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Veröffentlicht am 17.08.2020

Leben und Sterben in der Heroinhölle Philadelphias

Long Bright River
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Mickey ist Streifenpolizistin in Kensington, Philadelphia, dem größten Drogenmarkt im Osten der USA. Dort wacht die Alleinerziehende über ihre jüngere, drogenabhängige Schwester Kacey, die sich ihr Geld ...

Mickey ist Streifenpolizistin in Kensington, Philadelphia, dem größten Drogenmarkt im Osten der USA. Dort wacht die Alleinerziehende über ihre jüngere, drogenabhängige Schwester Kacey, die sich ihr Geld mit Prostitution verdient und seit fünf Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen hat. Als in dieser Gegend eine Reihe von Morden an Prostituierten verübt werden und Kacey nicht mehr aufzufinden ist, macht sich Mickey auf die Suche nach ihr.
'Long Bright River' ist nicht nur ein Kriminalfall, sondern gleichzeitig auch eine Familiengeschichte und das Porträt eines Stadtteils, dessen Gesellschaft vermutlich die größte Krise seiner Existenz durchlebt. Wir Lesenden begleiten Mickey bei ihren täglichen Streifen durch Kensington, wo 1/3 der Ladenfronten verrammelt ist und überall Drogen und Sex angeboten werden. Es ist eine trostlose Atmosphäre, die nur durch gelegentliche Lichtblicke wie neue Bars und Geschäfte am Rande des Viertels aufgehellt wird. Wie die meisten Familien, die aus Kensington kommen, hat auch Mickeys' mit Drogenproblemen zu kämpfen. Nicht nur Kacey, auch ihre Eltern waren früh süchtig und starben, sodass die beiden Schwestern bei ihrer hartherzigen Großmutter aufwuchsen.
Mickey ist ein widersprüchlicher Charakter: Ihrem kleinen Sohn ist sie eine liebevolle Mutter, dem sie all ihre Aufmerksamkeit widmet, doch anderen Menschen gegenüber zeigt sie beinahe autistische Züge. Die herzlose Erziehung ihrer Großmutter und deren zynische Lebenseinstellung haben sie offenbar mehr geprägt als ihr bewusst ist im Gegensatz zu ihrer Schwester, die von Mickey für ihre Lebensfreude und ihr Selbstbewusstsein immer bewundert wurde. Liz Moore gelingt es erstaunlich gut, für Mickey einen Tonfall zu treffen, der häufig fast gänzlich frei ist von Gefühl, was sie nicht gerade zur Sympathieträgerin macht. Doch Rückblicke in ihre Kindheit und Jugend machen immer wieder deutlich, woher dieses Verhalten kommt.
Der Kriminalfall wird durch die Familiengeschichte fast schon in den Hintergrund gedrängt, was der Spannung jedoch nicht abträglich ist. Denn obwohl man vermutlich glaubt, eigentlich Alles zu wissen, ergeben sich eine Reihe überraschender Wendungen nicht nur bei der Suche nach dem Prostituiertenmörder.
Eine spannende Geschichte, die auch ein realistisches Bild eines Teils der heutigen Gesellschaft in den USA wiedergibt.

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Veröffentlicht am 05.08.2020

Ein melancholischer Blick zurück aufs Leben

Der letzte Satz
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Wie mag es sein, wenn einem der eigene Tod immer näher rückt? Es einem bewusst wird, dass die verbleibende Zeit auf Erden sehr überschaubar ist? Davon schreibt Robert Seethaler in diesem Buch, in dem wir ...

Wie mag es sein, wenn einem der eigene Tod immer näher rückt? Es einem bewusst wird, dass die verbleibende Zeit auf Erden sehr überschaubar ist? Davon schreibt Robert Seethaler in diesem Buch, in dem wir den berühmten Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler auf seiner letzten Seereise begleiten.
Auf seinem Weg von New York zurück nach Europa verbringt der bereits schwer kranke Mann seine Tage meist an Deck, wo er sich vergangener Zeiten erinnert. Wie er seine geliebte Frau Alma kennenlernte, der Verlust seiner erstgeborenen Tochter Marie, der Erfolg der 8. Symphonie, seine Zeit in Wien undundund. Es sind kurze Ausschnitte eines erfolgreichen Lebens, das nicht frei von Kämpfen und auch Niederlagen war. Gustav Mahler, der gerade einmal 50 Jahre wurde, liebt das Leben und hadert doch mit ihm. Viel zu früh geht es zu Ende, denn wie gerne würde er seine Tochter Anna aufwachsen sehen, mehr Zeit mit seiner Frau verbringen, Vergangenes wieder gut machen.
Obwohl die Hauptfigur seinerzeit ein erfolgreicher Komponist und international gefeierter Dirigent war, geht es nur selten um Musik in diesem schmalen Büchlein. Doch der Rückblick auf dieses Leben hat mich neugierig gemacht auf das Werk Mahlers, so dass ich beim Lesen den titelgebenden letzten Satz der 9. Symphonie gehört habe. Für mich war dies eine Bereicherung, denn Robert Seethaler hat die Stimmung, die dieses Werk vermittelt, unglaublich gut in Worte gefasst. Eigentlich sollte man klassische Musik nicht unbedingt als Hintergrundberieselung nutzen, aber in diesem Fall harmoniert es so hervorragend, dass ich immer wieder beim Lesen inne hielt, um der Musik zuzuhören und das Gelesene noch deutlicher vor Augen zu sehen.
Einziger Makel: 120 sehr großzügig gesetzte Seiten für diesen Preis - das ist schon sportlich.

