doch so ernst, brutal und bewegend die Geschichte meist ist, wird sie dennoch auch immer wieder von Szenen unterbrochen, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Immer wieder scheint ein Hauch Humor durch Anspielungen auf "Nerd-Shit" wie "Black Panter" und der Wakanda-Gruß, Star Trek, Star Wars, Harry Potter und Mario Cart durch und man braucht nicht besonders genau hinzuschauen um zwischen all der Frustration und Wut mindestens genauso viel Kreativität, Liebe, Hoffnung und Wille, etwas zu verändern, zu finden.


"Du und dein Bruder, ihr seid mein wichtigster Traum. Der andere kann warten, bis ich weiß, dass es euch gut geht. So was machen Eltern manchmal."
"Du solltest das nicht müssen", wiederhole ich.
"Aber ich will es." Das macht es noch schwerer. Wenn sie es tun müsste, wäre das Verantwortung. Wenn sie es will, ist es Liebe."


Denn neben der spitzen Kritik und dem Hiphop gibt es noch ein anderes Standbein, auf dem die Geschichte fußt und das ist der Zusammenhalt zwischen Familie und Freunden. Wir werden nicht nur mit Rassismus und Ungerechtigkeit konfrontiert - das ist auch eine Geschichte über Mütter, die sich für ihre Kinder zurück ins Leben kämpfen, Geschwister, die füreinander alles aufgeben würden, Großeltern, die mit allen Mitteln ihre Enkel beschützen wollen und dabei auch mal übers Ziel hinausschießen, Tanten, die in ihrer Anstrengung leicht vom richtigen Weg abgekommen sind und schwer wieder darauf zurückfinden und Freunde (die "Unheilige Dreieinigkeit"), die sich zwar immer wieder streiten, sich jedoch auch jedes Mal zusammenraufen und sich blind verstehen.


"Es ist noch nicht lange her, dass meine Mom mich gefragt hat, wer ich bin. Langsam glaube ich, es zu wissen. (…) Wenn ich sonst nichts bin, bin ich wie meine Familie und sie wie ich. Das ist mehr als genug."


Mitten in all dem Durcheinander aus Hoffnung, Enttäuschung, Liebe und Hass steht die junge Bri, deren Entwicklung wundervoll mit anzusehen ist. Sie sucht sich selbst, rätselt, wer sie sein will, was sie zu sagen hat und auch wenn sie sich zwischendurch oft verläuft, findet sie den richtigen Weg. Mit ihrer starrköpfigen, selbstbewussten, impulsiven Art fährt sie sich das ein oder andere Problem ein, ihre Kreativität, Ehrlichkeit, Loyalität, ihrem Mitgefühl und ihrem ungezügelten Temperament ist sie mir jedoch sehr schnell ans Herz gewachsen. Sie wächst zur Identifikationsfigur für etliche Jugendliche heran und dient gleichzeitig dazu, eine wichtige Botschaft zu übermitteln, welche am Ende in der Danksagung der Autorin nochmal in Worte gefasst wird: "They can´t stop you, so get your come up". Angie Thomas ruft durch Bri dazu auf, unsere Träume zu verfolgen, sich nicht aufhalten zu lassen, Unrecht anzusprechen und brüllt der Welt ein ganz klares "NEIN" zu Rassismus entgegen! Aufgrund der vielen wichtigen Themen, die angesprochen werden, der starken Identifikationsfigur und der wundervollen Message denke ich, dass man diese Geschichte wunderbar als Schullektüre nutzen könnte um das Thema "Race Relations" zu behandeln - mich hat es auf jeden Fall tief bewegt, dazu gebracht, etliche Notizen zu machen und viele Zitate herauszuschreiben, zu recherchieren, mir Rapsongs herauszusuchen und es zum bisherigen Favorit des Jahres 2019 zu küren.


"You´ll never silence me and you´ll never kill my dream,
just recognize when you say brilliant that you´re also saying Bri."


Fazit:


Eine erschreckende, authentische, berührende und wichtige Geschichte über die bittere Realität von Armut, Vorurteilen, Rassismus und Gewalt in der es neben schmerzhaft aufrichtiger Gesellschaftskritik jedoch auch um Hiphop als Instrument um die Stimme zu erheben und den Zusammenhalt zwischen Familie und Freunden geht. Überquellende Emotionen, die direkt unter die Haut gehen, eine starke Identifikationsfigur und eine wundervolle Message machen die Geschichte zu einem absoluten Must-Read.

