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Veröffentlicht am 04.03.2021

Die Frauen von Kamtschatka

Das Verschwinden der Erde
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Kamtschatka ist als weitgehend unberührtes Naturparadies bekannt, in dem Besuchende Vulkane, Geysire, Braunbären und mehr entdecken können. Doch wie die Menschen in diesem dünn besiedelten Teil Russlands ...

Kamtschatka ist als weitgehend unberührtes Naturparadies bekannt, in dem Besuchende Vulkane, Geysire, Braunbären und mehr entdecken können. Doch wie die Menschen in diesem dünn besiedelten Teil Russlands (die Halbinsel ist etwas größer als Deutschland mit ca. 310.000 dort Lebenden verschiedener Ethnien) leben, dürfte weitestgehend unbekannt sein.
Julia Phillips erzählt in monatlichen Abständen in 13 Geschichten von Frauen und Mädchen, die in irgendeiner Form mit dem Verschwinden zweier kleiner Mädchen in Berührung gekommen sind; sei es durch Pressemitteilungen, Verwandtenberichte oder ähnlichem. Auch wenn der Vermisstenfall scheinbar im Vordergrund steht (das erste Kapitel handelt davon), ist er letztlich ’nur‘ die Verbindung zwischen den Frauen über die hier berichtet wird, die aus den verschiedensten Gegenden der Halbinsel kommen und so unterschiedlich sind wie ihre Herkunft. Männer, zumindest wenn sie leben, tauchen in diesen Geschichten fast nur als unangenehme Zeitgenossen auf: Schwätzer, unzuverlässig, autoritär, sexistisch – nur die Toten scheinen die wirklich Guten zu sein.
Durch die Porträts dieser Frauen, die meiner Meinung nach nicht alle gelungen sind, entsteht ein Panorama der Gesellschaft Kamtschatkas, die sich aufgrund diverser Missstände wie fehlender Infrastruktur, Korruption und Rassismus gegenüber Indigenen und Gastarbeitern mühsam durchs Leben kämpft. Doch nicht nur das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen ist schwierig, auch die Indigenen selbst haben Probleme innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft: Generationenkonflikte, das Festhalten an Traditionen gegen die Wünsche der Jüngeren, Engstirnigkeit und ebenso hier Rassismus.
Auch wenn es sich praktisch um einzelne Geschichten handelt: Durch das geschickte Einflechten von kurzen Sätzen, meist ganz beiläufig, erfährt man immer wieder etwas über das Schicksal der Frauen, die schon erwähnt wurden. Manchmal ist auch etwas detektivischer Scharfsinn gefragt um sich Zusammenhänge aus vorhergehenden Kapiteln zu erschließen, was das Lesevergnügen aber nicht mindert, ganz im Gegenteil. Schlussendlich versöhnt das Ende mit all den offenen Fragen, die eventuell noch geblieben sind, sodass ich das Buch mit einem zufriedenen Seufzer zur Seite legte.
Vor dem Hintergrund der grandiosen Landschaft Kamtschatkas zeigt die Autorin das Leben von Frauen, die wenig bis nichts verbindet, aber eines gemeinsam haben: Wünsche und Sehnsüchte, die wohl nie in Erfüllung gehen werden.

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Veröffentlicht am 04.03.2021

Von wegen Streulicht - alles Grau in Grau

Streulicht
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Ich bin bei diesem Buch hin- und hergerissen. Die Lebensgeschichte der Protagonistin, die in einer bildungsfernen Arbeiterfamilie aufwächst, in der der Vater Alkoholiker ist und von fortwährender Sammelwut ...

Ich bin bei diesem Buch hin- und hergerissen. Die Lebensgeschichte der Protagonistin, die in einer bildungsfernen Arbeiterfamilie aufwächst, in der der Vater Alkoholiker ist und von fortwährender Sammelwut beherrscht wird, ist grandios beschrieben. Deniz Ohde, von deren eigenen Erfahrungen sicherlich viel in dieses Buch eingeflossen ist, schildert so überzeugend dieses Milieu, dass man kaum glauben kann, dass dies ein fiktiver Roman ist. Der Vater, ‚vom selben Schlag‘ wie der Großvater, der im selben Haus lebt, kennt nur Pflichten – ‚das Wort Wunsch war verboten‘ ebenso wie Gefühle, die zu den Frauen gehörten. Ihre Mutter ist Türkin, ebenso bildungsfern wie der Vater, aber dem Leben, dem Schönen, dem Neuen viel mehr zugetan, doch ohne die Möglichkeit, sich dem zuzuwenden.

Und trotzdem schafft es die Ich-Erzählerin, die unter latenter Diskriminierung und auch dadurch an schon fast krankhaften Minderwertigkeitskomplexen leidet, im 2. Anlauf das Abitur zu bestehen und an einer Universität, fern von daheim, zu studieren. Doch ihre Herkunft, durch die sie ‚doppelt gestraft‘ ist, verfolgt sie weiter.

