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Veröffentlicht am 04.11.2018

Ehrlich, berührend und als Parabel an die Kraft der Wunder lesbar!

Die kleinen Wunder von Mayfair
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Schon als ich das Cover das allererste Mal sah, wusste ich, dass ich an diesem Buch nicht vorbeikommen werde. Ich dachte: Wenn diese Geschichte nur annährend so liebevoll und detailreich gestaltet ist ...

Schon als ich das Cover das allererste Mal sah, wusste ich, dass ich an diesem Buch nicht vorbeikommen werde. Ich dachte: Wenn diese Geschichte nur annährend so liebevoll und detailreich gestaltet ist und mich auf den ersten Blick verzaubern kann, dann ist sie auf gutem Weg, eines meiner Jahreshighlights zu werden. Und ich habe rechtbehalten! "Die kleinen Wunder von Mayfair" hat zwar auch überraschend düstere Seiten, ist aber vor allem eine Geschichte, die Mut macht, zum Nachdenken anregt und in die kindliche Freude und das unschuldige Staunen zurückversetzt, die wir alle viel zu sehr aus unseren Leben verbannt haben.

"Einem Menschen können die schrecklichsten Dinge zustoßen, aber er wird sich nie verlieren, wenn er sich immer daran erinnert, dass er einmal ein Kind war."

Das Cover lässt den Leser einen kurzen Blick durch die geschwungenen Tore des Emporiums, hinein in eine fantastische Welt voller magischem Spielzeig erhaschen und weckte in mir sofort den Wunsch, das Buch zu lesen. Eingerahmt von golden-verzierten Säulen, strahlenden Lampen und den zarten Eiskristallen des ersten Frosts sehen wir den Titel in geschwungenen, goldenen Lettern sehen, während zentrale Motive wie die emsige Spielzeuglock, die eleganten Ballerinas und die allen-empirischen-Gesetzten-trotzenden Luftschiffe die magische Stimmung zum Greifen nah machen. Auf der Rückseite des Einbandes ist die Zeitungsannonce zu sehen, auf deren Ausschreiben sich Cathy auf den Weg in eine neue Welt, in ein neues Leben macht. Auch innerhalb der Buchdeckel versetzt die wundervolle Gestaltung mit angedeuteten Treppen, Schachbrettfußboden, kufenlosen Schaukelpferden und strammen Spielzeugsoldaten in das zauberhafte Setting des Emporiums. Das goldene Lesebändchen und die filigranen, Abschnittteilenden Schneeflocken vervollständigen das Bild noch. Einzig der Titel - eigentlich sehr wohlklingend und auch nicht wirklich unpassend - umfasst für mich nur der erste Teil der Geschichte und lässt zusammen mit dem Cover ein viel spielerischer, nostalgischer Eindruck der Geschichte entstehen, als eigentlich angebracht wäre. Der Originaltitel "The Toymakers" ist da ein wenig einprägsamer, konkreter und passender.

Erster Satz: "Das Emporium öffnet seine Tore am Tag des ersten Winterfrosts."

Schon mit dem eröffnenden Prolog, dessen ganze Bedeutung wir erst später verstehen, werden wir an den ungewöhnlichen Schauplatz der Geschichte geführt: Papa Jacks Emporium – eine Welt voller Wunder und Magie in der vom ersten Frost Anfang November bis zum ersten erblühten Schneeglöckchen Kinderträume wahr werden und Erwachsene einen kurzen Rückblick in ihre eigene Kindheit erhaschen können. Durch die Augen der 16-jährigen Cathy, die auf der Suche nach einer Bleibe für sie und ihr ungeborenes Kind durch eine Zeitungsannonce auf den Spielzeugladen in London stößt, können wir Einblick in die neue und magische Welt erhalten, in der alles möglich scheint: treue Patchworkhunde, revolutionierende Spielzeugsoldaten, fliegende Schlösser, unendliche Kisten, papierne Fertigbäume, Pfeifenreinigervögel und ... die große Liebe.

"Davonlaufen war ganz anders als in Büchern. Niemand versuchte, einen aufzuhalten. Niemand jagte einem hinterher. Was die Leute nicht verstanden, war, dass man wissen musste, wovor man davonlief. Meist floh man nicht vor Müttern, Vätern, Ungeheuern oder Bösewichten, sondern vor der Stimme im Kopf, die einem sagte: Bleib wo du bist. Alles wird wieder gut. (…) Denn der Welt war es egal, ob eine Tochter mehr oder weniger von zu Hause weglief. Sie hatte diese Geschichte schon zu oft erlebt."

Denn neben Papa Jack, dem geheimnisvollen, hünenhaften Spielzeugmachermeister mit der leisen, flüsternden Stimme und den traurigen Augen, der die Spielzüge in seinen Regalen zum Leben erweckt, sind es seine Söhne Kaspar und Emil, die Cathy mit ihrer Fürsorge und ihren fantastischen Ideen beeindrucken. Immer darauf bedacht, es besser als der andere zu machen eifern sie um neue Ideen, entwickeln über die Sommermonate neue Spielzeuge, während sie stundenlang Schlachten mit Spielzeugsoldaten austragen - der "Lange Krieg". Während Emil ein hervorragender Handwerker ist und seine Holzsoldaten ein Wunderwerk der Technik sind, genau wie die schwebenden Wolkenschlösser und faltbaren Burgen - solide, verlässlich, fleißig, berechenbar -, scheint Kaspar ihm immer ein Schritt voraus zu sein. Denn seine Spielzeuge bergen wie die von Papa Jack wahre Rätsel und immer wieder gelingt ihm das Unglaubliche, wodurch Emils Ehrgeiz und seine Selbstzweifel weiter angestachelt werden. Auch auf Cathy weitet sich der endlose Konkurrenzkampf zwischen den beiden aus und beide sind schnell bereit, sie auch nach der Saison zu verstecken. So findet sie in einem kleinen Spielhaus in der Verkaufshalle ein Zuhause und mit ihrer heranrückenden Geburt und der Annäherung an die beiden Brüder rückt auch ihre Entscheidung zwischen den beiden immer näher. Doch sie ahnt nicht, dass sie damit das Gleichgewicht zwischen den beiden zerstören wird und unter dem Damoklesschwert des heranrückenden Ersten Weltkriegs die Magie des Emporiums zu bröckeln beginnt...

"Nur Kinder wissen, warum der eine Tag eine Ewigkeit dauern kann, während der andere in einem Wimpernschlag vergeht. Ja, in Papa Jacks Emporium ticken die Uhren anders. Ganz egal, ob man tagsüber kommt oder abends, hier findet man einen Ort, der ganz nach seinem eigenen Rhythmus lebt und wer genau hinhört, kann ihn vielleicht sogar hören..."

Zu Beginn ist die Geschichte vor allem ein magisches Abenteuer voller anrührender Nostalgie, doch dann verliert sie plötzlich ihre Leichtigkeit, als der "Lange Krieg" vom Spielzeugteppich in die Schlachtfelder des ersten Weltkriegs verlegt wird und spielerische Auseinandersetzungen durch heftigere, reale ausgetauscht werden. Schleichend wird das Emporium seiner Magie berauben, sodass der Kontrast zwischen der heimeligen Atmosphäre des Spielzeugladens und der Grausamkeit der Welt langsam kleiner wird und die bittere Realität auch ins Emporium Einzug hält. Wir schlagen somit eine ganz andere Richtung ein, als ich von der Geschichte erwartet hatte und mit der Zeit bekommt die Geschichte immer mehr Facetten, immer mehr Tiefe, es wird immer mehr Schmerz und immer mehr Leid der Protagonisten zwischen all den zur Gewohnheit gewordenen Ungewöhnlichkeiten sichtbar. Ich hatte mit einer zauberhaften Fantasy Geschichte rund um Weihnachten gerechnet, doch dann schlägt die Realität zu und der Krieg bricht aus und so finden wir Leser uns irgendwann auch auf der Suche nach der außergewöhnlichen und ganz alltäglichen Magie wieder, die uns und der Geschichte irgendwann auf dem Weg während des Krieges abhanden gekommen zu sein scheint. Doch während viele Leser darüber enttäuscht sind, sehe ich genau darin die Stärke des Romans: neben all dem Außergewöhnlichen, der Liebe und der Magie ist der Roman doch überraschend voll mit dem Ernst des Lebens, Leid, Verlust, Krieg, Rivalität und Überlebenskampf eines untergehenden Ladens - ehrlich, berührend und als einzige Parabel an die Kraft der Wunder lesbar.

"Das war das Los des jüngeren Bruders. Manchmal wünschte er sich, es gäbe einen Weg wie er Kaspar ein- oder gar überholen könnte - sodass Kaspar, und sei es nur für einen Augenblick, zu ihm aufsehen, seine Erfindungen bewundern, sich abends in seine Werkstatt zurückziehen und hoffen, nein, davon träumen würde, dass er eines Tages auch so nah dran sein würde, ähnliche Wunder zu vollbringen wie ihr Vater. Doch das war ein schrecklicher Gedanke. (…) Das kleine Mädchen strahlte und klatschte beim Anblick der anmutigen Bewegungen in die Hände, woraufhin aus den Gängen noch mehr Kinder herbeieilten, um zu erfahren, was es zu sehen gab. Ja, sollte Kaspar sich doch zusammenträumen, was er wollte; das war die wahre Magie des Emporiums - die ganz alltägliche Magie spielender Kinder."

Diese Entwicklung geht mit vielen Sprüngen und Lücken in der Handlung einher, die nötig sind, da wir Cathy und das Emporium über 47 Jahre lang, von 1906 bis 1953 durch Höhen und Tiefen begleiten. Dabei wird leider viel Potential liegen gelassen, viele Ansätze für neue Geschichten ignoriert und wir huschen in Eile an einer Unzahl an verschiedenen Geschichten vorbei, die alle noch darauf warten, erzählt zu werden. Es werden viel zu viele Teile des Emporiums und des Lebens der Charaktere der Vorstellung des Lesers überlassen und so würde ich mich freuen, wenn sich Robert Dinsdale eines Tages dazu entscheidet, in die Welt des Emporiums zurückzukehren. Zu viele Geheimgänge sind noch zu entdecken, neue Erfindungen zu bestaunen, die Hintergrundgeschichten der zahllosen Helfer zu erzählen, die Liebe zwischen Kaspar und Cathy noch zu entwickeln und das Aufwachsen ihres Kinds Martha genauer zu beobachten.

"Kurze Erinnerungen an glücklichere Tage blitzten vor ihrem inneren Auge auf. (…) Alltägliche Magie. All die Wunder um sie herum, all die Dinge, die Papa Jacks Schöpfungen tun konnten, und doch: Wie viel mächtiger war diese ganz gewöhnliche Magie?"

So farbenfroh und berührend die Geschichte mit all ihren kreativen Ideen, Einfällen, Erfindungen und Schauplätzen auch ist, der Schreibstil ist dabei eher ruhig und zurückhaltend. Zwar bekommen wir immer wieder detaillierte, manchmal fast ausschweifende Beschreibungen zu lesen, insgesamt dominieren aber doch kluge Aussagen und atmosphärische Kniffe vor einer blühenden Handlung. Dass Atmosphäre hier klar vor Spannung gestellt wird, muss man erstmal akzeptieren und sich darauf einlassen. Ich habe in vielen Rezensionen anderer Leser gelesen, dass sie die Handlung zu sprunghaft, langatmig und die Atmosphäre zu düster fanden, um sich in die Tiefen dieser Geschichte hinabbegeben zu können, doch ich finde, dass wir es hier mit einem atmosphärischen Wandel zu tun haben, der für alles andere entschuldigt: vom kindlichen Staunen Cathys ausgehend, dem langen, spielerischen Krieg zweier Jungen, die im Herzen noch Kinder sind und nicht aufhören können, sich immer wieder gegenseitig auszustechen und zu bekämpfen, wenden wir uns immer mehr dem Ernst und der Verantwortung des Erwachsenwerdens zu, was mit weniger Magie und mehr Problemen einhergeht. Durch die Schatten des Krieges, wird die Geschichte dann immer düsterer, melancholischer mit seltenen Lichtblicken, während sich die Protagonisten wieder in ihre Kindheit zurücksehnen, das Gefühl aber nicht erhaschen können da das Schicksal immer wieder dazwischenfunkt, bevor wir am Ende mit süßer Freude belohnt werden, als die Protagonisten endlich wieder zur Magie und den alten Wundern zurückfinden.

"Ihr Emporium ist ein Ort, an dem man sich vor der Welt da draußen verstecken kann, eine Welt, in der schreckliche Dinge geschehen. Ihr Emporium ist ein Zuhause für Menschen, die eins brauchen. Menschen wie Sie, wie ich..."