Unglaublich viel Wut und Enttäuschung aber mindestens genauso viel Kreativität, Liebe, Hoffnung und der Wille, etwas zu verändern - ein Roman, der genau den Nerv der Zeit trifft!

Veröffentlicht am 04.03.2019

Ein Roman, der genau den Nerv der Zeit trifft!

On The Come Up
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"You can´t stop me on the come up"

Nachdem Angie Thomas 2017 mit ihrem Sozialthriller um die andauernde Polizeigewalt und den offenen Rassismus in den USA die Welt aufgerüttelt hat, musste ich natürlich ...

"You can´t stop me on the come up"

Nachdem Angie Thomas 2017 mit ihrem Sozialthriller um die andauernde Polizeigewalt und den offenen Rassismus in den USA die Welt aufgerüttelt hat, musste ich natürlich ihren nächsten Roman "On The Come Up" auch lesen. Und auch wenn das ein wenig meine Sorge war, ist ihr neuer Roman keineswegs eine etwas veränderte Neuauflage von „The Hate U Give“ sondern erzählt eine ganz neue Geschichte über ein anderes Mädchen, mit anderem Unterton, anderer Message und anderem Schwerpunkt, erschafft dabei aber ein Ergebnis, das genauso wichtig, genauso schmerzhaft aufrichtig und berührend ist, wie ihr Debüt. Einfach nur WOW!

"Was hat die Welt in letzter Zeit mit dir gemacht?"
Sie hat meine Familie in eine extrem miese Lage gebracht. Sie hat meine Mom um ihren Job gebracht. Sie hat mich auf den Boden geschmissen. Sie hat mich hoodlum genannt.
"Sie hat mir verdammt viel angetan.", sage ich.
Da lehnt Doc sich lächelnd zurück. "Dann lass die Welt mal wissen, wie du dich fühlst."

Das Cover ist schon Teil des wundervollen Kunstwerkes, das diese Geschichte darstellt. Gott-segne-den-cbj-Verlag - hat dieser sich nämlich entschieden, das Originalcover beizubehalten. Im Gegensatz zu "The Hate U Give", das uns strahlend weiß entgegenleuchtete und dessen Titel in schwarzer Schrift geschrieben war, ist hier der Hintergrund schwarz und der Titel prangt in großen, weißen Lettern neben dem Hauptmotiv. Wie das Design hier wieder mit den Kontrasten "Schwarz" und "Weiß" spielt, was natürlich einen passenden Bezug zur Handlung darstellt, ist auffallend hintersinnig. Bis auf den umgekehrten Kontrast lassen sich noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen "THUG" und "OTCU" feststellen: beide haben einen roten Buchrücken, der Autorentitel und weitere Highlights sind in eben dieser Farbe geschrieben und außer dem Comic-Mädchen ist das Bild leer. Auch hier trifft die Gestaltung des Mädchens meine Vorstellung von ihr ganz wunderbar. Die dunkelhäutige Silhouette trägt Timberland Boots, hat Braids (also permanent geflochtene Haare wie z.B. Cornrows), trägt einen Anglerhut, eine Armeehose, ein schwarzes Top, ein Mikrofon in der Hand und den Arm zur Siegespose erhoben - in zwei Worten: genau Bri. Auch der Titel passt wieder wie die Faust aufs Auge und der Untertitel fasst ebenfalls den Grundgedanken der Geschichte wunderbar zusammen.


"There´s a beast that roams my streets,
and he goes by the name of crack cocaine,
it´s kinda strange how he gets in the veins
and turn mothers into strangers who only share the same name"


Auch innerhalb der Buchdeckel ist das Buch super konzipiert - sowohl vom Verlag als auch von der Autorin. In drei Teile - "Old School", "Golden Age" und "New School" - und 34 Kapitel geteilt ist die Geschichte übersichtlich formatiert und gebündelt lesbar. Außerdem sind die vielen wundervollen Rap-Texte, die in der Handlung vorkommen abgedruckt und zwar -Halleluja- in Originalsprache! Ich finde, es gibt nichts Anstrengenderes als wenn kunstvolle Wortgebilde, Lyrik oder Gedichte (und als Lyrik kann man diese Texte definitiv bezeichnen) schlecht ins Deutsche übersetzt werden. Manche amerikanische Ausdrücke und vor allem Slang kann man einfach nicht übersetzten ohne dass es total lächerlich klingt und deshalb danke ich der Übersetzerin Henriette Zeltner von Herzen dafür, dass sie es bei den Originalen belassen hat. So sind gewisse Grundkenntnisse der englischen Sprache zwar Voraussetzung für das Verstehen der Hiphop-Passagen, an vielen Stellen steht jedoch als Kompromiss sowohl die englische als auch die deutsche Version einer wichtigen Zeile da.


