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Veröffentlicht am 29.07.2019

Charaktertiefe, Anekdoten und eine Leiche im Olivenfass

Die geheime Mission des Kardinals
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„Glaube versetzt selten Berge,
Aberglaube immer ganze Völker.“
Resümee meiner bisherigen Beobachtungen (schrieb Rafik Schami)

Mit dem Roman „Die geheime Mission des Kardinals“ erzählt der in Damaskus ...

„Glaube versetzt selten Berge,
Aberglaube immer ganze Völker.“
Resümee meiner bisherigen Beobachtungen (schrieb Rafik Schami)

Mit dem Roman „Die geheime Mission des Kardinals“ erzählt der in Damaskus geborene Autor die Geschichte eines skurrilen Mordes, bringt den Leser in den Orient und lässt sie oder ihn einen Blick in die syrische Gesellschaft werfen. Zwischen den Religionen, zwischen Glaube und Aberglaube, Liebe und Einsamkeit, der aufblühenden Freundschaft eines italienischen und eines syrischen Mannes erzählt Rafik Schami außerdem detailliert vom letzten Fall des Kommissars Zakaria Barudi.

In einem Olivenfass wird ein italienischer Kardinal in die italienische Botschaft geliefert. Barudi, der kurz vor der Rente steht, übernimmt diesen Fall. Aufgrund der Wahrung des Friedens zwischen den Ländern wird ihm ein italienischer Kollege zur Seite gestellt. Die beiden verstehen sich auf Anhieb. Marco Mancini, der sehr gut arabisch sprechen kann und früher bereits in Syrien war, hält viel von dem aufrechten Barudi, der liebenswert, einsam und überaus erfahren dargestellt wird. Der jüngere Mancini ist ein smarter Typ, der nicht nur guten Wein liebt und wie Barudi ein genussvoller Esser der syrischen Küche ist, sondern der die Einsamkeit seines Gefährten durchaus verstehen kann, da er die ein oder andere gescheiterte Ehe vorweisen kann.
Weitere Charaktere werden vorgestellt und vielseitig beleuchtet. Aber vor allem Kommissar Schukri könnte als dritte Hauptfigur gesehen werden. Auch bei ihm findet sich das Thema der Einsamkeit zentral in seinem Leben wieder. Mit gelegentlichen Stelldicheins hält er sich über Wasser, wobei er sich einredet, dass er auch nichts anderes brauchen würde.

Schami legt viel Wert auf eine tiefe und vor allem gründliche Charaktervorstellung. Jede Hauptfigur soll verstanden werden und bekommt immer wieder eine Bühne für die eigenen Gedanken, sowie Episoden aus der Vergangenheit. Kommissar Barudi lässt er sogar in regelmäßigen Abständen via Tagebucheintrag kommunizieren. Der Roman besitzt eine sehr offene Erzählweise. Zu fast jedem Zeitpunkt ist vollkommen klar, welche Absichten, Gedanken beziehungsweise Ansichten die Figuren haben, die im Moment in jeder beschriebenen Szene und in jedem Satz die Schlüsselposition einnehmen. Diese offene Erzählweise ist mir bisher nicht begegnet und ich würde sie als besonderes Merkmal dieses Werkes deklarieren.

Somit gibt es keinen klassischen Spannungsaufbau, dennoch wird die Leserin oder der Leser Stück für Stück an die Lösung des eigentlich im Mittelpunkt stehenden ermordeten Kardinals herangeführt. Die Handlung baut sich sehr langsam auf, da zwischendurch immer wieder Platz für die persönlichen Anekdoten und Verständnis bringenden Erzählungen der Hauptcharaktere geschaffen wird. Charaktere werden vertieft oder sogar weiterentwickelt. Barudi lernt im Laufe des Romans zum Beispiel eine neue Liebe kennen, womit das Thema Einsamkeit plötzlich eine neue Richtung bekommt.
Ich sehe das an dieser Stelle als Stärke an, da mir ein Buch, das fremde Sichtweisen beleuchtet und für Verständnis plädiert sehr sympathisch und lesenswert erscheint.