Wir erleben hier also ein ganzes Leben voller Zweifel, Umkehr, Liebe, Hass, Erwachsenwerden, Kind-bleiben-wollen und Hass für den Krieg - ein ganzes Leben, gelebt in Mitten der spielzeugvernarrten und hoffnungsbedürftigen Kriegsgeneration, die durch den Ersten Weltkrieg viel zu früh um ihre Kindheit gebracht wurde. Wir erleben mit, wie die Grausamkeiten des Krieges die kindlichen Fantasien von stolzen und mutigen Soldaten, die in die Schlacht zogen um ihr Vaterland zu verteidigen, zerstören und auch die überzeugtesten Patrioten verstehen: am Ende des Krieges bleibt nur Tod, Zerstörung und Schmerz übrig und das Gefühl, einfach wieder ein Kind sein zu wollen.

"Wir haben das Feuer noch in der Nacht erwidert, Papa. Ich habe meine ersten Männer getötet. Sag also nicht, dass ein Deutscher je nach meinem Geschmack sein könnte"
Woraufhin Papa Jack schlicht geantwortet hatte:
"Vergiss nie - früher haben auch diese Männer mit Spielsachen gespielt."

So kann das ganze Buch als Hommage gegen den Krieg gelesen werden. Die zerstörerische Wirkung zweier im Herzen Kinder gebliebene Männern mit einzigartigen magischen Talenten in stetiger Rivalität um die Erfindungen magischsten Spielzeug, um Cathys alleinige Zuneigung und das alleinige Erbe des Emporiums gefangen in einem langen Krieg gegeneinander; die Idee mit den Spielzeugsoldaten, die plötzlich Frieden schließen, sich lernen sich gegenseitig aufzuziehen und darüber zu einem neuen Maß an Intelligenz und Empfindsamkeit gelangen; die tragische Geschichte von Papa Jack, der seinen Sohn nicht vor dem bewahren konnte, was er selbst durchstehen musste - all das sind Motive dieser Geschichte, die um das große Thema "Krieg und Frieden" kreisen und diesen Roman zu weitaus mehr machen als "nur" eine magische Weihnachtsgeschichte über verlorene Kindheitsträume.

"Mein Vater war ein einfacher Mann. Mein Vater war ein großer Mann. Und mein Vater war meine ganze Welt. (…) Die Arbeit unseres Vaters lebt weiter, solange es das Emporium gibt. Solange wir weiter Spielzeug herstellen. Solange wir...", seine Stimme drohte zu versagen, dich er riss sich zusammen, "die Magie in der Welt bewahren und nie vergessen, dass wir selbst einmal Kinder waren. Solange wir die Welt, Spielzeug für Spielzeug, zu einem besseren Ort machen."

Ein weiteres Herzstück dieses Buches sind die treffend gezeichneten Charaktere, die mir trotz detaillierter Beschreibungen und intensiven Gefühlen immer ein Rätsel bleiben werden. Das ist, was ebenfalls viele Rezensenten vor mir scharf kritisiert haben: auch wenn wir die Protagonisten so lange begleiten, ist es, als könnten wir sie nur aus der Ferne beobachten und zwar eine Verbindung zu ihnen aufbauen, sie aber nie gänzlich verstehen. Auch wenn mir lesernahe Protagonisten eigentlich wichtig sind und ich diese Kritik durchaus verstehen kann, macht diese Distanz auch einen Teil der geheimnisvollen, besonderen Ausstrahlung des Buches aus und an manchen Stellen dachte ich fast, dass dieser entfernte Blickwinkel und das manchmal fast schon unverantwortliche Auslassen von für den Leser wichtigen Szenen (zum Beispiel die Hochzeit von Kaspar und Cathy oder ihr Wiedersehen mit ihrer Familie) von Robert Dinsdale gewollt ist - genau wie seine unglaublich hinterlistige Art und Weise, unsere geschundenen Leserherzen mit neuen Gemeinheiten für die Protagonisten zu quälen...

"Ich habe dich Truhen brauen sehen, die von innen größer sind, als von außen. Ich habe hier drin mir Schutz gesucht, als es draußen Papierbäume geregnet hat. Du verwandelst Dinge, Kaspar, warum dann auch nicht dich selbst?"

Allgemein denke ich aber jetzt nachdem ich den Roman gelesen habe, dass man einfach alle Erwartungen über Bord werfen und sich auf die Geschichte einlassen muss. Dann wird man in die magische Welt des Emporiums mitgenommen und erlebt die tragisch-schöne Geschichte wundersam zusammengefügter Schicksale, die durch ihren Glauben an Wunder verbunden sind und alle unter der grausamen Realität zu leiden haben. Und mit Sirius, dem treuen Patchworkhund, der die Spielzeugmacher schon seit dem Beginn ihres Lebens begleitet ist es wie mit dem Rest der Geschichte: obwohl er am Anfang nicht mehr als ein Wunderwerk der Ingenieurskunst ist, wird Stück für Stück ein echter, lebendiger Hund aus ihm. Was ich damit sagen möchte ist, dass aus dieser Geschichte in ihrer Gesamtheit Stück für Stück mehr wird und dieses "Mehr" hat mich tief beeindruckt. Ob nun bei den revolutionierenden Spielzeugsoldaten, den Patchworkpegasussen und dem Wolkenschloss echte Zauberei oder "nur" Geschicklichkeit im Spiel ist, ist im Endeffekt es egal - der Roman hat eine magische Wirkung und die Magie des Spielens, die so anrührend beschrieben wird, bringt etwas in uns zum Vorschein, dass wir fast vergessen haben: Als Kinder stecken wir so viel Fantasie und Herzblut in unser Spielzeug, dass es lebendig wird und selbst als rational denkende Erwachsene können wir uns eine Scheibe davon abschneiden und uns stolz zurückerinnern, wie leidenschaftlich wir lieben konnten als wir klein waren - und zu diesem Vertrauen und Glauben an Wunder zurückfinden.

"Ein Spielzeug kann kein Leben retten, aber eine Seele.
Wie viele Seelen hatte Jekabs gerettet?"

Fazit:

Die tragisch-schöne Geschichte wundersam zusammengefügter Schicksale hat neben all dem Außergewöhnlichen, der Liebe und der Magie auch überraschend düstere Seiten, ist aber vor allem eine Geschichte, die Mut macht, zum Nachdenken anregt und in die kindliche Freude und das unschuldige Staunen zurückversetzt, die wir alle viel zu sehr aus unseren Leben verbannt haben.
Ehrlich, berührend und als einzige Parabel an die Kraft der Wunder lesbar - ein Roman für junggebliebene Erwachsene und für solche, die an die alltäglichen Wunder des Lebens glauben!

Veröffentlicht am 04.11.2018

Ehrlich, berührend und als Parabel an die Kraft der Wunder lesbar

Die kleinen Wunder von Mayfair
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Schon als ich das Cover das allererste Mal sah, wusste ich, dass ich an diesem Buch nicht vorbeikommen werde. Ich dachte: Wenn diese Geschichte nur annährend so liebevoll und detailreich gestaltet ist ...

Schon als ich das Cover das allererste Mal sah, wusste ich, dass ich an diesem Buch nicht vorbeikommen werde. Ich dachte: Wenn diese Geschichte nur annährend so liebevoll und detailreich gestaltet ist und mich auf den ersten Blick verzaubern kann, dann ist sie auf gutem Weg, eines meiner Jahreshighlights zu werden. Und ich habe rechtbehalten! "Die kleinen Wunder von Mayfair" hat zwar auch überraschend düstere Seiten, ist aber vor allem eine Geschichte, die Mut macht, zum Nachdenken anregt und in die kindliche Freude und das unschuldige Staunen zurückversetzt, die wir alle viel zu sehr aus unseren Leben verbannt haben.

"Einem Menschen können die schrecklichsten Dinge zustoßen, aber er wird sich nie verlieren, wenn er sich immer daran erinnert, dass er einmal ein Kind war."

Das Cover lässt den Leser einen kurzen Blick durch die geschwungenen Tore des Emporiums, hinein in eine fantastische Welt voller magischem Spielzeig erhaschen und weckte in mir sofort den Wunsch, das Buch zu lesen. Eingerahmt von golden-verzierten Säulen, strahlenden Lampen und den zarten Eiskristallen des ersten Frosts sehen wir den Titel in geschwungenen, goldenen Lettern sehen, während zentrale Motive wie die emsige Spielzeuglock, die eleganten Ballerinas und die allen-empirischen-Gesetzten-trotzenden Luftschiffe die magische Stimmung zum Greifen nah machen. Auf der Rückseite des Einbandes ist die Zeitungsannonce zu sehen, auf deren Ausschreiben sich Cathy auf den Weg in eine neue Welt, in ein neues Leben macht. Auch innerhalb der Buchdeckel versetzt die wundervolle Gestaltung mit angedeuteten Treppen, Schachbrettfußboden, kufenlosen Schaukelpferden und strammen Spielzeugsoldaten in das zauberhafte Setting des Emporiums. Das goldene Lesebändchen und die filigranen, Abschnittteilenden Schneeflocken vervollständigen das Bild noch. Einzig der Titel - eigentlich sehr wohlklingend und auch nicht wirklich unpassend - umfasst für mich nur der erste Teil der Geschichte und lässt zusammen mit dem Cover ein viel spielerischer, nostalgischer Eindruck der Geschichte entstehen, als eigentlich angebracht wäre. Der Originaltitel "The Toymakers" ist da ein wenig einprägsamer, konkreter und passender.

Erster Satz: "Das Emporium öffnet seine Tore am Tag des ersten Winterfrosts."

Schon mit dem eröffnenden Prolog, dessen ganze Bedeutung wir erst später verstehen, werden wir an den ungewöhnlichen Schauplatz der Geschichte geführt: Papa Jacks Emporium – eine Welt voller Wunder und Magie in der vom ersten Frost Anfang November bis zum ersten erblühten Schneeglöckchen Kinderträume wahr werden und Erwachsene einen kurzen Rückblick in ihre eigene Kindheit erhaschen können. Durch die Augen der 16-jährigen Cathy, die auf der Suche nach einer Bleibe für sie und ihr ungeborenes Kind durch eine Zeitungsannonce auf den Spielzeugladen in London stößt, können wir Einblick in die neue und magische Welt erhalten, in der alles möglich scheint: treue Patchworkhunde, revolutionierende Spielzeugsoldaten, fliegende Schlösser, unendliche Kisten, papierne Fertigbäume, Pfeifenreinigervögel und ... die große Liebe.

"Davonlaufen war ganz anders als in Büchern. Niemand versuchte, einen aufzuhalten. Niemand jagte einem hinterher. Was die Leute nicht verstanden, war, dass man wissen musste, wovor man davonlief. Meist floh man nicht vor Müttern, Vätern, Ungeheuern oder Bösewichten, sondern vor der Stimme im Kopf, die einem sagte: Bleib wo du bist. Alles wird wieder gut. (…) Denn der Welt war es egal, ob eine Tochter mehr oder weniger von zu Hause weglief. Sie hatte diese Geschichte schon zu oft erlebt."

Denn neben Papa Jack, dem geheimnisvollen, hünenhaften Spielzeugmachermeister mit der leisen, flüsternden Stimme und den traurigen Augen, der die Spielzüge in seinen Regalen zum Leben erweckt, sind es seine Söhne Kaspar und Emil, die Cathy mit ihrer Fürsorge und ihren fantastischen Ideen beeindrucken. Immer darauf bedacht, es besser als der andere zu machen eifern sie um neue Ideen, entwickeln über die Sommermonate neue Spielzeuge, während sie stundenlang Schlachten mit Spielzeugsoldaten austragen - der "Lange Krieg". Während Emil ein hervorragender Handwerker ist und seine Holzsoldaten ein Wunderwerk der Technik sind, genau wie die schwebenden Wolkenschlösser und faltbaren Burgen - solide, verlässlich, fleißig, berechenbar -, scheint Kaspar ihm immer ein Schritt voraus zu sein. Denn seine Spielzeuge bergen wie die von Papa Jack wahre Rätsel und immer wieder gelingt ihm das Unglaubliche, wodurch Emils Ehrgeiz und seine Selbstzweifel weiter angestachelt werden. Auch auf Cathy weitet sich der endlose Konkurrenzkampf zwischen den beiden aus und beide sind schnell bereit, sie auch nach der Saison zu verstecken. So findet sie in einem kleinen Spielhaus in der Verkaufshalle ein Zuhause und mit ihrer heranrückenden Geburt und der Annäherung an die beiden Brüder rückt auch ihre Entscheidung zwischen den beiden immer näher. Doch sie ahnt nicht, dass sie damit das Gleichgewicht zwischen den beiden zerstören wird und unter dem Damoklesschwert des heranrückenden Ersten Weltkriegs die Magie des Emporiums zu bröckeln beginnt...