"Unarmed and dangerous, but America, you made us,
only time we famous, is when we die and you blame us."


Was ebenfalls auffällt, ist dass Slang, Jugendsprache und wichtige Rap-Ausdrücke wie zum Beispiel "Battle", "Flow" oder "Shout-Out" ebenfalls in Originalsprache belassen wurden. Hasser von Anglizismen werden hier zwar nicht viel Spaß haben aber die restliche Leserschaft kann sich eines authentischen Leseerlebnisses erfreuen. Als kleine Hilfe stellt uns der Verlag wieder ein kurzes Glossar am Ende mit kurzen Erklängen der wichtigsten Slang-, Rap- und Insider-Begriffen zur Seite, sodass man schnell hinten spicken kann, wenn einem nicht ganz klar ist, was Bri mit "S´up?" will oder wer denn "Lil´ Kim" ist, über die alle reden. In Anbetracht dieser vielen Pluspunkte ist es nur ein sehr kleiner Wermutstropfen, dass sich leider viele Tippfehler finden lassen.


Erster Satz: "Vielleicht muss ich heute Abend noch jemand killen."


So beginnt Angie Thomas ihren zweiten Roman, der jedoch keineswegs gleich auf der ersten Seite von einem Mord spricht - nein, es geht hier um den großen Traum unserer Protagonistin Bri, ein Rap-Battle im Ring zu gewinnen und als Hip-Hop-Star groß rauszukommen - den Traum zu verwirklichen, den ihr Vater alias der große Rapper Lawless, fast zu erreichen geschafft hätte, wenn er nicht erschossen worden wäre. Bri hat definitiv Talent im Rappen, doch auch als sie sich im Ring beweist und ihren Battle-Gegner Milez tatsächlich "killt", stehen ihre Chancen auf den großen Durchbruch eher schlecht. Zuhause wartet ein leerer Kühlschrank auf sie, im Briefkasten stapeln sich unbezahlte Rechnungen, ständig wird Strom oder Gas abgestellt und es droht der Rausschmiss aus der Wohnung. Denn obwohl ihr großer Bruder Trey einen Studienabschluss mit Auszeichnungen hat und ihre Mutter Jay rund um die Uhr arbeitet, reicht es nicht aus um über die Runden zu kommen. Der Grund ist: kommen aus Garden Heights, einem Ghetto-ähnlichen Stadtteil, der durch Gang-Gewalt und Drogenhandel ebenso bestimmt wird wie durch die florierende Hiphop-Szene. Und dieser Fakt gepaart mit der Farbe ihrer Haut (schwarz) reicht aus, dass Trey nur in einer Pizzeria arbeiten kann und Jay als ehemalig Drogenabhängige keinen Job mehr findet, als sie gekündigt wird. Bri soll sich also unbedingt auf die Schule konzentrieren und "etwas aus ihrem Leben machen" doch alles was sie will, ist rappen, damit ihrer Familie helfen und endlich nicht mehr unsichtbar sein. Und als sie alle Wut und Frustration in einem Song katalysiert wird sie tatsächlich über nach berühmt - doch schnell wünscht sie sich, wieder unsichtbar zu sein, denn sie gerät durch ein paar wütende Zeilen mitten in einen Streit, der zu eskalieren droht, mitten in die Fronten zwischen zwei wütende Gangs während sie in den Medien gleichzeitig als talentiert Newcomerin gefeiert und als gewaltbereite Anstifterin verschrien wird - und sie muss sich entscheiden, wer sie sein will und ob sie ihr "Come-Up" wirklich zu jedem Preis durchziehen will...


"Verdammt, all das, wovon ich geträumt habe, könnte wahr werden. Ich könnte es als Rapperin schaffen. Das ist nicht nur irgendein wildes Produkt meiner Fantasie. Das ist... möglich."


