Detailarm und unaufgeregt, aber realistisch und bewegend
Stigma (Milosevic und Frey ermitteln 1)Kurzmeinung:
3,5 Sterne; eine realistisch und detailarme Geschichte, die vor allem in den Momenten mit den überlebenden stark hervorsticht.
Klappentext:
Eine Männerleiche, die Augenhöhlen leer, eine ...
Kurzmeinung:
3,5 Sterne; eine realistisch und detailarme Geschichte, die vor allem in den Momenten mit den überlebenden stark hervorsticht.
Klappentext:
Eine Männerleiche, die Augenhöhlen leer, eine Plastiktüte über dem Kopf: Mordermittlerin Jagoda »Milo« Milosevic und ihr Kollege Vincent Frey stoßen auf Hinweise, dass der Tote in der Vergangenheit Frauen missbraucht hat. Ein mögliches Motiv? Der Verdacht erhärtet sich, als kurz darauf ein weiterer verurteilter Sexualstraftäter ermordet wird. Milo folgt bei den Ermittlungen ihrem Instinkt, doch sie fühlt sich zunehmend beobachtet. Erkennt sie das Böse, wenn es vor ihr steht?
Autoren:
Lea Adam ist das Pseudonym der Autorinnen Regina Denk und Lisa Bitzer. Zwischen der schwedischen Küste und dem Münchener Umland haben sie unabhängig voneinander zahlreiche Buchprojekte veröffentlicht. Stigma ist ihr erster gemeinsamer Thriller.
Bewertung:
Ich kann mir nicht helfen, aber auf dem Cover sehe ich immer zuerst eine Frau, obwohl deutlich ein Mann zu sehen ist. Manchmal habe ich diese Realitätsverzerrung bei Covern - wieso, weiß ich gar nicht. Merkwürdig! Ich habe die erste Zeit, als ich das Werk entdeckt habe, sogar durchweg eine Frau gesehen. Erst später habe ich gemerkt, dass das ein Mann ist. Ein sehr gut gestaltets Cover, das mir etwas anderes suggestiert. Auch der Titel passt, wenn ich auch einen anderen gewählt hätte. Der Titel ist nicht mit Tinte aufgedruckt, sondern hat einen leichten rauen Reliefdruck. Der Klappentext ist kurz und sagt nicht viel aus. Der letzte Satz ist total unnötig und klischeehaft. Und ich persönlich finde ihn dämlich.
Eigentlich wollte ich das Werk hören, bei Bookbeat war es aber nicht gelistet. Also habe ich das Buch besorgt. Und einen Tag später, hat Bookbeat das Hörbuch aufgenommen. Tja, manchmal ist das so. Daher habe ich die Geschichte gleichzeitig abwechselnd gelesen und gehört.
Was mich wieder nervt ist das angebliche Pseudonym zweier Autoren. Ich habe davon auf dem hinteren inneren Buchdeckel erfahren, als ich es bereits hatte. Das ist echt zum Trend geworden, ohne Sinn ein Pseudonym zu nutzen und anzugeben, wer dahintersteckt, sodass jeder Bescheid weiß.
Wie so oft habe ich vorab schon mal einige Rezensionen gelesen, vor allem die eine bis dato vorhandene negative Kritik. Die sind für mich nützlicher als positive. Die Leserin schrieb, dass die Vergewaltigungen und Morde zu detailliert dargestellt würden. Ich war also vorbereitet auf explizite Details - die nie auftauchen! Ganz im Gegenteil: Alle Vergewaltigungserzählungen enthalten bloß Anmerkungen, das es zu einer Vergewaltigung kommt. Nur bei der ersten Erzählung wird erzählt, dass die Frau etwas zwischen den Beinen spürt und jemand auf ihr liegt - aber sind das Details? Absolut nicht! Die Morde werden gar nicht dargestellt, nur die Leichen danach. Und selbst da gibt es keine blutigen Details, wie es in anderen Büchern gibt. Bei beiden Gewalttatarten gibt es also nur Anmerkungen, nicht mal die eigentlichen Szenen. Diese Verlaufsart ist eher seltener, normalerweise erzählen die Werke intensiver und detailliert. Bei Bookbeat gibt es eine Hörerin, die ebenfalls angibt, die Gewalttaten seinen detailliert.
Ich glaube, hier hat die Leserin/Hörerin eine völlig andere Definition von detailliert/detailreich. Was mich daran stört, ist nicht deren Ansicht, sondern, dass mich das die ganze Zeit während des Lesens und Hörens gepisackt hat. Ich konnte es einfach nicht abschütteln. Auch jetzt nicht, weshalb ich das erzählen muss. Das ist ein Nachteil, wenn man vorher Rezensionen liest. Aber auch, wenn ich die Rezension danach gelesen hätte, würde ich das hier erwähnen, denn sie vermittelt einen falschen Eindruck. Es schreckt zartbesaitete Leser/innen und Hörer/innen ab, die es aber lesen und hören könnten. Das ist auch für Verlage und Autoren nicht gut.