"Nur Kinder wissen, warum der eine Tag eine Ewigkeit dauern kann, während der andere in einem Wimpernschlag vergeht. Ja, in Papa Jacks Emporium ticken die Uhren anders. Ganz egal, ob man tagsüber kommt oder abends, hier findet man einen Ort, der ganz nach seinem eigenen Rhythmus lebt und wer genau hinhört, kann ihn vielleicht sogar hören..."

Zu Beginn ist die Geschichte vor allem ein magisches Abenteuer voller anrührender Nostalgie, doch dann verliert sie plötzlich ihre Leichtigkeit, als der "Lange Krieg" vom Spielzeugteppich in die Schlachtfelder des ersten Weltkriegs verlegt wird und spielerische Auseinandersetzungen durch heftigere, reale ausgetauscht werden. Schleichend wird das Emporium seiner Magie berauben, sodass der Kontrast zwischen der heimeligen Atmosphäre des Spielzeugladens und der Grausamkeit der Welt langsam kleiner wird und die bittere Realität auch ins Emporium Einzug hält. Wir schlagen somit eine ganz andere Richtung ein, als ich von der Geschichte erwartet hatte und mit der Zeit bekommt die Geschichte immer mehr Facetten, immer mehr Tiefe, es wird immer mehr Schmerz und immer mehr Leid der Protagonisten zwischen all den zur Gewohnheit gewordenen Ungewöhnlichkeiten sichtbar. Ich hatte mit einer zauberhaften Fantasy Geschichte rund um Weihnachten gerechnet, doch dann schlägt die Realität zu und der Krieg bricht aus und so finden wir Leser uns irgendwann auch auf der Suche nach der außergewöhnlichen und ganz alltäglichen Magie wieder, die uns und der Geschichte irgendwann auf dem Weg während des Krieges abhanden gekommen zu sein scheint. Doch während viele Leser darüber enttäuscht sind, sehe ich genau darin die Stärke des Romans: neben all dem Außergewöhnlichen, der Liebe und der Magie ist der Roman doch überraschend voll mit dem Ernst des Lebens, Leid, Verlust, Krieg, Rivalität und Überlebenskampf eines untergehenden Ladens - ehrlich, berührend und als einzige Parabel an die Kraft der Wunder lesbar.

"Das war das Los des jüngeren Bruders. Manchmal wünschte er sich, es gäbe einen Weg wie er Kaspar ein- oder gar überholen könnte - sodass Kaspar, und sei es nur für einen Augenblick, zu ihm aufsehen, seine Erfindungen bewundern, sich abends in seine Werkstatt zurückziehen und hoffen, nein, davon träumen würde, dass er eines Tages auch so nah dran sein würde, ähnliche Wunder zu vollbringen wie ihr Vater. Doch das war ein schrecklicher Gedanke. (…) Das kleine Mädchen strahlte und klatschte beim Anblick der anmutigen Bewegungen in die Hände, woraufhin aus den Gängen noch mehr Kinder herbeieilten, um zu erfahren, was es zu sehen gab. Ja, sollte Kaspar sich doch zusammenträumen, was er wollte; das war die wahre Magie des Emporiums - die ganz alltägliche Magie spielender Kinder."

Diese Entwicklung geht mit vielen Sprüngen und Lücken in der Handlung einher, die nötig sind, da wir Cathy und das Emporium über 47 Jahre lang, von 1906 bis 1953 durch Höhen und Tiefen begleiten. Dabei wird leider viel Potential liegen gelassen, viele Ansätze für neue Geschichten ignoriert und wir huschen in Eile an einer Unzahl an verschiedenen Geschichten vorbei, die alle noch darauf warten, erzählt zu werden. Es werden viel zu viele Teile des Emporiums und des Lebens der Charaktere der Vorstellung des Lesers überlassen und so würde ich mich freuen, wenn sich Robert Dinsdale eines Tages dazu entscheidet, in die Welt des Emporiums zurückzukehren. Zu viele Geheimgänge sind noch zu entdecken, neue Erfindungen zu bestaunen, die Hintergrundgeschichten der zahllosen Helfer zu erzählen, die Liebe zwischen Kaspar und Cathy noch zu entwickeln und das Aufwachsen ihres Kinds Martha genauer zu beobachten.

"Kurze Erinnerungen an glücklichere Tage blitzten vor ihrem inneren Auge auf. (…) Alltägliche Magie. All die Wunder um sie herum, all die Dinge, die Papa Jacks Schöpfungen tun konnten, und doch: Wie viel mächtiger war diese ganz gewöhnliche Magie?"

So farbenfroh und berührend die Geschichte mit all ihren kreativen Ideen, Einfällen, Erfindungen und Schauplätzen auch ist, der Schreibstil ist dabei eher ruhig und zurückhaltend. Zwar bekommen wir immer wieder detaillierte, manchmal fast ausschweifende Beschreibungen zu lesen, insgesamt dominieren aber doch kluge Aussagen und atmosphärische Kniffe vor einer blühenden Handlung. Dass Atmosphäre hier klar vor Spannung gestellt wird, muss man erstmal akzeptieren und sich darauf einlassen. Ich habe in vielen Rezensionen anderer Leser gelesen, dass sie die Handlung zu sprunghaft, langatmig und die Atmosphäre zu düster fanden, um sich in die Tiefen dieser Geschichte hinabbegeben zu können, doch ich finde, dass wir es hier mit einem atmosphärischen Wandel zu tun haben, der für alles andere entschuldigt: vom kindlichen Staunen Cathys ausgehend, dem langen, spielerischen Krieg zweier Jungen, die im Herzen noch Kinder sind und nicht aufhören können, sich immer wieder gegenseitig auszustechen und zu bekämpfen, wenden wir uns immer mehr dem Ernst und der Verantwortung des Erwachsenwerdens zu, was mit weniger Magie und mehr Problemen einhergeht. Durch die Schatten des Krieges, wird die Geschichte dann immer düsterer, melancholischer mit seltenen Lichtblicken, während sich die Protagonisten wieder in ihre Kindheit zurücksehnen, das Gefühl aber nicht erhaschen können da das Schicksal immer wieder dazwischenfunkt, bevor wir am Ende mit süßer Freude belohnt werden, als die Protagonisten endlich wieder zur Magie und den alten Wundern zurückfinden.

"Ihr Emporium ist ein Ort, an dem man sich vor der Welt da draußen verstecken kann, eine Welt, in der schreckliche Dinge geschehen. Ihr Emporium ist ein Zuhause für Menschen, die eins brauchen. Menschen wie Sie, wie ich..."

Wir erleben hier also ein ganzes Leben voller Zweifel, Umkehr, Liebe, Hass, Erwachsenwerden, Kind-bleiben-wollen und Hass für den Krieg - ein ganzes Leben, gelebt in Mitten der spielzeugvernarrten und hoffnungsbedürftigen Kriegsgeneration, die durch den Ersten Weltkrieg viel zu früh um ihre Kindheit gebracht wurde. Wir erleben mit, wie die Grausamkeiten des Krieges die kindlichen Fantasien von stolzen und mutigen Soldaten, die in die Schlacht zogen um ihr Vaterland zu verteidigen, zerstören und auch die überzeugtesten Patrioten verstehen: am Ende des Krieges bleibt nur Tod, Zerstörung und Schmerz übrig und das Gefühl, einfach wieder ein Kind sein zu wollen.

"Wir haben das Feuer noch in der Nacht erwidert, Papa. Ich habe meine ersten Männer getötet. Sag also nicht, dass ein Deutscher je nach meinem Geschmack sein könnte"
Woraufhin Papa Jack schlicht geantwortet hatte:
"Vergiss nie - früher haben auch diese Männer mit Spielsachen gespielt."

So kann das ganze Buch als Hommage gegen den Krieg gelesen werden. Die zerstörerische Wirkung zweier im Herzen Kinder gebliebene Männern mit einzigartigen magischen Talenten in stetiger Rivalität um die Erfindungen magischsten Spielzeug, um Cathys alleinige Zuneigung und das alleinige Erbe des Emporiums gefangen in einem langen Krieg gegeneinander; die Idee mit den Spielzeugsoldaten, die plötzlich Frieden schließen, sich lernen sich gegenseitig aufzuziehen und darüber zu einem neuen Maß an Intelligenz und Empfindsamkeit gelangen; die tragische Geschichte von Papa Jack, der seinen Sohn nicht vor dem bewahren konnte, was er selbst durchstehen musste - all das sind Motive dieser Geschichte, die um das große Thema "Krieg und Frieden" kreisen und diesen Roman zu weitaus mehr machen als "nur" eine magische Weihnachtsgeschichte über verlorene Kindheitsträume.

"Mein Vater war ein einfacher Mann. Mein Vater war ein großer Mann. Und mein Vater war meine ganze Welt. (…) Die Arbeit unseres Vaters lebt weiter, solange es das Emporium gibt. Solange wir weiter Spielzeug herstellen. Solange wir...", seine Stimme drohte zu versagen, dich er riss sich zusammen, "die Magie in der Welt bewahren und nie vergessen, dass wir selbst einmal Kinder waren. Solange wir die Welt, Spielzeug für Spielzeug, zu einem besseren Ort machen."

Ein weiteres Herzstück dieses Buches sind die treffend gezeichneten Charaktere, die mir trotz detaillierter Beschreibungen und intensiven Gefühlen immer ein Rätsel bleiben werden. Das ist, was ebenfalls viele Rezensenten vor mir scharf kritisiert haben: auch wenn wir die Protagonisten so lange begleiten, ist es, als könnten wir sie nur aus der Ferne beobachten und zwar eine Verbindung zu ihnen aufbauen, sie aber nie gänzlich verstehen. Auch wenn mir lesernahe Protagonisten eigentlich wichtig sind und ich diese Kritik durchaus verstehen kann, macht diese Distanz auch einen Teil der geheimnisvollen, besonderen Ausstrahlung des Buches aus und an manchen Stellen dachte ich fast, dass dieser entfernte Blickwinkel und das manchmal fast schon unverantwortliche Auslassen von für den Leser wichtigen Szenen (zum Beispiel die Hochzeit von Kaspar und Cathy oder ihr Wiedersehen mit ihrer Familie) von Robert Dinsdale gewollt ist - genau wie seine unglaublich hinterlistige Art und Weise, unsere geschundenen Leserherzen mit neuen Gemeinheiten für die Protagonisten zu quälen...

"Ich habe dich Truhen brauen sehen, die von innen größer sind, als von außen. Ich habe hier drin mir Schutz gesucht, als es draußen Papierbäume geregnet hat. Du verwandelst Dinge, Kaspar, warum dann auch nicht dich selbst?"

Allgemein denke ich aber jetzt nachdem ich den Roman gelesen habe, dass man einfach alle Erwartungen über Bord werfen und sich auf die Geschichte einlassen muss. Dann wird man in die magische Welt des Emporiums mitgenommen und erlebt die tragisch-schöne Geschichte wundersam zusammengefügter Schicksale, die durch ihren Glauben an Wunder verbunden sind und alle unter der grausamen Realität zu leiden haben. Und mit Sirius, dem treuen Patchworkhund, der die Spielzeugmacher schon seit dem Beginn ihres Lebens begleitet ist es wie mit dem Rest der Geschichte: obwohl er am Anfang nicht mehr als ein Wunderwerk der Ingenieurskunst ist, wird Stück für Stück ein echter, lebendiger Hund aus ihm. Was ich damit sagen möchte ist, dass aus dieser Geschichte in ihrer Gesamtheit Stück für Stück mehr wird und dieses "Mehr" hat mich tief beeindruckt. Ob nun bei den revolutionierenden Spielzeugsoldaten, den Patchworkpegasussen und dem Wolkenschloss echte Zauberei oder "nur" Geschicklichkeit im Spiel ist, ist im Endeffekt es egal - der Roman hat eine magische Wirkung und die Magie des Spielens, die so anrührend beschrieben wird, bringt etwas in uns zum Vorschein, dass wir fast vergessen haben: Als Kinder stecken wir so viel Fantasie und Herzblut in unser Spielzeug, dass es lebendig wird und selbst als rational denkende Erwachsene können wir uns eine Scheibe davon abschneiden und uns stolz zurückerinnern, wie leidenschaftlich wir lieben konnten als wir klein waren - und zu diesem Vertrauen und Glauben an Wunder zurückfinden.

"Ein Spielzeug kann kein Leben retten, aber eine Seele.
Wie viele Seelen hatte Jekabs gerettet?"