Wie schon geschrieben: Es ist beeindruckend dargestellt. Aber leider nur grau in grau. In dem ganzen Buch gibt es im Leben der Hauptfigur absolut nirgendwo auch nur irgendwo einen Lichtblick. Menschen sollen an Problemen wachsen, ok, vielleicht nicht an allen, aber doch an manchen. Aber diese junge Frau wächst nicht, sie kämpft sich durch und bleibt so klein wie am Anfang. Je weiter ich mit dem Lesen kam, umso öfter habe ich mich gefragt, was sie überhaupt am Leben hält. Ihre Herkunft ist es sicherlich nicht und ihr neues Leben – na ja.

So ist dieses Buch eine wirklich gut geschriebene Geschichte mit völlig deprimierenden Inhalt. Ein wenig Licht, vielleicht auch nur Streulicht, hätte ihr mehr als gut getan!

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Veröffentlicht am 04.03.2021

Erwachsen werden in Afghanistan

Das ferne Feuer
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Inspiriert von einem Bestseller in den USA, in dem ein Arzt schildert, wie er Frauen in Afghanistan hilft, reist die junge Berkeley-Studentin Parvin in das Heimatland ihrer Eltern, um diese Arbeit zu unterstützen. ...

Inspiriert von einem Bestseller in den USA, in dem ein Arzt schildert, wie er Frauen in Afghanistan hilft, reist die junge Berkeley-Studentin Parvin in das Heimatland ihrer Eltern, um diese Arbeit zu unterstützen. Doch die Realität des kleinen Dorfes über das geschrieben wurde, ist weit von dem entfernt, was Parvin sich vorgestellt hat. Die von Spenden erbaute Klinik steht leer, da kein Personal bezahlt wird. Und viele der im Buch erzählten Geschichten stehen im Widerspruch zu dem, was die im Dorf Lebenden berichten.

Parvin ist eine weitgehend typische Vertreterin ihrer Generation: voller Idealismus und Begeisterungsfähigkeit, wenn es darum geht, Gutes in der Welt zu tun. Ohne Zweifel an ihren Vorbildern, Professorin Banerjee und dem Arzt Crane, die sie zu dieser Reise ermutigen, reist sie nach Afghanistan um dort mit einer Welt konfrontiert zu werden, die sie sich in den USA nicht im Entferntesten hat vorstellen können. Die Armut der Menschen; die bestehenden und von Allen akzeptierten Hierarchien im Dorf (insbesondere die Stellung der Frauen in der Gemeinschaft); der Glaube an die Nichtbeeinflussbarkeit des Schicksals – und die ganz offenbar nicht so positiven Auswirkungen des Aufenthaltes von Crane.

Amy Waldman, die Afghanistan durch ihre Tätigkeit als Leiterin der Büros der New York Times in Neu-Delhi kennt, weiß um die Zwiespältigkeit vieler Hilfsangebote für die Armen, bei denen die tatsächlichen Bedürfnisse der Betroffenen meist keine Rolle spielen. Häufig dient die Unterstützung nur dazu, die Spender in gutem Licht dastehen zu lassen und ist viel zu oft nicht von langer Dauer – siehe leerstehende Schulen und Kliniken, für die es kein Personal gibt. Die Autorin zeigt überzeugend, wie in Parvin die Zweifel wachsen: an dem Arzt, ihrer Professorin, überhaupt dem Engagement ihres Landes, den USA. Sie stellt sich immer mehr Fragen, die sich auch den Lesenden stellen: Wie manipulierbar sind wir? Was ist wirkliche Hilfe? Was tut den Menschen gut?

Auch wenn die Figur Parvins nicht immer überzeugend dargestellt wird (so blauäugig ist wohl selbst eine US-Amerikanerin nicht, vor allem wenn sie Studentin in Berkeley ist 😉), wirkt die Geschichte authentisch und ist insbesondere wegen der Fragestellungen, die sie aufwirft, zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 04.03.2021

Klatsch und Tratsch aus dem 19. Jahrhundert

Der Mann im roten Rock
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Haben Sie schon einmal von Samuel Pozzi gehört, der von 1848 bis 1918 lebte? Er war Arzt, ein Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie. Und auch sonst ein sehr umtriebiger Mensch, der seiner Zeit in Vielem ...

Haben Sie schon einmal von Samuel Pozzi gehört, der von 1848 bis 1918 lebte? Er war Arzt, ein Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie. Und auch sonst ein sehr umtriebiger Mensch, der seiner Zeit in Vielem weit voraus war. Julian Barnes hat es sich zur Aufgabe gemacht, uns diesen Mann ein wenig näher zu bringen – und nicht nur ihn. Wir lernen seine Freunde, weitere Bekannte und Unbekannte kennen und die Zeit, in der er lebte.