Zu guter Letzt geht der Autor mit großer Ernsthaftigkeit an die Religionen heran, zeigt respektvoll auf, welche Vielfalt er gibt und lässt seine Figuren auch die ein oder andere Kritik an der Gesellschaft Syriens äußern. Wie werden Frauen behandelt? Welche Wünsche und Hoffnungen gibt es? Fanatismus, Disziplin und ein durch Schicksalsschläge geprägtes Weltbild werden thematisiert.

Einige weitere zentrale Fragen ergeben sich aus der Summe der genannten Themenbereiche. Welche Überzeugungen hat der Mensch aufgrund seiner Familie, seiner Herkunft, seiner Bildung, seiner Religion, seiner Mitmenschen? Was und wie viel reicht aus, um diese Überzeugungen unabdingbar für bestimmte Zwecke einzusetzen?

Im Laufe der Geschichte treffen Barudi und Mancini auf sogenannte Wunderheiler und religiöse Terroristen. Und es gibt auf allen Seiten Menschen, die sich überzeugen lassen, fest daran glauben, alles für Schwachsinn halten oder ihren Nutzen daraus ziehen. Ob gutgläubig oder manipulativ. In erster Linien hält sich kaum jemand für den Übeltäter, sondern eher im Gegenteil für den Erlöser.

In diesem Sinne scheint Rafik Schami mit seinem Zitat zu Beginn des Buchs, welches ich in dieser Rezension ganz oben angeführt habe, zu kritisieren, dass ein bestimmter Grad an Unwissenheit und Einfältigkeit sehr gefährlich sein kann, für sich selbst und seine Mitmenschen. Aberglaube ist die Angst vor etwas, das man nicht versteht und anstatt dem Unbekannten auf den Grund zu gehen und zu hinterfragen, lieber auf das hören, was alle sagen, während man die Hände über den Kopf nimmt und davoneilt.

Über „Die geheime Mission des Kardinals“ ließe sich noch vieles sagen. Es hat mir sehr gefallen, mir viele neue Aspekte Syriens verdeutlicht, eine sympathische Erzählweise vor Auge geführt, die relativ ausgeglichen zwischen heiter und melancholisch wechselt und in unzähligen Anekdoten ebenso von den schwierigen sowie von den leichten Augenblicken des Lebens der Kommissare und ihrer Mitmenschen berichtet.

Veröffentlicht am 17.06.2019

Originell: Lernen und Kreativ sein

Kunstgeschichte als Brotbelag
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Den Hashtag „#kunstgeschichtealsbrotbelag“ musste ich nach dem Durchblättern des kleinen Büchleins gleich mal in meinen Internetbrowser eingeben. Und siehe da: Viele der im Buch enthaltenen „Kunstwerke“ ...

Den Hashtag „#kunstgeschichtealsbrotbelag“ musste ich nach dem Durchblättern des kleinen Büchleins gleich mal in meinen Internetbrowser eingeben. Und siehe da: Viele der im Buch enthaltenen „Kunstwerke“ sind auch online zu finden.

Die Idee „Kunstgeschichte als Brotbelag“ ist meiner Meinung nach sehr originell. Obwohl, wie im amüsanten Vorwort der Herausgeberin Marie Sophie Hingst zu lesen, Brot in der erzählenden, sowie in der darstellenden Kunst das ein oder andere Mal eine vielsagende Rolle spielte. Ob als Synonym für Wohlstand oder als Stellvertreter einer Reihe unterschiedlichster Köstlichkeiten – Brot hat Sparpotential.

Positiv möchte ich ganz klar anmerken, dass ich die Kombination, die dieses Buch zeigt, sehr gelungen finde. Jede linke Seite enthält ein Kunstwerk der Vergangenheit, dessen Namen, Künstler und Jahreszahl sind ebenfalls vermerkt. Auf der rechten Seite befindet sich das nachgestellte „Brotkunstwerk“, das ebenfalls mit einigen Informationen bestückt wurde. Zum Beispiel, um was für ein Brot es sich handelt oder welche Belagzutaten verwendet wurden. Ich finde das Gesamtpaket clever und humorvoll umgesetzt und blättere immer mal wieder gerne durch die Seiten. Das ein oder andere lädt zum Nachmachen ein.