Mit Bris Leben in Garden Heights illustriert Angie Thomas leider die aktuelle Situation vieler Randgruppen und der dunkelhäutigen Bevölkerung in Amerika und erzählt eine authentische und erschreckende Geschichte über das Leben in verarmten Vierteln, Vorurteile, unterschwelligen Rassismus und offen ausgesprochenen Hass. Alltäglicher Rassismus wie skeptische Blicke des Verkäufers in einem Laden, doppelte Kontrollen durch Sicherheitsbeamte und abfällige Bemerkungen werden dabei genauso schmerzhaft ehrlich dargestellt wie die Gang-Gewalt, die ständige Bedrohung durch Waffen, der Handel mit Drogen, die hohe Arbeitslosigkeit und Verschuldung, die das Leben in der "Hood" kennzeichnen. Gerade auch diese unfassbare Armut und Perspektivlosigkeit der "Ghetto"-Bewohner geht ans Herz und zerfetzt die Idee des "Amerikanischen Traums" in der Luft. Durch Anspielungen auf Martin Luther King, die Bürgerrechtsbewegung, Malcolm X oder die Black Panther Party geht sie nebenbei auch auf den historischen Kontext ein, wobei nur wenig Hintergrundwissen erwartet wird und viele Erklärungen dem unwissenden Leser unter die Arme greifen. Auch Polizeigewalt und Willkür spielen hier wie in "The Hate U Give" eine Rolle, hier aber nur am Rande. So wird am Ende wohl jedem Leser eindrücklich klar, dass es auch nach 8 Jahre Obama-Präsidentschaft (und unter Trump nun sowieso) bittere Realität ist, dass dunkelhäutige Menschen in Amerika immer noch diskriminiert werden, im Durchschnitt ärmer sind, schlechtere Jobs, einen schwereren Zugang zu Bildung und dafür mehr Probleme mit Polizeigewalt haben.


"Jay seufzt. "Manchmal gelten für Schwarze andere Regeln, Baby", sagt sie. "Verdammt, manchmal spielen die Dame während wir in einer scheißkomplizierten Schachpartie stecken. Das ist eine beschissene Tatsache, aber es ist eine Tatsache."


Diese brutal ehrliche und ans Herz gehend konzipierte Gesellschaftskritik ist jedoch nicht Mittelpunkt des Romans und wird auch nicht mit Holzhammer-Methode in den Leser eingeprügelt. Im absoluten Fokus steht hier unsere Protagonistin Bri - ihre Träume, ihr Handeln, ihre Gefühle und ihr Instrument um die Stimme zu erheben: Hiphop. Eigentlich kann ich mit dieser Stilrichtung nicht besonders viel anfangen, da ich Gangster Rap immer als ziemlich lächerlich empfunden habe. Hier geht es jedoch um genau das: die Illusionen in der Szene, die Klischees um Drogen, Waffen und Gewalt, die aber eigentlich nichts anderes sind als ein wütender Hilfeschrei. Auch wenn die Musik einfach nicht meins ist, kann ich jetzt viel besser nachvollziehen, wie viel gerade diese Stilrichtung bewegen kann und dass es sich oft lohnt genauer hinzuhören.


"Dieser Kerl wird mit ein paar Lines dein Leben verändern." So war es. Seit Nas mir erklärt hat, die Welt gehöre mir, war nichts mehr so wie vorher. Nach diesem Gefühl bin ich süchtig. Es ist der Grund, warum ich rappe."


Um das Feeling zu bekommen, das Bri beschreibt, habe ich mir vor dem Lesen einige ihrer Top 5 Rapper mal angehört, was ich wirklich jedem Leser empfehlen kann, der noch nicht viel mit Rap zu tun hatte. Bris abgedruckte Freestyle-Raps und vor allem ihr Song "On The Come Up" sind kleine Kunstwerke mit Wortspielen, Reimen und viel spitzer Kritik, die die Geschichte unglaublich reicher machen und mit dem richtigen Beat im Ohr kann man gut nachvollziehen, was die ganze Welt so faszinierend an Hiphop findet. Doch es geht nicht nur um die Musik, en Rhythmus, die Message an sich sondern auch das ganze Milieu darum. Angie Thomas, die als Jugendliche selbst gerappt hat, lässt genügend Realität und eigene Erfahrungen aus der Hip-Hop-Szene miteinfließen, sodass die Rap-Welt authentisch scheint und beim Leser die Emotionen ankommen, die sie vermitteln will.