Fazit:

Die tragisch-schöne Geschichte wundersam zusammengefügter Schicksale hat neben all dem Außergewöhnlichen, der Liebe und der Magie auch überraschend düstere Seiten, ist aber vor allem eine Geschichte, die Mut macht, zum Nachdenken anregt und in die kindliche Freude und das unschuldige Staunen zurückversetzt, die wir alle viel zu sehr aus unseren Leben verbannt haben.
Ehrlich, berührend und als einzige Parabel an die Kraft der Wunder lesbar - ein Roman für junggebliebene Erwachsene und für solche, die an die alltäglichen Wunder des Lebens glauben!

Veröffentlicht am 31.10.2018

Eine düstere Geschichte voll Hoffnung, Andersartigkeit, Ungerechtigkeit und einem Kampf um Freiheit!

Die Vereinten
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"Gold zu Asche."

Schon "Die Perfekten" hat mich überrascht und begeistert, doch mit "Die Vereinten" hat Caroline Brinkmann das Beste vieler bekannter Dystopien (ein bisschen von "Legend" von Marie Lu, ...

"Gold zu Asche."

Schon "Die Perfekten" hat mich überrascht und begeistert, doch mit "Die Vereinten" hat Caroline Brinkmann das Beste vieler bekannter Dystopien (ein bisschen von "Legend" von Marie Lu, ein wenig von den berühmten "Hunger Games" von Susanne Collins, ein Hauch von "Die rote Königin" von Victoria Aveyard und noch ganz viel Neues) vereint und gut ausgearbeitet und nachvollziehbar in einem mitreißenden, spannenden und gefühlsbetonten Epos auf den Punkt gebracht. Die Handlung verwirrt, verstört, verzaubert wie die großen Reihen der Dystopien - jedoch ohne diese kopieren zu wollen. Obwohl unsere Wirklichkeit (noch) nicht dem entspricht, was hier beschrieben wird, kann man sich doch zumindest vorstellen, dass wir uns irgendwann dorthin entwickeln könnten – und das ist eine unbehagliche Vorstellung, die genau das erfüllt, was ich mir von einer guten Dystopie erwarte: sie geht ins Herz, lässt die Hände zittern und das Hirn rattern.

„Unwetter haben keine Angst.
Unwetter toben.
Unwetter stürmen.
Unwetter weichen nie zurück.“

Schon im Cover sieht man, dass die Geschichte "erwachsen" geworden ist. Insgesamt ist das Cover sehr im Stil des ersten Teiles gehalten, wodurch die Zusammengehörigkeit der Dilogie sehr gut erkennbar wird. Anstatt in grellem Pink ist der Titel hier in strahlendem Grün gehalten, das zu den einnehmenden, gleichfarbigen Augen des Gesichts passt, welches das gesamte Cover ausfüllt. Während das Mädchen in Band 1 mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze aussah, als wolle sie sich verstecken und die strahlendgrünen Augen mit dem Titel die einzigen Farbklecke auf dem sonst grauen Hintergrund waren, sieht man hier die leuchtendroten Haare, die das Gesicht umspielen. Schon auf den ersten Blick wird hier also gezeigt: aus dem unscheinbaren, abgetauchten Mädchen Rain aus den Aschewolken von Greys nie erlöschenden Schornsteinen ist die strahlende Gesegnete und Prinzessin Rajana geworden, die jedoch genauso zu kämpfen hat, wie es Rain tun musste. Der Unterschied: sie kämpft jetzt nicht nur im Dunkeln für sich sondern muss im Licht der Öffentlichkeit für ihre Lieben und das gesamte Land Hope kämpfen, ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren. In diesem Sinne finde ich die Gestaltung mehr als passend und zusammen mit dem farbig abgestimmten Lesebändchen ergibt sich eine stimmige Konstellation.

Erster Satz: „Du wirst deinen Job lieben“, hatten sie gesagt."

Mit diesem Satz beginnt der erste von vier Teilen, in die die Geschichte geteilt ist: "Die Verlorenen" ist der erste Abschnitt betitelt und führt uns ganz diesem Titel folgend zurück nach Hope, wo alle Beteiligten ihre Wunden lecken, Verstorbene betrauern und doch gleichzeitig wissen, dass die Rebellion noch lange nicht vorbei ist. Während Rain noch um ihre Mutter Storm und ihre Freundin Andromeda trauert und den Verlust ihres Zirkels, den Verlust ihrer Heimat Grey hinnehmen muss, der von BoomBots in Schutt und Asche gelegt wurde, zieht ihr Vater Tiberius schon die nächsten Fäden einer Intrige, die ihn, den mächtigen Protektor, auf den Thron von Hope bringen soll. Vom Ghost zur Gesegneten geworden verkörpert sie eine unmögliche Hoffnung, die sie zur wertvollen Verbündeten werden lässt. Doch wem kann sie in diesem eiskalten, kalkulierenden Käfig aus Macht vertrauen? Ihrem machthungrigen Vater Tiberius, dem attraktiven Cassian, der sie mit neuen Geheimnissen über den vergessenen Krieg lockt und was ist mit Lark, dem sie trotz seines Verrats ihr Herz geschenkt hat?
Denn nicht nur Rain gerät wieder unter die Räder des Kampfes um Macht und Ansehen, auch Lark wird zunehmend ein Spielball zwischen Rebellion und Machterhaltung des Regimes, zwischen skrupellosen, verzweifelten Rebellen und mächtigen, eiskalten Gesegneten. Nachdem er sowohl die Spines als auch die Sentinal im letzten Kampf verraten hat, ist er für beide Seiten vor allem eines: der Verräter. Von Schuld und Trauer zerfressen will er nichts mehr als endlich Frieden und einen sicheren Platz für ihn, seine geliebte Schwester Rose und seine Familie. Doch solange Rose als kranke Drei vom Schutz und Wohlwollen der gesegneten abhängig ist, ist Lark verletzlich und der Willkür ausgeliefert.
Doch während sich sowohl Lark als auch Rain wieder in das gefährliche Spiel um ein Land am Rand der Rebellion begeben, taucht außerhalb der Mauer eine neue Gefahr auf, mit der keiner gerechnet hat - eine lang ignorierte Bedrohung aus der Zeit des vergessenen Krieges…


"Ihr wartet nicht länger darauf, dass sich jemand aus der goldenen Stadt um euch kümmert und euch rettet. Niemand wird kommen, und nichts wird sich ändern. Außer wir ändern es. Heute legen wir die Dornen an und kämpfen. Denn heute ist der Tag der Spines. Der Tag der Rebellion." (…) "Sie wollen kämpfen?", flüsterte Cassian. "Das wird ein Massaker. Sie werden es niemals schaffen."
"Das ist kein Kampf", flüsterte Rain vor Panik wie erstarrt, als sie verstand.
"Das ist ein Selbstmordkommando."


Sehr gerne habe ich mich wieder in die Irrungen und Wirrungen Hopes ziehen lassen, auch wenn ich zugeben muss, zu Beginn sehr schlecht in die Geschichte reingekommen zu sein. Zu viele Personen, mit zu vielen Motiven, Hintergründen, Intrigen und Geheimnissen warten darauf, dass man sich ihrer annimmt, sich an sie erinnert und sich mit ihnen in das nächste Abenteuer stürzt. Aufgrund der Komplexität des ersten Teils, der immerhin schon ein Jahr zurücklag, musste ich erst nochmal in diesen hineinlesen, bevor ich mich dieser Geschichte widmen konnte. Neben der sehr hilfreichen Übersicht über die Stadtzirkel des Landes Hope hätte mir hier eine kurze Personenübersicht (gerade über die verschiedenen Gesegneten mit all ihren exotischen Namen und Positionen) sehr geholfen!


"Wie mutig bist du, Sonnenschein?"
"So mutig wie das Herz rät und die Klugheit erlaubt", antwortete Rain. Das hatte Storm zum Thema Mut gesagt.
"Und was raten dir Herz und Verstand?", fragte Cassian und drehte sich zu ihr um. In seinen dunkelbraunen Augen leuchtete die Lust nach Abenteuer und sie spürte, wie die Flamme übersprang.
"Willst du wissen, was hinter der Mauer ist?"


Als ich es geschafft hatte, mich in dem Wirrwarr aus Intrigen und Namen zurecht zu finden, konnte ich mich ganz auf die Geschichte einlassen und bin wieder sehr gerne in die ungerechte Welt eingestiegen, in der die Menschen nach der Qualität ihrer Gene ihren Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen. Nachdem wir in Band 1 vor allem ausführlich die Welt der unteren Genklassen, den Zweien und Dreien, denen der Zugang zu genug Nahrung, sauberem Trinkwasser, Medikamenten und Bildung versperrt bleibt, erfahren haben, widmen wir uns hier erstmal den Gesegneten, den perfekten Herrschern Aventins. Die goldene Hauptstadt, in der die Reichen, Schönen und Privilegierten wohnen und von dort aus regieren erinnerte mich schon im ersten Teil an das "Kapitol" aus "Die Tribute von Panem". Auch die verschiedenen Zirkel, die jeweils für einen bestimmten Bereich zuständig sind und dementsprechend benannt wurden, sind den "Distrikten" sehr ähnlich. Neben der goldene Hauptstadt der Gesegneten und Begabten, den landwirtschaftlich geprägten Gebieten wie Green oder Azure, dem reichen Kultursektor Ruby, dem Techniksektor Silver, den Minenzirkeln Pitch, dem Wissenschaftszentrum White Pearl und dem Ausbildungsort der Sentinal Black Shell, blicken wir hier jedoch auch über den Tellerrand von Hope hinaus auf eine neue Spezies, die sich "die Vereinten" nennt. Doch was sind sie wirklich: Bedrohung, Verbündete, Nachbarn, Feind oder Freund?


"Wir kommen.
Wir helfen.
Wir sind eins.
Nein, dachte Lark. Ich bin Lark.
Du bist wir.
Wir sind du
Ich bin ich. Lark schüttelte den Kopf.
Noch... sagten die Stimmen."


Die Idee mit der Unterteilung nach Genen, also das Anstreben einer Welt, in der Zweien und Dreien ausgestorben und alle ein perfektes Genmaterial vorzuweisen haben, hat mich in Band 1 schon fasziniert. Denn diese Idee ist evolutionsbiologisch eigentlich sinnvoll und auch gut erklärt, bietet aber vor allem Stoff für viele Diskussionen. Wie kann man Gene nach Qualität unterscheiden? Kann man so etwas wie die chemische Basenfolge der DNA als Grund dafür nennen, dass wunderschöne, gesunde, starke und intelligente Supermenschen das Land regieren, gottgleich verehrt werden und im Luxus leben, während die Arbeiter in den ärmeren Zirkeln sich die Lunge verätzen, weil in den Fabriken keine Filteranlagen installiert sind? Und ist der gesamte Genpool der Menschheit, die Ausrottung von Krankheiten und der Aufbau einer stabilen, friedlichen Welt nur zu schaffen, in dem "minderwertige Menschen" durch Geringschätzung aussortiert werden, indem sie früher sterben und sie sich nicht fortpflanzen dürfen?


"Kennst du den Geist,
der sich nachts umhertreibt?
Er singt mit dem Regen,
wild und verwegen.
Er trommelt den Takt,
den Takt, den die Freiheit,
nur für ihn bereit hat."


Die Entdeckung, dass die Gesegneten selbst sich nicht fortpflanzen können und dass auch ihre ursprüngliche Entstehung im vergessenen Krieg einen ganz anderen Hintergrund hatte, als der Bevölkerung weiß gemacht werden sollte, setzt dieses Denken einer neuen Zerreißprobe aus. Obwohl Grey, der kleine Fabrikzirkel, der wie der Name schon verrät grau, trist und trostlos ist und mit der vom Smog der Maschinen verseuchten Luft, der Asche auf den Straßen, der hungernden Bevölkerung und den vielen krankheitsverbreitenden Werratten keineswegs ein schöner Ort zum Verweilen und deshalb die Brutstädte des Widerstandes der Spines war, zerstört wurde, sind die Dornen der Rebellion keineswegs bekämpft. Die heftigen Unterschiede in der Bevölkerung waren nicht nur auf Grey beschränkt; die Unzufriedenheit und der Unmut über die Regierung treiben Menschen aller Bevölkerungsschichten und aller Zirkel in die Arme der Rebellen. Doch dass die Spines, die sich die "Wilden, Freien, Echten und Gerechten" nennen und endlich mehr Gerechtigkeit von der Herrschern aus Aventin fordern, vor nichts zurückschrecken um ihre Ziele zu erreichen und in ihrer Zerstörungswut selbst Angst, Schrecken, Tod und Ungerechtigkeiten verbreiten, war schon nach der Bombe aus Band 1 klar. Doch wie viele Dornen selbst in Aventin schon gewachsen sind, wird erst klar, als die blutige Revolution schon durch die Straßen zieht...