Im Plauderton erzählt Barnes nicht nur von Dr. Pozzi und seinen zahlreichen amourösen Verhältnissen, sondern auch eine Vielzahl von Anekdoten über bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten. Beispielsweise worauf Charles de Gaulles Abneigung gegenüber den Briten zurückzuführen war (Faschoda) oder Näheres zum Entdecker des Tourette-Syndroms. Keine Frage, wer sich für die Belle Époque interessiert, wird hier eine reichhaltige Fundgrube an historischen wichtigen aber auch belanglosen Informationen entdecken. Und nicht nur an Schriftlichem: Der Verlag hat aus dieser Lektüre ein wunderschönes Buch gemacht, gedruckt auf hochwertigem Papier mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißbildern, die viele der damaligen Persönlichkeiten auf Gemälden oder Photos abbilden. Nur die Biographie des Herrn Dr. Pozzi kommt leider etwas zu kurz, wie ich finde.

Julian Barnes‘ Begeisterung an dieser Epoche und seinen Menschen (zumindest denen aus der gehobenen Schicht) ist überdeutlich zu spüren, was bedauerlicherweise nicht immer zum Vorteil der Lesenden gereicht. Es scheint, als wolle er uns so viel wie möglich an seinem immensen Wissen teilhaben lassen, und so werden viele der erzählten Dinge nur angerissen – zu knapp, wie ich häufig fand. Gerade Dr. Pozzi, dessen Gemälde das Cover des Buches zeigt, kommt meiner Meinung nach leider, wie schon erwähnt, viel zu kurz. Dies mag daran liegen, dass es über und von seiner Person nicht sehr viele Hinterlassenschaften gibt wie beispielsweise Briefe, Tagebücher o.ä. Wenn, dann sind es meist Dokumente aus zweiter oder dritter Hand wie beispielsweise das Tagebuch seiner Tochter oder die Briefe Sarah Bernhardts an Dr. Pozzi. So entsteht zwangsläufig ein ziemlich fragmentarisches Bild des titelgebenden Mannes ‚im roten Rock‘, während sein Freund Robert de Montesquiou-Fezensac wesentlich häufiger Erwähnung findet.

So ist dieses Buch trotz des Titels kein Porträt einer einzelnen Person, sondern vielmehr ein Panorama der Belle Époque mit vielen Informationen aus jener Zeit – Klatsch, Tratsch und Belangloses mit inbegriffen.

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Veröffentlicht am 04.03.2021

Ein Affe wird zum geliebten Freund

Sprich mit mir
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Im Rahmen eines einzigartigen Experiments nimmt das Wissenschaftlerehepaar Schemerhorn das Schimpansenbaby Sam bei sich auf, um es wie ein Kind zu erziehen. Es lernt die (Gebärden-)Sprache, Essen, Trinken, ...

Im Rahmen eines einzigartigen Experiments nimmt das Wissenschaftlerehepaar Schemerhorn das Schimpansenbaby Sam bei sich auf, um es wie ein Kind zu erziehen. Es lernt die (Gebärden-)Sprache, Essen, Trinken, auf Toilette gehen. Doch als seine engste Bezugsperson verschwindet, zerbricht die Illusion eines menschgewordenen Affen: Sam, zwei Jahre, tobt und rast. Erst mit dem Auftauchen der Studentin Aimée kehrt wieder Frieden ein und zwischen den Beiden entsteht eine ganz besondere Beziehung. Doch leider ist dies nicht von Dauer.
Obwohl Sam durch Fernsehauftritte einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt und seine Fähigkeiten zweifelsfrei anerkannt werden, wird die finanzielle Unterstützung dieses Experiments beendet. Sam muss in eine Art Forschungslabor, in einen Käfig, gefangen, gemeinsam mit anderen Affen. Doch Aimée will das nicht akzeptieren.

Die Guten und Bösen sind fast schon ein bisschen klischeehaft dargestellt: Der böse Professor mit schwarzer Augenklappe, der seine Affen ausschließlich als Dinge betrachtet, ob sie nun sprechen können oder nicht. Die herzensgute Aimée, die bis zur Selbstaufopferung liebt. Und der Wissenschaftler Schemerhorn, der deutlich diffuser dargestellt wird, obwohl dennoch schnell klar ist, in welche Richtung sein Handeln gehen wird.

Trotzdem ist T.C. Boyle in diesem Buch ein wirkliches Kunststück gelungen wie ich finde. Er lässt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen, auch aus der Sams. Statt diesen aber zu vermenschlichen, in dem er ihm einen ’normalen‘ Tonfall verleiht, sind es seine bruchstückhaften Gedanken, die durch die großgeschriebenen Worte (die, die Sam in der Gebärdensprache kennt und versteht) bestimmt werden. So wirken diese vergleichsweise kurzen Abschnitte überaus glaubhaft.

Ich habe Sam in diesem Buch ins Herz geschlossen und konnte Aimées Handeln in Bezug auf ihn voll und ganz nachvollziehen (anderes hingegen nicht), was mich auch seitdem öfter über die Beziehung Mensch – Tier nachdenken lässt. Ein lesenswertes Buch!

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