"Manchmal träume ich, dass ich ertrinke. In einem großen blauen Ozean, der so tief ist, dass ich den Grund nicht sehe. Aber ich sage mir, dass ich nicht sterben werde, egal wie viel Wasser in meine Lungen dringt oder wie tief ich auch sinke. Ich werde nicht sterben, einfach weil ich das sage. Plötzlich kann ich unter Wasser atmen. (…) Aber jetzt bin ich wach und dabei, zu ertrinken. Und ich habe keine Ahnung, wie ich auch nur irgendwas in den Griff kriegen soll."


Und da kam bei mir wirklich einiges an Emotionen an. Bris Schicksal und ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit wohnt so viel Kraft, Leidenschaft, Ehrlichkeit, Authentizität, Schmerz und Angst inne, aber vor allem ist da sehr viel Wut und Enttäuschung, die direkt unter die Haut geht und einen nicht mehr loslässt. Dafür sorgt auch der jugendliche, direkte Schreibstil der Autorin, dem es mit erschreckend klaren Worten gelingt, dem Leser ein beängstigend eindrückliches Bild von der ganzen Situation zu vermitteln. Es ist wirklich erstaunlich, wie spielend leicht Angie Thomas es schafft, ein mir total fremdes Milieu sowie Probleme und Ängste, die absolut gar nicht meiner eigenen Realität entsprechen an mich heranzutragen, sodass ich erschüttert da sitze und unbedingt etwas tun will! Das kreiert eine eher bedrückende Atmosphäre und unterschwellige Spannung, doch so ernst, brutal und bewegend die Geschichte meist ist, wird sie dennoch auch immer wieder von Szenen unterbrochen, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Immer wieder scheint ein Hauch Humor durch Anspielungen auf "Nerd-Shit" wie "Black Panter" und der Wakanda-Gruß, Star Trek, Star Wars, Harry Potter und Mario Cart durch und man braucht nicht besonders genau hinzuschauen um zwischen all der Frustration und Wut mindestens genauso viel Kreativität, Liebe, Hoffnung und Wille, etwas zu verändern, zu finden.


"Du und dein Bruder, ihr seid mein wichtigster Traum. Der andere kann warten, bis ich weiß, dass es euch gut geht. So was machen Eltern manchmal."
"Du solltest das nicht müssen", wiederhole ich.
"Aber ich will es." Das macht es noch schwerer. Wenn sie es tun müsste, wäre das Verantwortung. Wenn sie es will, ist es Liebe."


Denn neben der spitzen Kritik und dem Hiphop gibt es noch ein anderes Standbein, auf dem die Geschichte fußt und das ist der Zusammenhalt zwischen Familie und Freunden. Wir werden nicht nur mit Rassismus und Ungerechtigkeit konfrontiert - das ist auch eine Geschichte über Mütter, die sich für ihre Kinder zurück ins Leben kämpfen, Geschwister, die füreinander alles aufgeben würden, Großeltern, die mit allen Mitteln ihre Enkel beschützen wollen und dabei auch mal übers Ziel hinausschießen, Tanten, die in ihrer Anstrengung leicht vom richtigen Weg abgekommen sind und schwer wieder darauf zurückfinden und Freunde (die "Unheilige Dreieinigkeit"), die sich zwar immer wieder streiten, sich jedoch auch jedes Mal zusammenraufen und sich blind verstehen.


"Es ist noch nicht lange her, dass meine Mom mich gefragt hat, wer ich bin. Langsam glaube ich, es zu wissen. (…) Wenn ich sonst nichts bin, bin ich wie meine Familie und sie wie ich. Das ist mehr als genug."


Mitten in all dem Durcheinander aus Hoffnung, Enttäuschung, Liebe und Hass steht die junge Bri, deren Entwicklung wundervoll mit anzusehen ist. Sie sucht sich selbst, rätselt, wer sie sein will, was sie zu sagen hat und auch wenn sie sich zwischendurch oft verläuft, findet sie den richtigen Weg. Mit ihrer starrköpfigen, selbstbewussten, impulsiven Art fährt sie sich das ein oder andere Problem ein, ihre Kreativität, Ehrlichkeit, Loyalität, ihrem Mitgefühl und ihrem ungezügelten Temperament ist sie mir jedoch sehr schnell ans Herz gewachsen. Sie wächst zur Identifikationsfigur für etliche Jugendliche heran und dient gleichzeitig dazu, eine wichtige Botschaft zu übermitteln, welche am Ende in der Danksagung der Autorin nochmal in Worte gefasst wird: "They can´t stop you, so get your come up". Angie Thomas ruft durch Bri dazu auf, unsere Träume zu verfolgen, sich nicht aufhalten zu lassen, Unrecht anzusprechen und brüllt der Welt ein ganz klares "NEIN" zu Rassismus entgegen! Aufgrund der vielen wichtigen Themen, die angesprochen werden, der starken Identifikationsfigur und der wundervollen Message denke ich, dass man diese Geschichte wunderbar als Schullektüre nutzen könnte um das Thema "Race Relations" zu behandeln - mich hat es auf jeden Fall tief bewegt, dazu gebracht, etliche Notizen zu machen und viele Zitate herauszuschreiben, zu recherchieren, mir Rapsongs herauszusuchen und es zum bisherigen Favorit des Jahres 2019 zu küren.