Die Auswahl der gezeigten Bilder ist zum Teil gut und vielseitig, aber auch begrenzt. Gerne hätte ich weitere Beispiele gehabt. Für mich ist es nicht sonderlich ausschlaggebend, dennoch finde ich es an dieser Stelle auch wichtig zu erwähnen, dass die kulinarischen Zutaten der zusammengestellten Brote nicht unbedingt nach Geschmack oder Sinnhaftigkeit kombiniert wurden. Hier war es lediglich wichtig, mit welchen Zutaten auch immer, ob Honig, Wurst, Käse oder Diverses, das Abgebildete möglichst nah an das Original anzulehnen.

Ein riesengroßes Lob für dieses kleine Buch mit den witzigen Zusammenstellungen an Kunst und Essen. Ein ulkiger Hingucker ist das Buch im Regal allemal und in einer lockeren Erzählrunde mit Freunden wird es auch gerne mal herumgezeigt.

Veröffentlicht am 31.05.2019

Die Frau mit den vielen Namen

Die Lotosblüte
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„Die Lotosblüte“ von Hwang Sok-Yong erzählt die Geschichte des Lebens einer Frau, die im Laufe der Geschehnisse viele Namen bekommt. Als Shim Chong im heutigen Korea geboren, wächst sie bei ihrem blinden ...

„Die Lotosblüte“ von Hwang Sok-Yong erzählt die Geschichte des Lebens einer Frau, die im Laufe der Geschehnisse viele Namen bekommt. Als Shim Chong im heutigen Korea geboren, wächst sie bei ihrem blinden Vater auf. Die Mutter ist früh verstorben und die Zustände auf dem südostasiatischen Kontinent und Inseln sind nicht die Besten. So trägt es sich zu, dass Chong in die Hände von Menschenhändlern gerät und verkauft wird. Als Konkubine eines reichen alten Chinesen wird sie gut behandelt und fortan „Lenhwa“ genannt. Nach nicht allzu langer Zeit verstirbt dieser neben ihr im Bett – nach den „Anstrengungen“ des Liebesspiels.

Lenhwa ist ein robustes Mädchen und sie will hoch hinaus. Über Kontakte, die sie im Laufe ihrer Zeit schließt, gelangt sich schließlich an einen Nachfahren des verstorbenen Chinesen. Dieser leitet ein Vergnügungsetablissement mit dem klangvollen Namen „Tempel des Glücks und der Freude“. Lenhwa, hübsch und beliebt, verdient sich dort in kurzer Zeit ein gutes Image. Sie lernt das bewirten, unterhalten, singen und das Musizieren mit Zupfinstrumenten. Rasch steigt sie zur „Hawachia“ auf, zur besten Gesellschafterin des Hauses. Einigen wenigen Gästen erlauben Eigentümer Kuan und die „Lingchia“, die Vorsteherin des Freudenhauses, mit Lenhwa zu schlafen. Auch verliebt sich Lenhwa das erste Mal in einen jungen Künstler, der im „Tempel des Glücks und der Freude“ gemeinsam mit seiner Familie darbietet. Später beschließt sie mit ihm zu gehen. Die beiden heiraten.

In den Wirren des Opiumkrieges, in der Mitte des 19. Jahrhunderts in China, kommt es zu brutalen Auseinandersetzungen. Lenhwa und ihr Mann erträumen ihre Zukunft, werden aber durch die Turbulenzen voneinander getrennt. Erneut gelangt Lenhwa in die Hände von Menschenhändlern, von denen sie der Reihe nach vergewaltigt wird. Im Anschluss wird sie verschifft und landet in einem Freudenhaus in Formosa, dem heutigen Taiwan.

Weitere Namen, die Chong auf ihrer Lebensreise erhält sind „Lotus“ (europäisch) und „Lenka“ (japanisch). Sowie „Lenhwa“ (chinesisch) bedeuten alle neuen Namen ungefähr dasselbe und kennzeichnen einen ausschlaggebenden Lebensabschnitt der vom Schicksal getretenen Koreanerin. Als Gesellschafterin, Mutter, Konkubine, Zweitfrau, Frau eines japanischen Politikers, Geisha und nicht zuletzt „Mama-san“ wiederfahren ihr noch weitere Schicksale, die sie maßgeblich prägen.

Wirklich immer nimmt sie die Wendungen von Zeit und Raum an und stellt sich selbstbewusst und ohne zu jammern ihren Herausforderungen. Dabei ist sie im späteren Verlauf jederzeit proaktiv und lenkt stolz ihr Leben in Bahnen, die ihre Erfahrungen sie gelehrt haben.