"Es ist zu spät. Wir befinden uns bereits in einem Krieg, den wir nicht stoppen können. Der Krieg zwischen Sicherheit und Chaos. Der Krieg zwischen Dornen und Genen. (…) Alles, wofür Hope einst stand, alle Visionen von einer friedvollen Zukunft sind zerstoben wie Sand im Wind. Die Dornen werden täglich mehr. Wir haben ihnen den Kopf abgeschlagen, aber die Blume ist nicht verwelkt, sondern wuchert wie Unkraut und überzieht das Land. Es gilt, Macht zu demonstrieren, und das tut man nicht mit Worten. Nicht mehr. Denn wenn die Feuer einmal brennen, kann man sie nicht mehr löschen."


In diesem Roman werden alle schon aufgebauten Ränke der Welt weiterverwendet, gestärkt und mit neuen Details unterfüttert. Das ist eine große Stärke des Werks, denn anders als in anderen Dystopien befindet sich alles in ständiger Dynamik und Weiterentwicklung und wird nicht nach einer kurzen Aufbauphase als statische Kulisse für viel Handlung genutzt. Der Roman streckt seine Fühler gleichzeitig tiefer in die Gefühlswelt der Charaktere, weiter zurück in die Vergangenheit Hopes, hin zum vergessenen Krieg und der Rolle der Vereinten, weiter hinter die Grenzen von Hope in das Land der Verdammten, tiefer in das kollektive Bewusstsein der Vereinten und verzwickter in die kranke Intrigenwelt der goldenen Hauptstadt der Gesegneten Aventin. Dabei kann man viele Verbindungen zur heutigen Zeit und den erhobenen Zeigefinger in vielerlei Hinsicht klar sehen: die Angst vor Einwanderung Fremder, die Kategorisierung von Menschen, die Ausbeutung des Planeten, zunehmender Erfolg von Populismus und einfachen Lösungen, die Radikalisierung und zunehmende Salonfähigkeit von rassistischen und rechten Ansichten, überfüllte Flüchtlingscamps, der Zwang der "niederen Gene" ihren Status erkennbar unter dem Haaransatz zu tragen, das Berufen der Elite auf die eigene Überlegenheit und das Ausblenden des Leids der anderen, wenn es nur weit genug entfernt ist. Na, klingelt es da? Bei mir hat es auf jeden Fall geklingelt und mit diesem bitteren Beigeschmack der Wahrheit dieser Dystopie ist das Ganze noch schmerzlicher zu lesen.


"Das tut mir Leid, Lark." Die Wut in Wren hatte sich gelegt. "Deswegen sind wir hier." Sie nickte, als würde sie ihn verstehen. "Wir rächen uns bei den Gesegneten für das, was sie uns angetan haben. Wir sind die Wilden. Die Freien. Die Echten. Die Gerechten."
Doch Lark wusste, sie hatte ihn nicht verstanden. Möglicherweise würde sie es auch nie verstehen. Das Böse kannte keine Seiten. Ebenso wenig wie der Tod."


Der Mittelpunkt dieser düsteren Geschichte voll Hoffnung, Andersartigkeit, Ungerechtigkeit und einem Kampf um die Freiheit bilden jedoch die Charaktere. Wieder wird hier die personale Erzählperspektive gewählt, wodurch wir Einblick in mehrere Sichtweisen erhalten. Dabei kommen neue Protagonisten wie zum Beispiel die Rebellen Wren und Moth, der abenteuerlustige Gesegnete Cassian, der eingebildete Cabman Eros oder die beiden Soldaten Mur und Cem, während wir uns von anderen leider verabschieden müssen.
Klar im Fokus stehen hier jedoch wieder Lark und Rain, die hier wieder einiges durchmachen müssen und darüber lernen, was Stärke wirklich bedeutet, wie schwer es ist, das Richtige zu tun und dass es manchmal das Schwierigste auf der Welt ist, sich selbst treu zu bleiben. Doch bevor sie das erkennen tun sie vor allem eines: leiden. Schön ist, dass hier zwar tiefe Gefühle zwischen den beiden anklingen, es hier aber keine breitgetretene Liebesgeschichte gibt, die irgendwie im Vordergrund steht. Die beiden Protagonisten verbindet zwar etwas, das stärker ist als Freundschaft und das können wir auch wunderbar nachfühlen, doch wir bleiben von dem berühmten Gesülze verschont.


"Der Regen hatte nachgelassen, dafür kämpfte der Sturm noch heftiger. "Hörst du nicht?", brüllte Rose gegen das Toben an. "Er ruft nach ihr" (…) "Sie sollte nicht eingesperrt sein", stimmte Rain ihr zu und tief im Inneren spürte sie, dass es das Richtige war, loszulassen. Vorsichtig öffnete sie die Urne und hob sie durch das Blätterdach. Die Asche wurde aus dem Gefäß gezogen und stob ich die Luft. Rain sah zu, wie die schwarzen Körner vom Wind empfangen und weggerissen wurden. Eine kleine graue Wolke, die um die Weide tanzte. Höher, dann wieder tiefer und sich schließlich aufteilte und in alle Richtungen davongetragen wurde. Sie spürte Roses Hand, die nach ihrer griff und sie festhielt. "
Er trägt Storms Seele um die Welt. Wohin sie will. Spürst du es?"


Rain ist eine starke Protagonistin, die für uns in überspitztem Maße das durchlebt, was wir alle irgendwann durchmachen: Gefangen zwischen den beiden Polen von dem gesetzlosen Ghost Rain und der gesegneten Prinzessin Rajana muss sie sich entscheiden, wer sie sein will und wer sie sein kann. Tief im Herzen schlummert die tiefe Trauer um ihre Mutter Storm und ein Hass auf die Spines und das System, doch um des Friedens willen kann sie dem nicht nachgeben, auch wenn es ihr schwer fällt. Denn trotz ihrer Unsicherheit, ihrer Trauer und ihrer Identitätskrise ist sie jedoch vor allem eines: eine Kämpferin, die für ihre Prinzipien einsteht und versucht, das Richtige zu tun. Durch ihre ehrliche und aufrichtige Art wurde ich sehr berührt und habe diese Frau, die im Herzen ein Unwetter ist, sich nach außen hin jedoch der Verantwortung einer Prinzessin stellen muss, fest ins Herz geschlossen.


"Ich vermisse dich so sehr, Mom.
ei stark mein Herz, hörte sie Storms Stimme in ihrem Kopf. Egal wo du bist, bin auch ich. Wir sind eins. Sturm und Regen. Ein unbezwingbares Unwetter."


Lark leidet unter seiner Herabstufung auf eine F3 nach dem er durch die Folter Bolts seine Beine nicht mehr benutzen kann. Als Vertrauter Rains wurde ihm und seiner Familie zwar eine Wohnstatt außerhalb der giftigen Dämpfen Greys zugewiesen, um die gesundheitliche Versorgung für seine kleine Schwester Rose - eine kranke G3 - zu gewährleisten, ist er wieder gezwungen, die zu verraten die er liebt und gegen alles zu handeln, was er selbst denkt. Nicht zuletzt wieder gegen die junge Frau, die so anders als alle anderen ist und mit der er abgemacht hat, dass sie aufeinander aufpassen - Rain. Wir können hier wieder in sein Denken und Handeln einsteigen und verstehen, wie sehr er von seiner Vergangenheit und der Dunkelheit Greys geprägt wurde und sich als Familienmensch um seine kranke Schwester kümmert, die er über alles liebt, auch wenn er für sie auf dunkle Deals eingehen muss. Er ist motiviert, stark und bereit, alles für die zu tun, die er liebt: Koste es, was es wolle. Und dafür hat auch er einen Platz in meinem Herzen.


"Ich war so dumm und naiv... Ich habe so viel falsch gemacht." Ja, er hatte sich verändert. Aber dumm und naiv hatte sie ihn nicht in Erinnerung. In ihrem Herzen trug sie das Bild eine mutigen Jungen, der für seine Schwester alles tun würde. Die Welt war im stetigen Wandel und die verschiedenen Seiten so verwirrend, dass man schnell den Überblick verlor. Er aber kämpfte für die, die er liebte. Das war nicht kompliziert, nicht verlogen und nicht naiv. Es war das einzig Richtige!"


Neben beiden Hauptprotagonisten bezaubern uns noch eine ganze Reihe super gezeichneter Nebencharaktere, die alle einen schönen Teil der Geschichte einnehmen. Mein Liebling ist mit Abstand Rose, die kleine, süße Schwester von Lark. Mit ihrer herzlichen, leicht schrägen und unschlagbar positiven Art ist sie einfach liebenswert. Obwohl sie es nicht leicht hat, lässt sie den Kopf nicht hängen und ihre übersprudelnde Fantasie zauberte mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Auch Pi, Rains kleine Fuchsmanguste, ist mir sehr ans Herz gewachsen, genau wie Rains chaotischer Party-Bruder Morpheus, der sich lieber in Exzesse stürzt, als sich mit seinen Problemen zu beschäftigen. Sie alle vervollkommnen das tiefgründige, komplexe Bild eines gespaltenen, verunsicherten Landes in einer Krise, die uns gar nicht so weit entfernt scheint.


"Immerhin haben wir uns noch", flüsterte Rain und kraulte die Manguste hinter den Ohren. Dank Cassiopaio fühlte sie sich gleich ein bisschen weniger einsam. Silk folgte und versuchte ebenfalls Rains Aufmerksamkeit zu erhaschen. Das Knurren der Fuchsmanguste ignorierend legte sich der Hase neben ihre Beine und presste seinen warmen Körper an ihren Oberschenkel. Ob das Seidenhäschen Daphne vermisste? "Rarrrr."
"Lass ihn, Pi. Er ist wie wir... Einer der übrig geblieben ist."


Einmal angelaufen scheint die Handlung schier loszurennen, als könne sie es gar nicht mehr erwarten, endlich bei einem glücklichen Ende angelangt zu sein. Zu diesem Eindruck trägt auch der sehr lebhafte Schreibstil seinen Teil bei. Wie bei vielen Jugendbüchern ist er recht schlicht gehalten, schafft es jedoch immer auf erstaunliche Art, Szenen zu raffen und immer wieder um 180 Grad zu drehen, sodass man sich nie zurücklehnen kann und es nie langweilig wird. Ganz besonders schätze ich die Art und Weise, wie Caroline Brinkmann es immer wieder schafft, mit ein paar Worten genau das auszudrücken, was man schon immer gedacht hat, es aber nie passend artikulieren konnte. So bin ich über eine krasse Vielzahl an zitierungswürdigen Passagen gestoßen, wie ihr vielleicht auch an der mit Zitaten überschwemmten Rezi erkennen könnt


"Wir sind die Wilden, die sich gegen die festgefahrene Gesellschaft auflehnen. Wir sind die Freien, die sich gegen die Unterdrückung durch die falschen Menschen wehren. Wir sind die Echten, die Lügen entlarven. Wir sind die Gerechten, die dem Unrecht entgegentreten."
Er trug schlichte Kleidung, und über seinen Schultern lag ein Banner der Rebellion.
"Wild. Frei. Echt. Gerecht.", schallte es aus dem Publikum."


Das Netz um Rain und Lark zieht sich im Laufe der Handlung immer weiter zu, die Spannung steigt konstant an und die Handlung gipfelt auf ein Finale zu, als Hope in einem inneren und äußeren Kampf entzweit da liegt und ein glückliches Ende denkbar weit entfernt scheint. Mit einer Menge krasser Wendungen und Enthüllungen steigen wir in den letzten Kampf ein, der mich sprachlos, wütend und hilflos machte, so sehr fieberte ich mit. Es war spannend, aufwühlend und nervenzerreißend und ich konnte kaum atmen - man weiß nicht, was als Nächstes geschieht, es ist absolut nicht vorhersehbar. Dann kommt das Ende und es ist so bittersüß, dass man gleichzeitig hasst und liebt. Es ist offen und abgeschlossen zugleich, irgendwie verständlich und doch skurril, traurig aber doch erlösend. Allgemein das einzig stimmige Ende für diese berührende, wahrhaftige, intelligente Science-Fiction-Geschichte, die so fesselnd war wie kaum eine andere Dystopie zuvor!



Fazit:


Dieses Finale vertieft die Problematik des ersten Teiles noch und bringt alles auf berührende, wahrhaftige und intelligente Weise auf die Spitze: Liebe, Opfer, Leid, Freude, die Suche nach der eigenen Rolle, Trauer, Bewältigung, Krieg, Verantwortung, Verlust, Vertrauen, Freundschaft und die Entscheidung, für das Richtige zu kämpfen.