Tauchen wir tiefer in die Geschichte ein: Als erstes wird ein Vergewaltigungsfall in der Gegenwartserzählung erzählt. Das vermittelt den Eindruck, dieser Fall ist die Basis für den Verlauf und erzeugt auch direkt Spannung. Zwischen dem Gegenwartsverlauf der Morde streuen die Autoren vergangene Vergewaltigungsfällen als Gegenwartserzählung aus Sicht der Opfer ein. Aber wie schon beschrieben - alle ohne Details, aber trotzdem berührend. Über die Morde erfahren wir gar nichts, es werden keine Ermordungsszenen dargestellt. Nur die Leichen sind von Belang. Allerdings sind die Leichenbeschauungen ebenfalls detailarm und mir waren die Szenen zu kurz. Wirklich ganz anders als man es bei anderen Thrillern kennt. Der Schwerpunkt liegt auf den Ermittlungen zu den Morden. nach und nach werden die Vergewaltigungsopfer eingebunden, vor allem die Wut der Frauen wird spürbar.
Was mir an der Erzählung sehr gut gefällt ist, dass die sexuelle Gewalt auch als das gekennzeichnet wird, was es ist: Vergewaltigung. Wir vermeiden das Wort, wo wir können, weil es sehr hart klingt - was ironisch ist, denn es ist ja auch eine harte Gewalttat. Wir ersetzen es durch andere Worte, um diese grausame Tat zu beschreiben; Missbrauch, sexueller Missbrauch, seit den letzten Jahren habe wir wieder ein neues Wort designt; sexuelle Gewalt. Es ist nicht so hart und lässt sich leichter aussprechen. Das Problem daran ist, dass es die tat verharmlost und somit Beihilfe bei dieser allgemeinen Verharmlosung in der Gesellschaft und der Justiz fördert. Deshalb gefällt es mir sehr, dass die Autorinnen diese Taten adäquat deklarieren, das ist auch in Büchern ungewöhnlich. So wie wir denken, reden und handeln schreiben wir. Am Anfang ist es gewöhnungsbedürftig, weil das Wort ja so selten benutzt wird, wir tabuisieren es. Aber je öfter ich es gelesen und gehört habe, desto alltäglicher wurde es für mich, wie Sachverhalte von Diebstahl, Raubmord etc.
Was mir nicht gefallen hat ist, dass die Charaktere in der Geschichte so verwundert sind, dass Täter früher selbst Opfer waren. Ich verstehe diese Irritation generell nicht, denn jeder Täter war irgendwann einmal selbst ein Opfer, sonst würde er ja nicht zum Täter werden. Das ist Psychologie, Ursache und Wirkung, auch in der Physik zu finden. Hier wird so getan, als sei diese Erkenntnis neu - was aber realistisch ist, denn in der Realität tun das viele Menschen auch. Die eigentliche Frage ist eher: Rechtfertigt das früher Opfersein die jetzige Täterschaft? Nein. Aber sie macht es verständlicher. Das sind zwei Aspekte, die im Wahren Leben ständig zusammengeschmissen werden, was immerzu zu Konflikten führt. Wer Täter versteht, legitimiert seine Taten trotzdem nicht. Die Verknüpfung von Roman und Realität ist also hier wirklich eng, was die Geschichte so glaubhaft macht.
Die Charaktere sind nicht von Grund auf ganz ausgeschrieben, was aber kein Makel für den Verlauf zeigt. Von der Ermittlerin Milo erfahren wir am meisten, alle anderen Figuren bleiben sehen dagegen blass auf. Die Autorinnen haben sich sehr auf Milo konzentriert, das wird deutlich. Mit ihr haben sie eine glaubwürdige Ermittlerin geschaffen, die professionell ihrer Arbeit nachgeht, im Privatleben aber auch ihre Schwächen hat. Offen bleibt hier die private Entwicklung, was in einem Folgeband ausgebaut werden könnte.
Fesselnd ist der Verlauf nicht, auch wenn ich das Werk schnell durchhatte. Es hat eine Anziehungskraft durch seine glaubwürdige Darstellungen, auch ohne Blut und Schmerzzeichnungen. Das letzte Drittel war für mich vorhersehbar. Mir war klar, wer der Täter ist und wie es laufen wird. Neu ist der Verlauf am Ende nämlich nicht. Die Spannung ist hier also nicht sehr groß. Der anfängliche Vergewaltigungs-Fall hat nur Bedeutung für die Aufklärung der Morde, nicht für die gesamten Ermittlungen. Der Vorteil ist, dass nichts offen bleibt, sondern alles alles aufgelöst wird. Das letzte Kapitel soll wohl insgesamt abschließen und versöhnen. Es ist nicht an den Haaren herbeigezogen, aber auch nicht gewöhnlich.
Fazit:
Insgesamt ein lesenswertes und hörenswertes Werk, dass realistisch an die Vergewaltigungstaten und seine Nachwirkungen herangeht. Es hätte viel mehr Spannung erzeugt werden können, diese blieb fast durchgehend gleichmäßig konstant niedrig, was ihre Anziehungskraft aber nicht schmälert. Das an sich ist eine Kunst. Wer keine detailreichen Tatszenen erträgt oder lesen/hören möchte und nicht im jedem Kapitel eine Art Showdown erwartet, findet hier gute und realistische Unterhaltung, die fesselt. Ein unaufgeregter, etwas ruhiger Thriller mit intensiven Momenten der überlebenden Frauen.