Ganz verstanden habe ich es nicht. Ihr sind so viele Dinge passiert, aber niemals hat sie sich selbst verloren. Stolz geht sie ihren Weg als asiatische Frau dieser Zeit – keine Zweifel, keine Ängste. Zumindest scheint dies zwischen den Zeilen lesbar zu sein. Der Schreibstil ist jederzeit vernunftbetont und die innere Gefühlswelt der Protagonisten wird so gut wie nie offenbart. Allein an Handlungen und in kurzen Rückerinnerungsmomenten von Chong werden einige Gedanken offengelegt und der Leser erfährt nicht nur durch Handlungen und Beschreibungen des Geschehens, was Chong denkt oder fühlt. Im Allgemeinen wird die Geschichte durch Handlungen und Beschreibungen des gesellschaftlichen Umfelds (historisch ummantelt) vorangetrieben. Das Ganze bekam für mich einen recht anschaulichen, aber gefühlskalten Anstrich.

Und wieder denke ich, da der Autor einer Kultur entspringt, mit der ich nur sehr oberflächlich vertraut bin, verstehe ich einige Beschreibungstiefen und -untiefen nicht sonderlich. Ich konnte mich wahrscheinlich in Chong als Frau hineinfühlen, aber ich konnte nicht den in Asien geborenen Menschen deschiffrieren, da meine europäischen Wurzeln mir ganz andere Dinge beibrachten. Umso spannender und dankbarer bin ich, dieses Werk gelesen zu haben – zeigte es mir doch eine historische Welt, von der ich bisher nicht viel wusste.

Veröffentlicht am 30.04.2019

Rebellische Frauen

Die Geschichte der schweigenden Frauen
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Angesiedelt in der Zukunft in der südwestasiatischen Metropole Green City, präsentiert die pakistanische Autorin Bina Shah, eine dystopische Geschichte, in welcher die meisten Frauen an einem Virus erkrankt ...

Angesiedelt in der Zukunft in der südwestasiatischen Metropole Green City, präsentiert die pakistanische Autorin Bina Shah, eine dystopische Geschichte, in welcher die meisten Frauen an einem Virus erkrankt und verstorben sind, sodass die wenigen Übrigen gesetzlich dazu verpflichtet sind zum Teil bis zu vier Gatten zu nehmen und so viele Kinder in die Welt zu setzen wie möglich. Frauen gibt es nur auf Zuteilung und ein Mitspracherecht scheint es seitens der Frauen nicht zu geben.

Aber es gibt eine geheime Rebellion: die Panah. Unter der Führung von Lin haben dort ein halbes Dutzend junge Frauen Zuflucht gefunden, um diesem Schicksal als Gebärmaschine zu entkommen. Jedoch muss die Panah ihr Überleben sichern. Deswegen besuchen die Frauen der Gemeinschaft nachts hochrangige Männer in Green City, um ihnen Zärtlichkeit zu spenden – ohne Sex. Und ich nehme an, dass sie dafür Geld erhalten. Die Autorin beschrieb diesen Aspekt eher aus dem gefühlten Standpunkt einer ihrer Hauptprotagonistinnen mit Namen Sabine, als sich detailliert tiefgreifenden Erklärungen der finanziellen, gesellschaftliche und politischen Situation zu widmen.

Am Rande erfuhr ich, dass die Welt der schweigenden Frauen hochmodern ist. Scheinbar gibt es riesige Wolkenkratzer und fahrerlose Autos, die ihre Insassen per Zieleingabe sicher zum gewünschten Ort bringen. Naturkatastrophen und Kriege beeinflussen/beeinflussten nachhaltig das Leben der Menschen in Green City.

Bina Shah beschrieb wie selbstverständlich einen Ort, den ich ihr so abkaufen konnte. Gerne hätte ich mehr zu ihrer Idee von dieser Welt erfahren. Im Zentrum ihrer Worte standen jedoch immer die Menschen mit ihren kurzen oder langen Hintergründen. Sie erklärte, warum diese und jene Personen sind wie sie sind, wie sie an ihren Ort des Geschehens kamen und welches Puzzleteil sie in der beschriebenen Geschichte spielen. Dies bekam sie meiner Meinung nach sehr urteilsfrei und nüchtern hin – was mir sehr gefällt. Aber gerne hätte ich mehr die spontanen Beweggründe der Charaktere beleuchtet bekommen. Viele Entscheidungen der Figuren im Verlauf der Geschichte schienen mir nicht sofort schlüssig.

