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Veröffentlicht am 10.03.2019

Sehr bewegende Familiengeschichte

Was uns erinnern lässt
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INHALT
1977: Das Zuhause der vierzehnjährigen Christine ist das ehemals mondäne Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald. Seit der Teilung Deutschlands liegt es hinter Stacheldraht in der Sperrzone ...

INHALT
1977: Das Zuhause der vierzehnjährigen Christine ist das ehemals mondäne Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald. Seit der Teilung Deutschlands liegt es hinter Stacheldraht in der Sperrzone direkt an der Grenze. Ohne Passierschein darf niemand das Waldstück betreten, irgendwann fahren weder Postauto noch Krankenwagen mehr dorthin. Fast scheint es, als habe die DDR das Hotel und seine Bewohner vergessen.
2017: Die junge Milla findet abseits der Wanderwege im Thüringer Wald einen überwucherten Keller und stößt dort auf einen Schulaufsatz von 1977, geschrieben von einem Mädchen namens Christine über die Geschichte des Hotels Waldeshöh. Dieser besondere Ort lässt Milla nicht los, sie spürt Christine auf, um mehr zu erfahren. Die Begegnung verändert beide Frauen:
Während die eine lernt, Erinnerungen anzunehmen, findet die andere Trost im Loslassen.
(Quelle: Klappentext Harper Collins)
MEINE MEINUNG
In ihrem neuen Roman „Was uns erinnern lässt“ erzählt die deutsche Autorin Kati Naumann eine großartige, sehr bewegende Familiengeschichte, die sich über mehrere Generationen erstreckt und von einem dunklen, leidvollen Geheimnis umgeben wird.
Angesiedelt ist die Handlung am Rennsteig, dem bekannten Höhen- und Wanderweg über den Kamm des Thüringer Waldes im deutsch-deutschen Grenzgebiet. Gekonnt greift Naumann in ihrer sehr einfühlsam und eindringlich geschilderten Geschichte ein wenig bekanntes, unrühmliches Kapitel der ostdeutschen Vergangenheit auf und macht uns auf die damalige Staatswillkür und die tragischen Schicksale von unzähligen DDR-Bürgern aufmerksam. Hierbei hat sie ihre Familiensaga geschickt in eine fesselnde Rahmenhandlung eingewoben, die uns mitnimmt auf eine eindrucksvolle Suche nach universellen Grenzerfahrungen und der Bedeutung von Heimat und uns mit ihrer Intensität rasch in ihren Bann zieht.
Man spürt beim Lesen sehr deutlich die vielfältigen persönlichen Bezüge der Autorin zum Thema und ihre Verbundenheit zum Thüringer Wald.
Das geschilderte Schicksal ihrer Familie Dressel ist zwar fiktiv, doch basieren die sehr anschaulich geschilderten Begebenheiten auf fundierten Recherchen der Autorin zu historischen Fakten aus Archiven und auf unzähligen Gesprächen mit Zeitzeugen, in denen sie unglaubliche und leidvolle Lebensgeschichten von Bewohnern erfuhr, die in den Sperrgebieten lebten und in der DDR zwangsumgesiedelt wurden. Viele sehr eindrückliche und lebendige Szenen stammen auch aus Erinnerungen an ihre eigene glückliche Kindheit, die sie bei den Großeltern im Südthüringischen Sperrgebiet am idyllischen Rennsteig verbrachte, und eigenen Erfahrungen am innerdeutschen Grenzgebiet. Hervorragend gelungen ist der Autorin auch die einfühlsame, vielschichtige Figurenzeichung ihrer vielen oft so unterschiedlichen Charaktere, die sehr authentisch und lebendig wirken. So hat man bald das Gefühl, die fiktiven Figuren persönlich zu kennen. Der fesselnde, eindringliche Schreibstil der Autorin ist sehr ansprechend und lässt sich sehr angenehm lesen.
Der Roman wird auf verschiedenen Zeitebenen erzählt; zum einen spielt er in der Gegenwart, mit Milla als eine der Hauptfiguren und zum anderen in der Vergangenheit mit der Familie Dressel. Dieser historische Handlungsstrang erstreckt sich über einen Zeitraum von 1945 bis in die 1977er Jahre. Durch einen Wechsel der Handlungsstränge und den verschiedenen Schauplätzen wird der Spannungsbogen allmählich immer mehr gesteigert. Zusätzliche Spannung erhält die Geschichte durch das unheilvoll über allem schwelende Familiengeheimnis, das den Dressels bis in die heutige Generation viel Leid, Traurigkeit und Unfrieden beschert hat und uns Lesern viel Stoff zum Spekulieren bietet. Sehr anschaulich hat die Autorin herausgearbeitet, wie es den Menschen damals gelungen ist, in einem penibel überwachten Sperrgebiet ein halbwegs normales Leben zu führen. Zugleich führt sie uns sehr deutlich vor Augen, welche verheerenden Auswirkungen die Zwangsumsiedlungen und staatliche Willkür auf die Bürgern damals hatten und wie sehr auch noch Jahrzehnte später diese Erlebnisse ihr Leben prägen.
Ein durchaus beklemmender, bedrückender Roman der deutsch-deutschen Geschichte, der sehr lehrreich für die Gegenwart ist, und eine melancholische Geschichte über eine verlorene Zeit, die aber mit ihrem versöhnlichen Ausklang auch sehr zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt und eine tröstliche und heilsame Kraft der unvergesslich schönen Erinnerungen heraufbeschwört.
FAZIT
Eine eindrucksvoll erzählte, sehr bewegende Familiengeschichte und gelungene Aufarbeitung einer bedrückenden Episode aus der deutsch-deutschen Geschichte.
Ein sehr lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt und noch länger nachwirkt!

