Gewohnt bildgewaltig und originell!
Wie der Falke fliegtSeit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige ...
Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige Mischung aus klassischem Urban Fantasy und dem heimeligen Kleinstadtleben mit Geschichtlichem, Märchen, magischen Traumwelten und eine guten Prise Verrücktheit zu überzeugen. Die Reihe rund um ihre Raven Boys habe ich deshalb schon mehrere Male mit großer Begeisterung gelesen und war sehr gespannt auf den ersten Band der brandneuen Sequel-Reihe, die nicht nur nach Henrietta ins Raven-Boys-Universum, sondern auch speziell zu meinem Lieblingscharakter Ronan Lynch zurückkehrt. Wie nicht anders erwartet habe ich mich in diese Geschichte um Kunst, Träume, Individualität, Weltuntergang, Diebe, Mafia, Freundschaft, Hoffnung und Liebe geradezu schockverliebt!
Bevor ich mein erneutes Loblied auf Maggie Stiefvaters Fantasie beginne, wie immer ein paar Worte zum Cover. Anders als die kühlblaue Aquarell-Optik der Hauptreihe hat sich der Verlag dieses Mal für eine rot-orangene Farbgebung entschieden, wodurch das Cover weniger verträumt und deutlich dramatischer wirkt. Zu sehen ist genau wie auf dem Originalcover die Silhouette eines Falken im Sturzflug. Der Falke lässt sich auch im Titel wiederfinden, welcher von Klang und Satz an die Titel der Hauptreihe erinnert. Mit den Flügelspitzen des Falken, welche an einen brennenden Wald erinnern, wird außerdem der drohende Weltuntergang durch einen Weltbrand aufgegriffen, welche wie ein Damoklesschwert über der Geschichte schwebt. Passend dazu sind die 79 Kapitelanfänge jeweils von einem angedeuteten Wald umgeben. Kurzum: auch wenn ich die Gestaltung der Hauptreihe rein optisch ansprechender finde, bin ich sehr zufrieden von dem Gesamtkonzept der Gestaltung!
Erster Satz: "Das hier wird eine Geschichte über die Lynch-Brüder"
"Wie der Falke fliegt" beginnt etwas mehr als ein Jahr nach dem Ende des Raven Cycles. Gansey und Blue sind gemeinsam mit dem Camaro auf Reisen, Adam studiert in Harvard und Ronan wohnt alleine in den Schobern und lernt, das Träumen zu kontrollieren. Neben ihm bekommen wir noch zwei weitere, neue Hauptfiguren vorgestellt, die aus der Perspektive eines personalen Er-Erzählers erzählen dürfen. Wie gewohnt setzt Maggie Stiefvater dabei ein sehr geringes Erzähltempo an und auch ihre Handlungsdichte ist zunächst sehr gering. Die eigentliche Rahmenhandlung wird durch den Klapptext nur in sehr geringem Ausmaß umrissen und viel darüber, was hier eigentlich passiert, möchte ich auch gar nicht sagen, da ich dann viel zu viel vorwegnehmen würde. Die Geschichte lebt von den Perspektivwechseln zwischen den drei im Fokus stehenden Figuren und der Frage, wie alles miteinander verbunden ist. Dadurch, dass wir angesichts geheimnisvoller Träume, düsterer Vorhersagen und neuer Gegenspieler lange Zeit im Dunkeln gelassen werde, entsteht ein surreales Lesegefühl, das sich anfühlt, als sei man in einem Traum einer anderen Person und würde zwar nicht hundertprozentig verstehen, was passiert, könnte angesichts der lyrischen Schönheit und Mystik des Ganzen nicht den Blick abwenden.
"Hast du schonmal ins Feuer gestarrt, bis du den Blick nicht mehr abwenden konntest? Darum geht es? Hast du schonmal die Berge betrachtet, bis es dir den Atem verschlagen hat? Darum geht es. Hast du schonmal zum Mond hochgeguckt, bis dir die Tränen kamen. Darum geht es. Es geht um den Stoff zwischen den Sternen, um den Raum zwischen den Wurzeln, dieses Ding, das morgens die Elektrizität aus dem Bett lockt. Magie."