Diese andere Denkweise der Autorin ist zu meiner sehr verschieden, weswegen ich unheimlich dankbar und froh bin, dieses Buch gelesen zu haben. Ich möchte mehr verstehen, was Menschen bewegt und ausmacht – fremde Komplexität spüren. Und vielleicht ist auch das der Grund, weswegen ich einige Reaktionen der Figuren nicht ganz herleiten konnte. Nichtsdestotrotz ist viel Interpretationsspielraum möglich. Keine Figur wird als wirklich böse dargestellt, jeder hat sein ganz persönliches Päckchen zu tragen und die Autorin weis das angenehm zu vermitteln.

Der Schreibstil ist einfach gehalten, wirkt dabei aber nicht fad. Auffällig ist auch die Aufmachung des Buches, die im Inneren mit dunklen Farbakzenten Kreise und ornamentartige Strukturen zeigt. Das Buch ist in drei übergeordnete Kapitelbereiche gegliedert. Die einzelnen Unterkapitel haben als Überschrift jeweils den Namen der Person, die in diesem Kapitel die Hauptfigur ist.

Insgesamt habe ich zwar etwas anderes erwartet, als ich das erste Mal das Cover sah, aber dennoch hat mich der Inhalt positiv überrascht. Gerne hätte ich mehr über die Gesellschaft und das Leben in dieser düsteren Zukunft gelesen. Aber trotz allem Stand das Leben und Leiden der Frauen im Mittelpunkt und das kam darüber hinaus wunderbar zur Geltung, wenn ich auch gerne tiefgreifendere Beweggründe aller Charaktere erfahren hätte.

Veröffentlicht am 21.04.2019

„50 Shades of Braun“

Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war
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„Mein Vaterland! – Warum ich ein Neonazi war“ von Christian E. Weißgerber ist eine ehrliche Erklärung, ein ehrlicher Versuch des Autors Verständnis in die Welt zu bringen. Herr Weißgeber tut sich anfangs ...

„Mein Vaterland! – Warum ich ein Neonazi war“ von Christian E. Weißgerber ist eine ehrliche Erklärung, ein ehrlicher Versuch des Autors Verständnis in die Welt zu bringen. Herr Weißgeber tut sich anfangs etwas schwer, dennoch erklärt er, dass es bei diesem Werk nicht um eine Entschuldigung geht. Vielmehr möchte er aufzeigen, dass es für ihn eine Entscheidung war den politischen Weg der Radikalisierung zu gehen. Im Laufe der Zeit bekam er diverse Denkanstöße und veränderte seine Denkgewohnheiten – aus diesem Grund ist das vorliegende Buch von ihm geschrieben worden und im orell füssli Verlag erschienen.

Eisenach in Thüringen. Im Jahre 1989 geboren, wuchs der Ich-Erzähler, der in den meisten Fällen namenlos auftritt (wir wissen ja alle wie er heißt), ohne Mutter, aber mit Schwester und verständnisloser Vaterfigur gut. Gespickt mit hohen Absolutionsansprüchen lernt der junge Christian von seinem Vater, dass sich die Menschen einfach durchschauen ließen. Man könne sich die Welt selbst erklären und vertraut dabei am besten nur auf sein eigenes Urteil, denn durch das erhabene Gedankengut wüsste man es ja sowieso besser als die anderen. Eine lieblose Erziehungsmethode versetzte die beiden Kinder eher in den Zustand der Resignation und Ehrfurcht, später in Unverständnis und Hass – zumindest im Falle des Autors. Über dem Verbleib der Schwester ist im weiteren Verlauf des Buches nichts weiter bekannt. Auch im weiteren Bekannten- und Freundeskreis lernt Christian radikale Meinungen, Gedanken der Absolution (Wie sich ein Mann zu verhalten hat. Reines Blut und ein gewisses Geburtsrecht, welches auch etwas über den natürlich angestammten Ort eines Volkes aussagt und vieles mehr.) und eine Treue verpflichtende Kameradschaft kennen, die ihm Gefühle von Halt, Einfluss und Mitbestimmung bringen.