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Veröffentlicht am 27.07.2020

Was am 21. Juli 1969 sonst noch so geschah

Wo wir waren
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Was für eine schöne und auch traurige Geschichte - fast ein richtiger Schmöker. Doch zum völlig darin Versinken hat es nicht ganz gereicht, ohne dass ich so genau weiß, woran es liegt.
Ausgangspunkt ist ...

Was für eine schöne und auch traurige Geschichte - fast ein richtiger Schmöker. Doch zum völlig darin Versinken hat es nicht ganz gereicht, ohne dass ich so genau weiß, woran es liegt.
Ausgangspunkt ist der 21. Juli 1969, also ziemlich genau vor 51 Jahren, als die ersten Menschen den Mond betraten. Obwohl man im Nachhinein das Gefühl haben könnte, dass an diesem Tag sonst nichts weiter Aufregendes passierte 😉 geschah doch so einiges Andere, was für manche Menschen zu enormen Veränderungen im Leben führte.
Die wichtigste Figur ist der fünfjährige Hardy Rohn, der mit einem älteren Jungen aus dem Waisenhaus flieht, wo sie täglich gewalttätigen und erbarmungslosen Aufsichtspersonen ausgesetzt sind. Zwar misslingt die Flucht (zumindest für Hardy), doch sie ist der Grund, weshalb er ein Jahr später adoptiert wird und so ein um vieles besseres Leben verbringen kann. Und vermutlich ist diese Flucht auch der Grund dafür, dass Jahre später ein brutaler Mensch ebenso brutal ermordet wird.
Doch nicht nur Hardy flieht an diesem Tag - auch seine wegen Mordes zu lebenslänglich verurteilte Mutter unternimmt einen Fluchtversuch.
Diese beiden Personen sind der Ausgangspunkt für die rund 500 Seiten umfassende Geschichte, die deren Leben und das ihrer Vorfahren und nächsten Verwandten schildert. So spannt sich ein Erzählbogen über das Jahrhundert von Memel bis Vietnam, vom Rhein bis in die USA, von 1901 bis 2009. Norbert Zähringer nimmt seine Leserinnen und Leser mit durch Raum und Zeit und wir erleben das Jahrhundert durch die Beschreibungen von Hardys Großvater, seiner Mutter, seines Vaters undundund.
Eigentlich sind die Voraussetzungen ideal für einen Schmöker zum darin Versinken, denn der Autor weiß gute Geschichten zu erzählen, unter anderem indem er durch kleine Ausblicke in die Zukunft Spannung erzeugt. Doch ich blieb zu den Figuren auf Distanz - vielleicht liegt es an den doch recht häufigen Zeit- und Raumsprüngen, vielleicht an der etwas spröden Persönlichkeit Hardys.
Dennoch: Ein schön zu lesendes Buch mit einer unterhaltsamen Geschichte.

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Veröffentlicht am 05.07.2020

Zoë Beck wusste es schon vorher 😉

Paradise City
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VerschwörungstheoretikerInnen aufgepasst: Dieses Buch befand sich gerade erst im Druck, als wir in Europa noch dachten, Corona sei nichts weiter als eine weitere etwas stärkere Grippewelle. Wer also mehr ...