"You´ll never silence me and you´ll never kill my dream,
just recognize when you say brilliant that you´re also saying Bri."


Fazit:


Eine erschreckende, authentische, berührende und wichtige Geschichte über die bittere Realität von Armut, Vorurteilen, Rassismus und Gewalt in der es neben schmerzhaft aufrichtiger Gesellschaftskritik jedoch auch um Hiphop als Instrument um die Stimme zu erheben und den Zusammenhalt zwischen Familie und Freunden geht. Überquellende Emotionen, die direkt unter die Haut gehen, eine starke Identifikationsfigur und eine wundervolle Message machen die Geschichte zu einem absoluten Must-Read.

Unglaublich viel Wut und Enttäuschung aber mindestens genauso viel Kreativität, Liebe, Hoffnung und der Wille, etwas zu verändern - ein Roman, der genau den Nerv der Zeit trifft!

Veröffentlicht am 16.02.2019

Spannend, düster, einfallsreich - ein durchaus lesenswertes Urban-Fantasy-Abenteuer!

Die zwei Monde
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"Geh mit mir, Veronica von den Wölfen. Geh mit mir durch die Schleier der Welt."

Kennt ihr diese Bücher, die ihr vor Jahren mal irgendwo spontan gekauft habt, die seither Staub im Regal angesammelt haben ...

"Geh mit mir, Veronica von den Wölfen. Geh mit mir durch die Schleier der Welt."

Kennt ihr diese Bücher, die ihr vor Jahren mal irgendwo spontan gekauft habt, die seither Staub im Regal angesammelt haben und über die ihr beim Sortieren plötzlich stolpert ohne euch zu erinnern, sie jemals gekauft zu haben? Dies ist so ein Buch! Ich habe vor ein paar Tagen mein Regal umsortiert und bin dabei auf diese interessante Geschichte gestoßen, die ich schon so lange schmählich ignoriert habe. "Zutritt zur verborgenen Welt der Feen, Unsterblichen und antiken Gottheiten" steht auf dem Buchrücken - das klingt doch ganz gut, dachte ich bei mir und habe mit Lesen angefangen. Leider ist das definitiv ein Fehler im Klapptext und es erwarten uns hier keine fantastischen Parallelwelten. Stattdessen haben wir es hier mit einem mystischen Urban-Fantasy-Roman zu tun, der in die düstere Sagenwelt von Mailand entführt. Nicht unbedingt etwas total Neues aber definitiv mal anders verpackt und definitiv lesenswert!

Das Cover ist zwar nicht unbedingt außergewöhnlich originell, dennoch aber hübsch anzusehen und mit den vielen kleine Details durchaus stimmig. Durch die dunkel-violette Färbung des Hintergrunds kommt der strahlend-weiße Titel mit dem Leuchteffekt sehr gut zur Geltung und zusammen mit den schwarz-glänzenden, toten Ästen ergibt sich ein düsterer erster Eindruck. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man an den Ästen zwei schwarze Mondsicheln, die gut mit dem Titel korrespondieren. Durch die weißen Blumen werden weitere Kontrastakzente gesetzt und relativ bald wird klar, dass auch sie für die Geschichte eine Bedeutung haben. Komplettiert wird das Design durch die großen Monde, die jeden Kapitelanfang zieren und die jeweilige Mondphase zeigen. Auch wenn ich den Titel weder für besonders einprägsam, originell oder schön halte, passt er gut, da die Geschichte in zwei Mondphasen eingeteilt ist und diese für die Handlung eine große Rolle spielen. Alles in allem bin ich mit der Gestaltung also recht zufrieden.