Es liegt also auf der Hand, das eine Prägung im Leben des Autors stattfand, die ihn dazu bewog gewisse Entscheidungen zu treffen und einen Weg einzuschlagen, der ihn als extrovertierten Typen an eine Stelle brachte, an der er lautstark mitmischen wollte. Er lernte unterschiedliche Jugendgruppierungen der Skinhead- und Naziszene kennen, bemerkte Unterschiede in deren Ausprägung und Handlungsweise und entschied sich ebenfalls für ein Standing unter ihnen. Er wollte etwas bewegen. Er wollte seine innere Glaubenshaltung vertreten und kramte nun selbst in der Kiste des Absolutionsdenkens. Frei nach dem Motto, ich habe es so erdacht, es muss so sein und nicht anders.

Herr Weißgerber vermittelte mir mit dem Buch einen Überblick über die „50 Shades of Braun“. Auch die Naziszene machte einen optischen, sowie ideellen Wandel durch, passte sich an die Anforderungen der heutigen Zeit an, um neue Argumente und Überzeugungsmuster zu finden und wurzelt tiefer, als ich bisher immer dachte. Da gibt es zum Beispiel nicht nur die bekannten „Skinheads“, sondern auch sogenannte „Kraken“, „Öko-Nazis“ oder die „Autonomen Nationalisten“ (zu denen sich Christian eine Zeit lang zugehörig fühlt), um nur einige zu nennen. Jede Gruppe zeichnet sich durch wesentliche Merkmale aus und vertritt eigene Erklärungen für ihr „Überlegensein, der nicht an diesem Ort geborenen Mitmenschen“ und anderer politisch motivierter Themen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: „Auf der Suche nach verlorener Zärtlichkeit“ bildet der junge Christian eine autoritäre Persönlichkeit aus, um seine Wut zu kontrollieren und sich Gehör zu verschaffen. Er lernt die Naziszene kennen, erkennt Übereinstimmungen in dessen Gedankengut mit seinem eigenen und arbeitete sich zu einem vaterlandstreuen Aktivisten hoch. Je mehr Wissen sich in ihm vereint, desto mehr lässt Zweifel wachsen in ihm. So einfach ist das jedoch alles nicht. Bis er seinen Standpunkt wirklich hinterfragt vergehen noch einige Jahre...

Ich habe nun ein klareres Bild vor Augen, was den Nationalsozialismus dieser Zeit wachsen lässt und welche Ideen dahinter stecken. Vieles bezieht sich auch auf mythologische Inhalte, Musikbands preisen die Stärken des Werwolfes und huldigen ihre Überlegenheit, Absolutionsdenken greift ein Konstrukt von Zusammenhalt und Gänze auf und das Wissen, man wäre genau richtig – hier, an diesem Ort – gibt einem das Gefühl richtig zu sein, etwas Wahres zu tun.

Einige Gruppen verleugnen die antisemitistischen Handlungen der Vergangenheit.

Aus meiner Sicht geht es hier um verängstigte Kinder, die sich ungerecht behandelt fühlen und deren Blick auf die Welt sie für alles verschließt, was ihnen Linderung und Heilung bringen kann. Sie haben sich dafür entschieden, es nicht zu sehen. Manchmal fiel es mir aufgrund der vielen politischen Begriffe und der Ausdrucksweise schwer das Gelesene sofort gänzlich zu begreifen. Das Buch ist meiner Meinung nach nicht dick (256 Seiten), trotzdem habe ich recht lange gebracht, um alles zu erfassen. Das ein oder andere Mal habe ich Stellen mehrfach gelesen, um den Gehalt dessen (hoffentlich) richtig zu begreifen.

Ich bin dennoch sehr begeistert von dem Buch, da es mir Verständnis gebracht hat. Diese Erde benötigt Verständnis. Von allen Seiten für alle Seiten.

Vielen Dank für deinen Mut und deine Ehrlichkeit, Christian E. Weißgerber. Auf viele der beschriebenen Taten bist du vielleicht nicht mehr stolz. Aber ich denke, du kannst stolz auf dich sein, dass du in der Lage bist, deine Gedanken zu hinterfragen und nach Harmonie und Verständnis zu streben. Du bist über dich hinausgewachsen! Ich ziehe meinen Hut!