Die Atmosphäre ist neben diesem surrealen Lesegefühl von einem düstereren Einschlag geprägt als die Hauptreihe es war. Wo der Raven Cycle noch humorvoll, spritzig und abenteuerlustig war, ist "Wie der Falke fliegt" nun melancholisch, blutig, zynisch und apokalyptisch. Trotz all der Unterschiede erkennt man in jeder Zeile der unverwechselbare Schreibstil Maggie Stiefvaters wieder. Mit ruhigen, aber eindringlichen Worten lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. Dabei setzt die Autorin Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft. Da sich hier sowohl emotional als auch inhaltlich viele auf der Ebene noch An- und Vorausdeutungen abspielt, kann ich allen zukünftigen LeserInnen dieses Buches nur ans Herz legen, es sehr aufmerksam zu lesen und sich dabei viel Zeit zu lassen, denn es gibt im Laufe der komplexen Erzählung so viele Andeutungen, die später nochmal eine tragende Rolle spielen. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander, das vor allem eines ist: magisch. Dann noch ein paar skurrile Wendungen und überraschende Gedanken und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte.
"Es wird schon klappen, Hennessy." Und letztendlich war wohl das der entscheidende Unterschied zwischen ihnen beiden. Während Hennessy darüber nachdachte, vom nächsten Dach zu springen, dachte Jordan darüber nach, vom nächsten Dach zu springen und davonzufliegen"
Teil dieses Gesamtkunstwerks ist hier natürlich wieder das unglaublich magische Setting, welches die kleine Stadt Henrietta im Herzen des ländlichen Virginias mit all seinen magischen Traumorten durch die Großstadt Washington ergänzt. Der Autorin gelingt es, uns im Laufe der Zeit an verschiedene Handlungsorte innerhalb ihres Settings mitzunehmen, die sich so gegensätzlich gegenüberstehen, dass sie beinahe wie unterschiedliche Dimensionen wirken: Der magische Wald Lindemere, welcher hier als Nachfolger Cabeswaters eingeführt wird, die träumerischen Schobern der Familie Lynch, in denen sich Ronans und Nialls Traumwesen tummeln, Declans ordentliches Stadthaus in New York, die prunkvolle Künstlervilla von Jordan Hennessy und ihren Mitbewohnerinnen sowie nicht zuletzt eine Vielzahl an Fantasie- und Traumwelten. Diese Geschichte erscheint vielseitig und einmal mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten, die mich aufs Neue mit ihrem Ideenreichtum verzaubert hat.
Auch die Grundidee von Träumern, die Dinge aus ihren Träumen mitnehmen können, muss ich hier nochmal positiv hervorheben. In Zeiten von überdimensioniert häufig verwendeten Vampirmythen und Zaubermotiven sind eine Ley-Linie, durch deren Magie erwachende magische Kraftorte, eine Riege von Träumern und eine Gesellschaft, welche diese jagt um den Weltuntergang zu verhindern eine herrlich originelle und unverbrauchte Idee. Im Fokus der Geschichte steht jedoch nicht die Grundidee oder etwa ein Abenteuer, sondern die Dynamiken zwischen den Figuren. Am meisten gefreut hat mich, dass wir hier Einblicke in das Familienleben der drei Lynch-Brüder Ronan, Declan und Matthew erhalten. Ronan, welcher mit seinem kultivierten Walls aus Aggressivität und Wut, der das starke Bedürfnis nach Zuneigung und Bestätigung nur schlecht verbergen kann, auf mich in der Hauptreihe wie ein Kind gewirkt hat, ist hier deutlich reiferund erwachsener geworden und kann mit seinen eigenen Emotionen und Gedanken deutlich besser umgeben. Ich habe den Träumer natürlich schon im Raven Cycle lieben gelernt, hier wird jedoch deutlich, wie vielschichtig seine Charakterisierung wirklich ist.