Eine düstere Geschichte voll Hoffnung, Andersartigkeit, Ungerechtigkeit und einem Kampf um Freiheit, die das komplexe Bild eines gespaltenen, verunsicherten Landes in einer Krise illustriert, die uns gar nicht so weit entfernt scheint.

Veröffentlicht am 31.10.2018

Eine düstere Geschichte voll Hoffnung, Andersartigkeit, Ungerechtigkeit und einem Kampf um Freiheit!

Die Vereinten
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"Gold zu Asche."

Schon "Die Perfekten" hat mich überrascht und begeistert, doch mit "Die Vereinten" hat Caroline Brinkmann das Beste vieler bekannter Dystopien (ein bisschen von "Legend" von Marie Lu, ...

"Gold zu Asche."

Schon "Die Perfekten" hat mich überrascht und begeistert, doch mit "Die Vereinten" hat Caroline Brinkmann das Beste vieler bekannter Dystopien (ein bisschen von "Legend" von Marie Lu, ein wenig von den berühmten "Hunger Games" von Susanne Collins, ein Hauch von "Die rote Königin" von Victoria Aveyard und noch ganz viel Neues) vereint und gut ausgearbeitet und nachvollziehbar in einem mitreißenden, spannenden und gefühlsbetonten Epos auf den Punkt gebracht. Die Handlung verwirrt, verstört, verzaubert wie die großen Reihen der Dystopien - jedoch ohne diese kopieren zu wollen. Obwohl unsere Wirklichkeit (noch) nicht dem entspricht, was hier beschrieben wird, kann man sich doch zumindest vorstellen, dass wir uns irgendwann dorthin entwickeln könnten – und das ist eine unbehagliche Vorstellung, die genau das erfüllt, was ich mir von einer guten Dystopie erwarte: sie geht ins Herz, lässt die Hände zittern und das Hirn rattern.

„Unwetter haben keine Angst.
Unwetter toben.
Unwetter stürmen.
Unwetter weichen nie zurück.“

Schon im Cover sieht man, dass die Geschichte "erwachsen" geworden ist. Insgesamt ist das Cover sehr im Stil des ersten Teiles gehalten, wodurch die Zusammengehörigkeit der Dilogie sehr gut erkennbar wird. Anstatt in grellem Pink ist der Titel hier in strahlendem Grün gehalten, das zu den einnehmenden, gleichfarbigen Augen des Gesichts passt, welches das gesamte Cover ausfüllt. Während das Mädchen in Band 1 mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze aussah, als wolle sie sich verstecken und die strahlendgrünen Augen mit dem Titel die einzigen Farbklecke auf dem sonst grauen Hintergrund waren, sieht man hier die leuchtendroten Haare, die das Gesicht umspielen. Schon auf den ersten Blick wird hier also gezeigt: aus dem unscheinbaren, abgetauchten Mädchen Rain aus den Aschewolken von Greys nie erlöschenden Schornsteinen ist die strahlende Gesegnete und Prinzessin Rajana geworden, die jedoch genauso zu kämpfen hat, wie es Rain tun musste. Der Unterschied: sie kämpft jetzt nicht nur im Dunkeln für sich sondern muss im Licht der Öffentlichkeit für ihre Lieben und das gesamte Land Hope kämpfen, ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren. In diesem Sinne finde ich die Gestaltung mehr als passend und zusammen mit dem farbig abgestimmten Lesebändchen ergibt sich eine stimmige Konstellation.

Erster Satz: „Du wirst deinen Job lieben“, hatten sie gesagt."

Mit diesem Satz beginnt der erste von vier Teilen, in die die Geschichte geteilt ist: "Die Verlorenen" ist der erste Abschnitt betitelt und führt uns ganz diesem Titel folgend zurück nach Hope, wo alle Beteiligten ihre Wunden lecken, Verstorbene betrauern und doch gleichzeitig wissen, dass die Rebellion noch lange nicht vorbei ist. Während Rain noch um ihre Mutter Storm und ihre Freundin Andromeda trauert und den Verlust ihres Zirkels, den Verlust ihrer Heimat Grey hinnehmen muss, der von BoomBots in Schutt und Asche gelegt wurde, zieht ihr Vater Tiberius schon die nächsten Fäden einer Intrige, die ihn, den mächtigen Protektor, auf den Thron von Hope bringen soll. Vom Ghost zur Gesegneten geworden verkörpert sie eine unmögliche Hoffnung, die sie zur wertvollen Verbündeten werden lässt. Doch wem kann sie in diesem eiskalten, kalkulierenden Käfig aus Macht vertrauen? Ihrem machthungrigen Vater Tiberius, dem attraktiven Cassian, der sie mit neuen Geheimnissen über den vergessenen Krieg lockt und was ist mit Lark, dem sie trotz seines Verrats ihr Herz geschenkt hat?
Denn nicht nur Rain gerät wieder unter die Räder des Kampfes um Macht und Ansehen, auch Lark wird zunehmend ein Spielball zwischen Rebellion und Machterhaltung des Regimes, zwischen skrupellosen, verzweifelten Rebellen und mächtigen, eiskalten Gesegneten. Nachdem er sowohl die Spines als auch die Sentinal im letzten Kampf verraten hat, ist er für beide Seiten vor allem eines: der Verräter. Von Schuld und Trauer zerfressen will er nichts mehr als endlich Frieden und einen sicheren Platz für ihn, seine geliebte Schwester Rose und seine Familie. Doch solange Rose als kranke Drei vom Schutz und Wohlwollen der gesegneten abhängig ist, ist Lark verletzlich und der Willkür ausgeliefert.
Doch während sich sowohl Lark als auch Rain wieder in das gefährliche Spiel um ein Land am Rand der Rebellion begeben, taucht außerhalb der Mauer eine neue Gefahr auf, mit der keiner gerechnet hat - eine lang ignorierte Bedrohung aus der Zeit des vergessenen Krieges…


"Ihr wartet nicht länger darauf, dass sich jemand aus der goldenen Stadt um euch kümmert und euch rettet. Niemand wird kommen, und nichts wird sich ändern. Außer wir ändern es. Heute legen wir die Dornen an und kämpfen. Denn heute ist der Tag der Spines. Der Tag der Rebellion." (…) "Sie wollen kämpfen?", flüsterte Cassian. "Das wird ein Massaker. Sie werden es niemals schaffen."
"Das ist kein Kampf", flüsterte Rain vor Panik wie erstarrt, als sie verstand.
"Das ist ein Selbstmordkommando."


Sehr gerne habe ich mich wieder in die Irrungen und Wirrungen Hopes ziehen lassen, auch wenn ich zugeben muss, zu Beginn sehr schlecht in die Geschichte reingekommen zu sein. Zu viele Personen, mit zu vielen Motiven, Hintergründen, Intrigen und Geheimnissen warten darauf, dass man sich ihrer annimmt, sich an sie erinnert und sich mit ihnen in das nächste Abenteuer stürzt. Aufgrund der Komplexität des ersten Teils, der immerhin schon ein Jahr zurücklag, musste ich erst nochmal in diesen hineinlesen, bevor ich mich dieser Geschichte widmen konnte. Neben der sehr hilfreichen Übersicht über die Stadtzirkel des Landes Hope hätte mir hier eine kurze Personenübersicht (gerade über die verschiedenen Gesegneten mit all ihren exotischen Namen und Positionen) sehr geholfen!


"Wie mutig bist du, Sonnenschein?"
"So mutig wie das Herz rät und die Klugheit erlaubt", antwortete Rain. Das hatte Storm zum Thema Mut gesagt.
"Und was raten dir Herz und Verstand?", fragte Cassian und drehte sich zu ihr um. In seinen dunkelbraunen Augen leuchtete die Lust nach Abenteuer und sie spürte, wie die Flamme übersprang.
"Willst du wissen, was hinter der Mauer ist?"


Als ich es geschafft hatte, mich in dem Wirrwarr aus Intrigen und Namen zurecht zu finden, konnte ich mich ganz auf die Geschichte einlassen und bin wieder sehr gerne in die ungerechte Welt eingestiegen, in der die Menschen nach der Qualität ihrer Gene ihren Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen. Nachdem wir in Band 1 vor allem ausführlich die Welt der unteren Genklassen, den Zweien und Dreien, denen der Zugang zu genug Nahrung, sauberem Trinkwasser, Medikamenten und Bildung versperrt bleibt, erfahren haben, widmen wir uns hier erstmal den Gesegneten, den perfekten Herrschern Aventins. Die goldene Hauptstadt, in der die Reichen, Schönen und Privilegierten wohnen und von dort aus regieren erinnerte mich schon im ersten Teil an das "Kapitol" aus "Die Tribute von Panem". Auch die verschiedenen Zirkel, die jeweils für einen bestimmten Bereich zuständig sind und dementsprechend benannt wurden, sind den "Distrikten" sehr ähnlich. Neben der goldene Hauptstadt der Gesegneten und Begabten, den landwirtschaftlich geprägten Gebieten wie Green oder Azure, dem reichen Kultursektor Ruby, dem Techniksektor Silver, den Minenzirkeln Pitch, dem Wissenschaftszentrum White Pearl und dem Ausbildungsort der Sentinal Black Shell, blicken wir hier jedoch auch über den Tellerrand von Hope hinaus auf eine neue Spezies, die sich "die Vereinten" nennt. Doch was sind sie wirklich: Bedrohung, Verbündete, Nachbarn, Feind oder Freund?


"Wir kommen.
Wir helfen.
Wir sind eins.
Nein, dachte Lark. Ich bin Lark.
Du bist wir.
Wir sind du
Ich bin ich. Lark schüttelte den Kopf.
Noch... sagten die Stimmen."


Die Idee mit der Unterteilung nach Genen, also das Anstreben einer Welt, in der Zweien und Dreien ausgestorben und alle ein perfektes Genmaterial vorzuweisen haben, hat mich in Band 1 schon fasziniert. Denn diese Idee ist evolutionsbiologisch eigentlich sinnvoll und auch gut erklärt, bietet aber vor allem Stoff für viele Diskussionen. Wie kann man Gene nach Qualität unterscheiden? Kann man so etwas wie die chemische Basenfolge der DNA als Grund dafür nennen, dass wunderschöne, gesunde, starke und intelligente Supermenschen das Land regieren, gottgleich verehrt werden und im Luxus leben, während die Arbeiter in den ärmeren Zirkeln sich die Lunge verätzen, weil in den Fabriken keine Filteranlagen installiert sind? Und ist der gesamte Genpool der Menschheit, die Ausrottung von Krankheiten und der Aufbau einer stabilen, friedlichen Welt nur zu schaffen, in dem "minderwertige Menschen" durch Geringschätzung aussortiert werden, indem sie früher sterben und sie sich nicht fortpflanzen dürfen?


"Kennst du den Geist,
der sich nachts umhertreibt?
Er singt mit dem Regen,
wild und verwegen.
Er trommelt den Takt,
den Takt, den die Freiheit,
nur für ihn bereit hat."


Die Entdeckung, dass die Gesegneten selbst sich nicht fortpflanzen können und dass auch ihre ursprüngliche Entstehung im vergessenen Krieg einen ganz anderen Hintergrund hatte, als der Bevölkerung weiß gemacht werden sollte, setzt dieses Denken einer neuen Zerreißprobe aus. Obwohl Grey, der kleine Fabrikzirkel, der wie der Name schon verrät grau, trist und trostlos ist und mit der vom Smog der Maschinen verseuchten Luft, der Asche auf den Straßen, der hungernden Bevölkerung und den vielen krankheitsverbreitenden Werratten keineswegs ein schöner Ort zum Verweilen und deshalb die Brutstädte des Widerstandes der Spines war, zerstört wurde, sind die Dornen der Rebellion keineswegs bekämpft. Die heftigen Unterschiede in der Bevölkerung waren nicht nur auf Grey beschränkt; die Unzufriedenheit und der Unmut über die Regierung treiben Menschen aller Bevölkerungsschichten und aller Zirkel in die Arme der Rebellen. Doch dass die Spines, die sich die "Wilden, Freien, Echten und Gerechten" nennen und endlich mehr Gerechtigkeit von der Herrschern aus Aventin fordern, vor nichts zurückschrecken um ihre Ziele zu erreichen und in ihrer Zerstörungswut selbst Angst, Schrecken, Tod und Ungerechtigkeiten verbreiten, war schon nach der Bombe aus Band 1 klar. Doch wie viele Dornen selbst in Aventin schon gewachsen sind, wird erst klar, als die blutige Revolution schon durch die Straßen zieht...