Erster Satz: "Mein Name ist Veronica Meis und als mein düsteres Märchen seinen Anfang nahm, fehlten weniger als fünf Wochen bis zu meinem achtzehnten Geburtstag"


Wir lernen die junge Veronica kennen, die nach einer Partynacht mit furchtbaren Kopfschmerzen, übersteigerten Sinneswahrnehmungen und einer Bisswunde am Bein aufwacht und sich an den vorangegangenen Abend nicht mehr erinnern kann. Sie schiebt es zuerst auf einen miesen Kater und setzt ihr normales Leben fort, ohne zu wissen, dass sich bald alles ändern wird. Doch während sie sich mit ihren Eltern streitet, um die Anerkennung ihrer Klassenkameraden kämpft, heimlich für den coolsten Typen der Schule schwärmt und versucht, sich in Mailand endlich einzuleben, verändert sie sich immer mehr, bis sie es einfach nicht mehr ignorieren kann. Sie hört und sieht plötzlich Dinge, die andere Menschen nicht sehen können und als dann der geheimnisvolle Graf Gorani auftaucht und ihr offenbart, dass sie mitten in ein Geflecht aus uralten und gefährlichen Mächten geraten ist, will sie einfach nur noch normal sein. Doch ein Teil von ihr genießt es auch, Macht über ihre Mitmenschen zu haben und Teil der dunklen, verborgenen Welt zu sein. Wie gefährlich das Spiel ist, dass sie spielt, wie leicht man sich darin verlieren kann und wie schwer es ist, jemanden zu finden, dem man vertrauen kann, erfährt sie erst, als sie den attraktive Ivan kennenlernt. Kann sie aus dem Teufelskreislauf noch ausbrechen oder wird sie für immer die Sklavin dunkler Mächte werden?


"Ich stand auf, ging ins Bad und machte das Licht über dem Spiegel an: die ganz normale Veronica. Schmales Kinn, volle Lippen, rot gegen die sehr helle Haut. Braune Augen und kurze, zerzauste Haare. Sag es, Veronica, sprich es laut aus. Ich sah meinem Spiegelbild fest in die Augen. "Ich bin ein Werwolf"


Wir werden sehr ausführlich in das Leben von Veronica eingeführt, die mit ganz normalen Teenager-Problemen zu kämpfen hat, seit sie von Ravenna ins anonyme Mailand gezogen ist. Als Außenseiterin mit einem exzentrischen Modegeschmack, trockenem Humor und angeknackstem Selbstbewusstsein wächst sie dem Leser sehr schnell ans Herz man fiebert mit ihr, wenn sie der Horror-Clique Elena - Susanna - Angela - entgegentritt und sich gegen die Yoga-Reiki-Anwandlungen ihrer Guru-Mutter verteidigen muss. Doch diese Probleme rücken sehr schnell in den Hintergrund. Denn seit sich nach der Partynacht schlagartige viele Dinge in ihrem Leben geändert haben und sie auf verborgene Geheimnisse stößt, die sie niemals erwartet hätte, traut sie ihren eigenen Augen nicht mehr und weiß nicht, was sie glauben und tun soll. Erst durch den Conte Giuseppe Gorani, der ihr die Mythen und Sagen Mailands erzählt, beginnt sie, die Stadt mit anderen Augen zu sehen. Zuerst langsam und dann immer mehr werden wir mit Veronica in eine düstere, magische Sagenwelt gezogen, über die wir kaum etwas wissen und deren Gefährlichkeit wir noch nicht abschätzen können. Ein Mädchen mit Blumenhaaren, ein Bettler mit Schlangenaugen, dunkle Männer in schwarzen Kutten, sprechende Totenschädel, geflügelte Hexenwesen, uralte Sekten und … ein mächtiger Wolfsgott, der davon träumt, menschlich zu sein. All diese Dinge werden plötzlich Teil ihrer Welt und bevor sie wirklich Zeit hat, die Kuriositäten zu bestaunen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn beim nächsten Vollmond wird sie für immer auf schreckliche Art und Weise Teil dieser neuen Welt sein und um das zu verhindern, muss sie eine schreckliche Entscheidung treffen...


"Im Grunde war das alles ein Maskenspiel, eine Art Bühnenspektakel, in dem zu viele Rollen zu besetzen und zu wenige Schauspieler vorhanden waren. (…) Aber wer stand hinter all diesen Figuren? Wann waren es Masken und wann wahre Gesichter? Und wer war Veronica, eine Kämpferin oder eine Heulsuse?"