"Als Ronan noch jünger war und es nicht besser wusste, dachte er, jeder müsste wie er sein. Auf Basis seiner Beobachtungen stellte er Regeln für den Rest der Welt auf, da nur wahr sein konnte, was innerhalb seines Erfahrungshorizonts lag. Jeder musste schlafen und essen. Jeder hatte Hände, Füße. (...) Jedes Haus war von geheimnisvollen Feldern und uralten Scheunen umgeben, jede Weide wurde von blauen Hügeln behütet, jede noch so schmale Straße führte in eine verborgene Welt. Jeder wachte manchmal aus dem Schlaf auf und hielt einen seiner Träume in den Händen."
Auch sein Bruder Declan ist mir hier viel mehr ans Herz gewachsen, da wir zu verstehen lernen, dass er seine Empfindsamkeit genau wie sein Bruder Ronan hinter einer Maske versteckt. Während Ronan auf Krawall gebürstet scheint, hat sich Declan einen Schutzmantel aus Kälte, Professionalität und Langweile angelegt, um sich und seine Brüder zu schützen. Der dritte im Bunde, der Sonnenschein Matthew, bringt ebenfalls einen äußerst spannenden Konflikt mit sich, da er hier erfahren muss, dass er nicht echt, sondern von Ronan geträumt ist... Die drei alleine wären in Kombination mit einem kurzen Wiederauftauchen von Gansey, Adam und Blue in meinen Augen schon interessant genug, um eine ganze Spin-Off-Reihe zu füllen. Neben den Lynch Brüdern erhalten wir aber außerdem einen äußerst spannenden Eindruck von Jordan Hennessys Beziehung zu ihren ganz speziellen Mitbewohnerinnen. Was die Autorin sich hier ausgedacht hat, ist wirklich unfassbar und weit von allem entfernt, was ich schonmal irgendwo gelesen habe. Zu sagen, dass ich wahnsinnig gespannt bin, wie sich der Handlungsstrang hier weiterentwickeln wird, wäre ein große Untertreibung. Vom dritten Handlungsstrang rund um die Träumerjägerin Carmen Farooq-Lane und ihren sozial schwieriger Visionär Parsifal war ich zunächst am wenigsten begeistert, da dieser am düstersten und am rätselhaftesten ist. Interessant dabei ist, dass Carmen immer nur bei ihrem Nachnamen genannt wird, was eine gewisse Distanz zu uns LeserInnen kreiert, man sie aber trotz der Tatsache, dass sie die Träumer jagt und damit auf der gegnerischen Seite zu unseren anderen Lieblingen steht, schlussendlich ans Herz schließt.
Das Ende wirft nach einem spannenden Finale mehr Fragen auf, als es beantwortet und stellt somit sicher, dass wir gespannt auf das Erscheinen von "Wie Träume bluten" warten, welches im Juli nächstes Jahr erscheint. Bis dahin bleibt nur noch zu sagen, "Tamquam, Alter Idem".
"Nach und nach schläft alles ein. Spatzen regnen vom Himmel. Hirsche sinken mitten im Galopp auf die Knie. Bäume hören auf zu wachsen. Kinder fallen in sanften Schlummer. All die Kreaturen, die einst diese Welt bevölkert haben, schlafen, und die Fantasie kommt zum Stillstand. Unter der Erde liegen Drachen, die sich nie wieder regen werden. Die Welt um uns schläft ein, aber niemand bemerkt es. Niemand schaut mehr aus dem Fenster. Träumer sterben."
Fazit:
In ihrem Raven-Cycle-Spinn-Off "Wie der Falke fliegt" erzählt Maggie Stiefvater gewohnt bildgewaltig und originell von Kunst, Träume, Individualität, Weltuntergang, Diebe, Mafia, Freundschaft, Hoffnung und Liebe. In ihre schrägen Figuren, das abwechslungsreiche und magische Setting, den unverwechselbaren Schreibstil und die interessante Grundidee musste ich mich einfach wieder verlieben!