"Es ist zu spät. Wir befinden uns bereits in einem Krieg, den wir nicht stoppen können. Der Krieg zwischen Sicherheit und Chaos. Der Krieg zwischen Dornen und Genen. (…) Alles, wofür Hope einst stand, alle Visionen von einer friedvollen Zukunft sind zerstoben wie Sand im Wind. Die Dornen werden täglich mehr. Wir haben ihnen den Kopf abgeschlagen, aber die Blume ist nicht verwelkt, sondern wuchert wie Unkraut und überzieht das Land. Es gilt, Macht zu demonstrieren, und das tut man nicht mit Worten. Nicht mehr. Denn wenn die Feuer einmal brennen, kann man sie nicht mehr löschen."


In diesem Roman werden alle schon aufgebauten Ränke der Welt weiterverwendet, gestärkt und mit neuen Details unterfüttert. Das ist eine große Stärke des Werks, denn anders als in anderen Dystopien befindet sich alles in ständiger Dynamik und Weiterentwicklung und wird nicht nach einer kurzen Aufbauphase als statische Kulisse für viel Handlung genutzt. Der Roman streckt seine Fühler gleichzeitig tiefer in die Gefühlswelt der Charaktere, weiter zurück in die Vergangenheit Hopes, hin zum vergessenen Krieg und der Rolle der Vereinten, weiter hinter die Grenzen von Hope in das Land der Verdammten, tiefer in das kollektive Bewusstsein der Vereinten und verzwickter in die kranke Intrigenwelt der goldenen Hauptstadt der Gesegneten Aventin. Dabei kann man viele Verbindungen zur heutigen Zeit und den erhobenen Zeigefinger in vielerlei Hinsicht klar sehen: die Angst vor Einwanderung Fremder, die Kategorisierung von Menschen, die Ausbeutung des Planeten, zunehmender Erfolg von Populismus und einfachen Lösungen, die Radikalisierung und zunehmende Salonfähigkeit von rassistischen und rechten Ansichten, überfüllte Flüchtlingscamps, der Zwang der "niederen Gene" ihren Status erkennbar unter dem Haaransatz zu tragen, das Berufen der Elite auf die eigene Überlegenheit und das Ausblenden des Leids der anderen, wenn es nur weit genug entfernt ist. Na, klingelt es da? Bei mir hat es auf jeden Fall geklingelt und mit diesem bitteren Beigeschmack der Wahrheit dieser Dystopie ist das Ganze noch schmerzlicher zu lesen.


"Das tut mir Leid, Lark." Die Wut in Wren hatte sich gelegt. "Deswegen sind wir hier." Sie nickte, als würde sie ihn verstehen. "Wir rächen uns bei den Gesegneten für das, was sie uns angetan haben. Wir sind die Wilden. Die Freien. Die Echten. Die Gerechten."
Doch Lark wusste, sie hatte ihn nicht verstanden. Möglicherweise würde sie es auch nie verstehen. Das Böse kannte keine Seiten. Ebenso wenig wie der Tod."


Der Mittelpunkt dieser düsteren Geschichte voll Hoffnung, Andersartigkeit, Ungerechtigkeit und einem Kampf um die Freiheit bilden jedoch die Charaktere. Wieder wird hier die personale Erzählperspektive gewählt, wodurch wir Einblick in mehrere Sichtweisen erhalten. Dabei kommen neue Protagonisten wie zum Beispiel die Rebellen Wren und Moth, der abenteuerlustige Gesegnete Cassian, der eingebildete Cabman Eros oder die beiden Soldaten Mur und Cem, während wir uns von anderen leider verabschieden müssen.
Klar im Fokus stehen hier jedoch wieder Lark und Rain, die hier wieder einiges durchmachen müssen und darüber lernen, was Stärke wirklich bedeutet, wie schwer es ist, das Richtige zu tun und dass es manchmal das Schwierigste auf der Welt ist, sich selbst treu zu bleiben. Doch bevor sie das erkennen tun sie vor allem eines: leiden. Schön ist, dass hier zwar tiefe Gefühle zwischen den beiden anklingen, es hier aber keine breitgetretene Liebesgeschichte gibt, die irgendwie im Vordergrund steht. Die beiden Protagonisten verbindet zwar etwas, das stärker ist als Freundschaft und das können wir auch wunderbar nachfühlen, doch wir bleiben von dem berühmten Gesülze verschont.


"Der Regen hatte nachgelassen, dafür kämpfte der Sturm noch heftiger. "Hörst du nicht?", brüllte Rose gegen das Toben an. "Er ruft nach ihr" (…) "Sie sollte nicht eingesperrt sein", stimmte Rain ihr zu und tief im Inneren spürte sie, dass es das Richtige war, loszulassen. Vorsichtig öffnete sie die Urne und hob sie durch das Blätterdach. Die Asche wurde aus dem Gefäß gezogen und stob ich die Luft. Rain sah zu, wie die schwarzen Körner vom Wind empfangen und weggerissen wurden. Eine kleine graue Wolke, die um die Weide tanzte. Höher, dann wieder tiefer und sich schließlich aufteilte und in alle Richtungen davongetragen wurde. Sie spürte Roses Hand, die nach ihrer griff und sie festhielt. "
Er trägt Storms Seele um die Welt. Wohin sie will. Spürst du es?"


Rain ist eine starke Protagonistin, die für uns in überspitztem Maße das durchlebt, was wir alle irgendwann durchmachen: Gefangen zwischen den beiden Polen von dem gesetzlosen Ghost Rain und der gesegneten Prinzessin Rajana muss sie sich entscheiden, wer sie sein will und wer sie sein kann. Tief im Herzen schlummert die tiefe Trauer um ihre Mutter Storm und ein Hass auf die Spines und das System, doch um des Friedens willen kann sie dem nicht nachgeben, auch wenn es ihr schwer fällt. Denn trotz ihrer Unsicherheit, ihrer Trauer und ihrer Identitätskrise ist sie jedoch vor allem eines: eine Kämpferin, die für ihre Prinzipien einsteht und versucht, das Richtige zu tun. Durch ihre ehrliche und aufrichtige Art wurde ich sehr berührt und habe diese Frau, die im Herzen ein Unwetter ist, sich nach außen hin jedoch der Verantwortung einer Prinzessin stellen muss, fest ins Herz geschlossen.


"Ich vermisse dich so sehr, Mom.
ei stark mein Herz, hörte sie Storms Stimme in ihrem Kopf. Egal wo du bist, bin auch ich. Wir sind eins. Sturm und Regen. Ein unbezwingbares Unwetter."


Lark leidet unter seiner Herabstufung auf eine F3 nach dem er durch die Folter Bolts seine Beine nicht mehr benutzen kann. Als Vertrauter Rains wurde ihm und seiner Familie zwar eine Wohnstatt außerhalb der giftigen Dämpfen Greys zugewiesen, um die gesundheitliche Versorgung für seine kleine Schwester Rose - eine kranke G3 - zu gewährleisten, ist er wieder gezwungen, die zu verraten die er liebt und gegen alles zu handeln, was er selbst denkt. Nicht zuletzt wieder gegen die junge Frau, die so anders als alle anderen ist und mit der er abgemacht hat, dass sie aufeinander aufpassen - Rain. Wir können hier wieder in sein Denken und Handeln einsteigen und verstehen, wie sehr er von seiner Vergangenheit und der Dunkelheit Greys geprägt wurde und sich als Familienmensch um seine kranke Schwester kümmert, die er über alles liebt, auch wenn er für sie auf dunkle Deals eingehen muss. Er ist motiviert, stark und bereit, alles für die zu tun, die er liebt: Koste es, was es wolle. Und dafür hat auch er einen Platz in meinem Herzen.


"Ich war so dumm und naiv... Ich habe so viel falsch gemacht." Ja, er hatte sich verändert. Aber dumm und naiv hatte sie ihn nicht in Erinnerung. In ihrem Herzen trug sie das Bild eine mutigen Jungen, der für seine Schwester alles tun würde. Die Welt war im stetigen Wandel und die verschiedenen Seiten so verwirrend, dass man schnell den Überblick verlor. Er aber kämpfte für die, die er liebte. Das war nicht kompliziert, nicht verlogen und nicht naiv. Es war das einzig Richtige!"


Neben beiden Hauptprotagonisten bezaubern uns noch eine ganze Reihe super gezeichneter Nebencharaktere, die alle einen schönen Teil der Geschichte einnehmen. Mein Liebling ist mit Abstand Rose, die kleine, süße Schwester von Lark. Mit ihrer herzlichen, leicht schrägen und unschlagbar positiven Art ist sie einfach liebenswert. Obwohl sie es nicht leicht hat, lässt sie den Kopf nicht hängen und ihre übersprudelnde Fantasie zauberte mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Auch Pi, Rains kleine Fuchsmanguste, ist mir sehr ans Herz gewachsen, genau wie Rains chaotischer Party-Bruder Morpheus, der sich lieber in Exzesse stürzt, als sich mit seinen Problemen zu beschäftigen. Sie alle vervollkommnen das tiefgründige, komplexe Bild eines gespaltenen, verunsicherten Landes in einer Krise, die uns gar nicht so weit entfernt scheint.


"Immerhin haben wir uns noch", flüsterte Rain und kraulte die Manguste hinter den Ohren. Dank Cassiopaio fühlte sie sich gleich ein bisschen weniger einsam. Silk folgte und versuchte ebenfalls Rains Aufmerksamkeit zu erhaschen. Das Knurren der Fuchsmanguste ignorierend legte sich der Hase neben ihre Beine und presste seinen warmen Körper an ihren Oberschenkel. Ob das Seidenhäschen Daphne vermisste? "Rarrrr."
"Lass ihn, Pi. Er ist wie wir... Einer der übrig geblieben ist."


Einmal angelaufen scheint die Handlung schier loszurennen, als könne sie es gar nicht mehr erwarten, endlich bei einem glücklichen Ende angelangt zu sein. Zu diesem Eindruck trägt auch der sehr lebhafte Schreibstil seinen Teil bei. Wie bei vielen Jugendbüchern ist er recht schlicht gehalten, schafft es jedoch immer auf erstaunliche Art, Szenen zu raffen und immer wieder um 180 Grad zu drehen, sodass man sich nie zurücklehnen kann und es nie langweilig wird. Ganz besonders schätze ich die Art und Weise, wie Caroline Brinkmann es immer wieder schafft, mit ein paar Worten genau das auszudrücken, was man schon immer gedacht hat, es aber nie passend artikulieren konnte. So bin ich über eine krasse Vielzahl an zitierungswürdigen Passagen gestoßen, wie ihr vielleicht auch an der mit Zitaten überschwemmten Rezi erkennen könnt


"Wir sind die Wilden, die sich gegen die festgefahrene Gesellschaft auflehnen. Wir sind die Freien, die sich gegen die Unterdrückung durch die falschen Menschen wehren. Wir sind die Echten, die Lügen entlarven. Wir sind die Gerechten, die dem Unrecht entgegentreten."
Er trug schlichte Kleidung, und über seinen Schultern lag ein Banner der Rebellion.
"Wild. Frei. Echt. Gerecht.", schallte es aus dem Publikum."


Das Netz um Rain und Lark zieht sich im Laufe der Handlung immer weiter zu, die Spannung steigt konstant an und die Handlung gipfelt auf ein Finale zu, als Hope in einem inneren und äußeren Kampf entzweit da liegt und ein glückliches Ende denkbar weit entfernt scheint. Mit einer Menge krasser Wendungen und Enthüllungen steigen wir in den letzten Kampf ein, der mich sprachlos, wütend und hilflos machte, so sehr fieberte ich mit. Es war spannend, aufwühlend und nervenzerreißend und ich konnte kaum atmen - man weiß nicht, was als Nächstes geschieht, es ist absolut nicht vorhersehbar. Dann kommt das Ende und es ist so bittersüß, dass man gleichzeitig hasst und liebt. Es ist offen und abgeschlossen zugleich, irgendwie verständlich und doch skurril, traurig aber doch erlösend. Allgemein das einzig stimmige Ende für diese berührende, wahrhaftige, intelligente Science-Fiction-Geschichte, die so fesselnd war wie kaum eine andere Dystopie zuvor!



Fazit:


Dieses Finale vertieft die Problematik des ersten Teiles noch und bringt alles auf berührende, wahrhaftige und intelligente Weise auf die Spitze: Liebe, Opfer, Leid, Freude, die Suche nach der eigenen Rolle, Trauer, Bewältigung, Krieg, Verantwortung, Verlust, Vertrauen, Freundschaft und die Entscheidung, für das Richtige zu kämpfen.

Eine düstere Geschichte voll Hoffnung, Andersartigkeit, Ungerechtigkeit und einem Kampf um Freiheit, die das komplexe Bild eines gespaltenen, verunsicherten Landes in einer Krise illustriert, die uns gar nicht so weit entfernt scheint.