Mit der vielseitigen Stadt Mailand bekommen wir ein wundervolles Setting vorgesetzt. Denn auch wenn der Autor nur weniger Stellen der Stadt wirklich explizit beim Namen nennt und beschreibt, bekommen wir einen Einblick in den einzigartigen Flair der Stadt abseits der luxuriösen Einkaufshallen und Modetempeln. Wir werden in die geheimnisvolle, düstere, sagenumwobene, gefährliche Sagenwelt dieser uralten Stadt hineingezogen und werden mir unglaublichen Legenden, uralten Riten und übernatürliche Wesen konfrontiert, die alle ausgehend von antiken Überlieferungen oder historischen Gestalten oder Ereignissen entwickelt wurden. So gab es die historische Figur des Conte Giuseppe Gorani wirklich, das dargestellte Blutbad in Mailand des 18 Jahrhunderts hat wirklich stattgefunden und die Riten der Lupercalien entspringen historischen Überlieferungen. Das gibt der Geschichte natürlich eine besondere Authentizität und sorgt dafür, dass das typische Werwolf-Thema komplett neu gedacht daherkommt. Luca Tarenzis Schreibstil ist dabei sehr nüchtern aber angenehm beschreibend. An manchen Stellen habe ich mich aber an der etwas holprigen Übersetzung gestört. Etwas befremdlich ist dabei vor allem auch, dass Veronica obgleich sie aus der Ich-Perspektive erzählt, sehr oft von sich in der dritten Person denkt.


"Sie hatten damit gespielt, den Wolf zu befreien? Jetzt würde der Wolf ihnen nachstellen. Veronica, die leichte Beute, hatten sie gedacht: das schüchtere und einsame Mädchen, das keine Freunde hat, das die Toughe spielt, um stärker zu erscheinen auch wenn es ihr keiner abnimmt. Aber Veronica hat aufgehört, eine leichte Beute zu sein. Rotkäppchen ist in den Walt gegangen, und der Wolf hat es gefressen. Ich sah mir in die Augen: Veronica, der Werwolf. Es ist Zeit für die Jagd."



Da wir neue Informationen nur sehr knapp, kryptisch und häppchenweise präsentiert bekommen, bleibt die magische Welt bis zum Ende ein großes Fragezeichen. Da auch die sich anbahnende Liebesgeschichte, Veronicas Beziehung zu ihrer Familie und ihren Freunden recht blass bleiben, hätte ich mir von dieser Seite ein wenig mehr Informationen gewünscht. Stattdessen fokussiert sich Luca Tanrenzi während der 512 Seiten sehr auf die Entwicklung unserer starken Protagonistin und legt wer darauf, ihren inneren Kampf gegen den Wolf in sich und dessen dunkle Versuchung detailreich zu schildern und uns ihre Entwicklung vom unsicheren Teenager zu einer verantwortungsvollen, starken, jungen Frau nahezubringen. Das gelingt ihm auch sehr gut, sodass man trotz sparsamer Handlung und raren neuen Informationen immer mitfiebert und Veronica sehr gerne auf ihrem Abenteuer begleitet.


"Warum sehnst du dich so sehr nach dem Leben der Menschen?" "Wegen des Wunders, Veronica. Wegen des Fleisches, wegen des Blutes, wegen des Herzens, wegen der Farben, wegen der Musik, wegen der Verrücktheit. Weil eure Welt ein unvorstellbarer Traum ist und ich ihn für immer träumen will."


Gerade am Ende wird das fehlende Informationsgerüst der Geschichte aber deutlich als sich etwas plötzlich alle Probleme ohne wirkliche Klärung in Luft auflösen und einige Personen höchst fragwürdig reagieren. Damit ist das Ende in sich eigentlich schon abgeschlossen, es ist aber dennoch viel Potential für eine Fortsetzung vorhanden.



Fazit:


Spannend, düster, einfallsreich - ein durchaus lesenswertes Urban-Fantasy-Abenteuer mit einer starken Protagonistin und authentischem Sagenhintergrund. Leider bleiben sowohl die Liebesgeschichte als auch die Sagenwelt etwas blass, da sich der Autor sehr auf seine Protagonistin und deren Entwicklung konzentriert. So wird eine Menge Potential verschenkt und die Geschichte bleibt im soliden aber nicht unbedingt umwerfenden Bereich.