VerschwörungstheoretikerInnen aufgepasst: Dieses Buch befand sich gerade erst im Druck, als wir in Europa noch dachten, Corona sei nichts weiter als eine weitere etwas stärkere Grippewelle. Wer also mehr wissen möchte über unsere nächste Zukunft, kommt nicht umhin, dieses Buch zu lesen sowie alle anderen der Autorin. Und an den Rest: Auch wenn es nur Zufall ist, es ist erschreckend, wie manche der Szenarien in Zoë Becks neuem Buch der Realität ähneln.
In 'Paradise City' ist Deutschland durch zunehmende Klimaveränderung und Pandemien in weiten Teilen entvölkert, die Menschen leben überwiegend in Millionenstädten. Bestimmender Faktor des Lebens ist die Überwachung und Kontrolle durch eine Gesundheitsapp, die permanent registriert, in welchem Zustand sich der Mensch befindet und gegebenenfalls eigenständig Maßnahmen ergreift. Als kleiner Nebeneffekt ist zudem die völlige Überwachung jedes Einzelnen möglich - man muss ja wissen, wohin man einen eventuellen Rettungswagen schicken muss. Liina, die bei einem der wenigen noch unabhängigen Nachrichtenportale arbeitet, wird zu einem Rechercheauftrag in die nahezu unbewohnte Uckermark geschickt, währenddessen ihr Chef einen eigentümlichen Unfall hat, der ihn fast das Leben kostet. Gemeinsam mit ihren KollegInnen machen sie sich auf die Suche nach den Hintergründen und bringen sich dabei in Lebensgefahr.
Die Welt, die Zoë Beck hier entwirft, ist verstörend, aber angesichts der Geschehnisse der letzten Monate nicht mehr undenkbar. Was mit einer guten Idee begann - Gesundheit und Sicherheit für Alle -, uferte aus und setzte sich nach und nach eigene Regeln und Vorgaben, zugunsten derer die Menschen freiwillig den größten Teil ihrer Freiheit aufgaben. Was daraus erwachsen kann, zeigt dieser Thriller exemplarisch.
Das Buch habe ich eher als Roman denn als Thriller empfunden - zu lange dauert es, bis die Geschichte tatsächlich an Fahrt aufnimmt. In der ersten Hälfte liegt der Schwerpunkt mehr auf der abwechselnden Beschreibung von Liinas aktuellem sowie ihrem vergangenen Leben, um so die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. wie es dazu kam, darzustellen. Dennoch ist es lesenswert: unterhaltsam und spannend, mit einem Ausblick auf eine Zukunft, wie sie wohl keiner haben möchte.

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Veröffentlicht am 02.07.2020

Die (fast vergessenen) 'verrückten' Frauen in der Salprêtrière

Die Tanzenden
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Dass Frauen es in einer männerdominierten Gesellschaft nicht leicht haben, dürfte allgemein bekannt sein. Aber WIE schwer sie es hatten, davon haben vermutlich nur die Wenigsten eine Vorstellung. Wichen ...

Dass Frauen es in einer männerdominierten Gesellschaft nicht leicht haben, dürfte allgemein bekannt sein. Aber WIE schwer sie es hatten, davon haben vermutlich nur die Wenigsten eine Vorstellung. Wichen sie von der Norm ab oder zeigten ungebührliches Verhalten, kam dies für Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts einem Strafurteil gleich. Ihre Angehörigen liessen sie wegsperren, in Paris beispielsweise in die berühmte Salpêtrière, eine der grössten psychiatrischen Anstalten Europas, die Frauen vorbehalten war. Mit ihrem Buch 'Die Tanzenden' erinnert die Autorin Victoria Mas an diese Frauen, die von der Welt vergessen waren - und nur beim gesellschaftlichen Ereignis 'Bal des Folles' ins Bewusstsein der besseren Gesellschaft rückten.
Die wichtigsten Figuren sind Geneviève, die Hauptverantwortliche für die Kranken in ihrem Bereich, eine durch und durch rationale Person; und Eugénie und Louise, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in der Salpêtière landeten. Genevièves kühle Rationalität wird durch die Einlieferung Eugénies schwer auf die Probe gestellt und sie beginnt ihre Umgebung mit kritischeren Augen zu betrachten.
Obwohl Männer in dieser Geschichte nur als Randfiguren erscheinen, sind sie es, die das Leben all dieser Frauen bestimmen, ob diese nun in der Salpêtrière arbeiten oder dort Patientinnen sind. Männer geben vor, was normal ist, was richtig oder falsch und eine Frau, die Kritik oder Zweifel äussert, kann nur krank sein. Kaum zu glauben, dass diese Zustände vor gerade einmal etwas mehr als 130 Jahren noch gang und gäbe waren. Victoria Mas beschreibt diese teilweise schauerlichen Verhältnisse in einer geradezu sanften und zarten Sprache, sodass der Wahnwitz dieser Anstalt sich noch deutlicher darstellt.
Ein lesenswertes Buch, das Vergessene wieder in Erinnerung bringt. Den 'Bal des Folles' hat es übrigens tatsächlich gegeben, ein bisschen was ist darüber zu finden im französischen Wiki unter 'Bal des folles à la Salpêtrière'.

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