Veröffentlicht am 11.10.2018

Eine Unterhaltungsparodie auf höchstem Niveau!

Das Känguru-Manifest (Die Känguru-Werke 2)
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Sie sind wieder da - das kommunistische Känguru und der stoische Kleinkünstler!
Marc-Uwe Kling lebt mit einem Känguru zusammen. Das Känguru ist Kommunist und steht total auf Nirvana. Die Känguru-Chroniken ...

Sie sind wieder da - das kommunistische Känguru und der stoische Kleinkünstler!
Marc-Uwe Kling lebt mit einem Känguru zusammen. Das Känguru ist Kommunist und steht total auf Nirvana. Die Känguru-Chroniken berichten von den Abenteuern und Wortgefechten des Duos. Und so bekommen wir endlich Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit: War das Känguru wirklich beim Vietcong? Und wieso ist es schnapspralinensüchtig? Könnte man die Essenz des Hegelschen Gesamtwerkes in eine SMS packen? Und wer ist besser: Bud Spencer oder Terence Hill?
Auf der Jagd nach dem höchst verdächtigen Pinguin rasen sie durch die ganze Welt. Spektakuläre Enthüllungen! Skandale! Intrigen! Ein Mord, für den sich niemand interessiert! Eine Verschwörung auf niedrigster Ebene! Ein völlig abstruser Weltbeherrschungsplan! Mit Spaß, Spannung und Schnapspralinen...


"Ein Idiot in Uniform ist immer noch ein Idiot"

Nachdem das Hören der "Känguru-Chroniken" mein Leben nachhaltig verändert hat - so ertappe ich mich manchmal zum Beispiel selbst dabei, wie ich ganz in Känguru Manier sage: "Das darf doch nicht Warzenschwein!" oder mir auch mal "Rück mal´n Stück" rausrutscht (mein persönlicher Tipp für die Geschichte also: Gleich im Doppelpack kaufen und der besten Freundin/ dem besten Freund zum Hören geben, damit man jemanden hat, mit dem man darüber reden kann und der die ständigen Anspielungen versteht, wenn sie im Alltag allfallartig aus einem herausbrechen), musste ich natürlich auch unbedingt das Manifest lesen. Und was soll ich sagen. Es bekommt auf jeden Fall den "Witzig"-Stempel des Kängurus. Auch wenn wir es hier mit eher düsterem Humor zu tun haben, immer mehr Anklänge von dystopischen Elementen zu finden sind und politisches Kabarett die Situationskomik überwiegt, steht das Manifest den Chroniken an Witzigkeit kein bisschen nach.

Die Geschichte beginnt mit einem ausführlichen Zitat aus dem "Kommunistischen Manifest", wobei zentrale Begriffe durch das Wort "Känguru" ersetzt sind. So kommt es zu dem bekannten Zitat: "Ein Känguru geht um in Europa." Und angesichts des enormen Erfolgs, den Marc-Uwe Kling mit seinem Känguru erzielt hat, ist das wohl gar nicht so aus der Luft gegriffen. In meinem Kopf geht auf jeden Fall ein Känguru um - ich wurde nachhaltig mit Insiderwitzen infiziert und konnte auch
diesmal angesichts der unglaublichen Situationen, die hier zustande kommen und des schonungslosen schwarzen Humors, nicht anders, als immer wieder aus tiefster Seele loslachen und damit äußerst skeptische Blicke meines Umfeldes auf mich zu ziehen.

Anders als bei Band 1 liegt hier der Schwerpunkt nicht auf den wirklich wichtigen Fragen des Lebens wie zum Beispiel: warum verdirbt Schmelzkäse nicht, warum ist das Gespenst des Kommunismus so schüchtern und weshalb haben Pferde eigentlich nicht die Weltherrschaft an sich gerissen? Stattdessen kümmert sich das Manifest mehr um ein mysteriöses Ministerium für Produktivität, das Ausländer in "produktiv" und "unproduktiv" einteilt, um Plakate mit Slogans wie "Ich arbeite gern - für meinen Konzern" oder "Ich schwimm bis nach Birma - für meine Firma" oder mit der Gründung einer Anti-Terror-Organisation, die Anti-Terror-Anschläge auf eben diese Plakate verübt. So übermalt "Das asoziale Netzwerk", wie es bald heißt, die Slogans mit Alternativen wie zum Beispiel: "Wollt ihr den totalen Arbeitsplatz?". Ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist auch wieder die Eckkneipe "Bei Herta", die jetzt "Tefkabh" heißt - "The eckkneipe formerly known as bei Herta". Da diese ehemalige Eckkneipe im Verlauf von "Das Känguru-Manifest" noch mehrfach den Besitzer wechseln wird - für kurze Zeit wird sie unter anderem "Hafen der digitalen Boheme" heißen -, erzählt der running gag auch etwas über Gentrifizierung und Verdrängung im Kiez.


Marc-Uwe: "Das ist doch irgendwie bemerkenswert. ... Im Realsozialismus wurden Mauern gebaut, um die Leute drinnen zu halten, im Kapitalismus werden Mauern gebaut, um die Leute draußen zu halten."
Känguru: "Aber in beiden Fällen ist es ein Armutszeugnis, das die Leute offensichtlich nicht da hin dürfen, wo sie hinwollen, und nicht da sein wollen, wo sie sind."


Ihr seht also, es geht hier eher um die großen politischen Fragen und eine knallharte und schonungslose Sozial-, Politik- und Kapitalismuskritik kommt mehr durch als in Band 1. Auch wenn Kinder dieser Geschichte bestimmt viele witzigen Stellen abgewinnen können, sind die Witze vor allem für Erwachsene geschrieben, denn gewisse Grundkenntnisse in den Bereichen Politik, Geschichte und Wirtschaft sind Voraussetzung, um einige Witze und Anspielungen zu verstehen.
Doch wir haben es hier nicht nur mit Unterhaltungsparodie auf höchstem Niveau zu tun - nein, die Geschichte ist auch voll von einfachen Lebensweisheiten, die jeden Leser oder Hörer um Welten in der kognitiven Entwicklung weiterbringt: "Es gibt Solche und Solche. Und dann noch ganz andere. Und das sind die schlimmsten" (frei übersetzt aus Berliner Mundart) Na wenn das mal nicht eine bahnbrechende Erkenntnis ist...

Aufgrund der wieder episodenartigen Handlung und der in Szenenform geschriebenen Kapiteln, bietet es sich hier wirklich an, das Hörbuch zu hören. Gerade bei längeren Autofahrten oder bei banalen Tätigkeiten wie Wäscheaufhängen oder Abwaschen ist es eine willkommene Ablenkung, einige Szenen aus dem Manifest zu hören. Auch wenn ich eigentlich kein bekennender Fan von Hörbüchern bin und immer lieber die Print-Variante bevorzuge, habe ich es hier nicht bereut, die vorgelesene Version gewählt zu haben. Autor Marc-Uwe Kling liest hier selbst vor, live vor Publikum, weshalb immer mal wieder leise Lacher im Hintergrund zu hören sind, welche aber nicht stören. Im Gegensatz zu anderen Autoren merkt man Mark-Uwe an, dass er es gewohnt ist, Texte vorzutragen. Er liest die Rollen des Ich-Erzählers und des Kängurus mit leicht verstellten Stimmen, sodass man die nasale, laute, nerv tötende Stimme des Kängurus immer schön unterscheiden kann. Mit wohlüberlegten Pausen und Betonungen lenkt er das Geschehen in eine richtige Richtung und seine angenehme Stimme konnte mich wirklich mitreißen.

»Es sagt viel über die Welt aus, mein Kind,
sagte der Vater zum Knaben,
dass die Dummen glücklich sind
und die Schlauen Depressionen haben.«
»Hast du Depressionen?«, fragt das Känguru.
»Nee«, sage ich. »Du?«
»Nee.«


Dabei kann man sich den Hörspaß ruhig Häppchenweise zuführen, zu lange Pausen sollte man aber auch nicht machen, denn auch wenn die Szenen oft sehr kurz sind und meistens nichts miteinander zu tun haben, werden immer wieder kleinere Bezüge zur vorangegangenen Handlung gestellt und viele Insiderwitze und Anspielungen setzen voraus, dass man sich noch an Vorhergegangenes erinnert. Es ist eigentlich auch egal, ob man die Chronik gehört oder gelesen hat, hilfreich zum Verständnis von Insiderwitzen ist es aber auf jeden Fall und so entsteht langsam ein zusammenhängendes Bild. Wenn man die ganzen CDs alle auf einen Rutsch hört, werden dem aufmerksamen Hörer bald Parallelen im Aufbau und Verlauf der Szenen auffallen. Natürlich ist auch auf 315 Minuten mal der ein oder andere Witz dabei, der doppelt erscheint. Dass es aber trotzdem immer spannend und witzig bleibt wird durch viele erzähltechnische Elemente garantiert, die Kling wunderbar einwebt. So wechselt er kreativ die Erzählperspektivwechsel, variiert die Erzählzeit, lässt manchmal kurze Erinnerungslücken auftauchen oder peppt die kurzen Kapitel mit Einschüben aus dem Manifest des Kängurus "Opportunismus und Repression" auf. Ein Element, das mittlerweile schon eigenständig berühmt geworden ist, sind die falschen Zitate, bei denen der Autor ein echtes Zitat einer anderen, möglichst unpassenden Person zuordnet. (Ganz unten am Ende der Rezension hab ich euch ein paar Beispiele aufgeschrieben)

Natürlich macht das Känguru die ganze skurrile Geschichte erst so richtig saukomisch. Denn man muss das vorlaute Beuteltier einfach lieben! Manchmal erscheint es wie ein störrisches Kind, dann gibt es Dinge von sich, die eher nach weisem Sensei klingen und danach ist es einfach ein verrückter, tierischer bester Freund. Es traut sich Dinge zu sagen und zu tun, die so mancher von uns schon immer mal machen wollte: Regeln beim Monopoly einfach ändern, aufdringliche Terrier quer durch den Park kicken und Nazis umboxen - das Känguru weiß ganz genau, was es will und ist dabei immer konsequent inkonsequent. Und natürlich ist es auch der absolute Antagonist zum Pinguin. Es ist süchtig nach Schnapspralinen, Bud Spencer Filmen, Nirwana, Fußnoten, Wortspielen und falschen Zitaten. So quält das Känguru ein ums andere mal den armen Marc-Uwe mit lauter fiesen Wortverdrehungen, die dessen Sinn für Sprachästhetik aufs Äußerste strapazieren.

Doch die fiesen Wortverdrehungen, die man wirklich nicht mehr aus dem Kopf bekommt (glaubt mir, ich weiß wo von ich rede, Schankedön, Marc-Uwe) ist nichts im Vergleich zu der Anzahl an kreativen Wortspielen, die Mark-Uwe Kling im Laufe der Geschichte einfallen hat mich wirklich demütig werden lassen. Bekannte Witze wie "Du denkst vielleicht du bist hart, aber ich bin Herta!" oder philosophische Lebensweisheiten wie "Habt ihr schon Mal darüber nachgedacht dass es von uninformiert kein weiter weg zu uniformiert ist..." kommen einfach und fließend in den Dialogen unter.

Jetzt bleibt mir als nächstes noch die Känguru-Offenbarung und dann kommt ja auch schon -gottseidank - ein neues Werk heraus: Die Känguru - Apokryphen.


Zum Abschluss noch mein Top Ten an falsch zugeordneten Zitate:

"Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst.“
– Kim Jong-il

"Ich denke, also bin ich.“
– Til Schweiger

"Da hat das rote Pferd sich einfach umgekehrt und hat mit seinem Schwanz die Fliege abgewehrt.“
– Johann Wolfgang von Goethe

„Wenn man ein 0:2 kassiert, dann ist ein 1:1 nicht mehr möglich.“
– Satz des Pythagoras

„Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“
– Friedrich Schiller

„Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien!“
– Benedikt XVI.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“
– Bob der Baumeister

„Das Boot ist voll.“
– Noah, Sohn des Lamech

„Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.“
– Albert Einstein

„Alles, was wir sind, ist das Resultat von dem, was wir gedacht haben.“
– Bastian Schweinsteiger


Fazit:

Die Erfolgsformel zieht auch hier: 1 Poetry Slammer + 1 kommunistisches Känguru + viele dämlichen Ideen = Suchtpotential und Angriff auf die Lachmuskulatur.
Das Manifest steht den Chroniken in nichts nach, legt jedoch mehr Wert auf schonungslose Sozial-, Politik- und Kapitalismuskritik als auf Situationskomik.
Insgesamt eine Unterhaltungsparodie auf höchstem Niveau, die definitiv den "Witzig"-Stempel erhält!