Veröffentlicht am 02.03.2019

Nishino und die Flüchtigkeit von Liebe

Die zehn Lieben des Nishino
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INHALT
Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät. Warum hat keine seiner Lieben Bestand? Es beginnt schon in der Schule. Warum ist die Welt so unendlich? fragt Nishino ...

INHALT
Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät. Warum hat keine seiner Lieben Bestand? Es beginnt schon in der Schule. Warum ist die Welt so unendlich? fragt Nishino seine Freundin, um sie gleich mit der nächsten zu betrügen. Ein Mädchen spricht ihn auf der Straße an und will sofort Sex mit ihm. Seine Chefin hat sich geschworen, nichts mit ihm anzufangen, bis er sie aus heiterem Himmel verführt. In seinen Fünfzigern möchte er zusammen mit einer jungen Geliebten sterben, doch so weit will sie nicht mit ihm gehen.
(Quelle: Hanser Verlag)

MEINE MEINUNG
“Die zehn Lieben des Nishino" ist der neue Roman der bekannten und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichneten japanischen Autorin Hiromi Kawakami, der nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Hierin thematisiert Kawakami nicht nur die Flüchtigkeit und Unberechenbarkeit der Liebe in der heutigen Zeit, sondern auch vom schwierigen Verhältnis zwischen Mann und Frau. Zugleich gewährt sie uns einen aufschlussreichen Einblick in die uns oftmals fremde und unverständliche japanische Mentalität und Kultur.
Kawakami versteht es, mit ihrem schnörkellosen, prägnanten Schreibstil, wundervoll poetischen Bildern und ihrem ruhigen, einfühlsamen Erzählfluss eine unnachahmliche Atmosphäre entstehen zu lassen, die mich gefangen genommen hat.
Im Mittelpunkt ihres neuen Romans steht der gutaussehende, überaus charmante aber etwas distanziert wirkende Nishino, der als “moderner Don Juan” und perfekter Liebhaber stets von den Frauen umschwärmt wird, aber dennoch zeitlebens keine erfüllende, dauerhafte Beziehung zu einer Frau aufbauen kann. Oftmals hat er sogar auf der Suche nach wahrer Liebe seine Liebschaften parallel zueinander laufen. Auf sehr ungewöhnliche Art portraitiert die Autorin ihren rätselhaften Protagonisten Nishino, denn lässt sie ihn nicht persönlich seine Lebensgeschichte erzählen, sondern zehn Geliebte Nishinos kommen zu Wort, die in jeweils in sich abgeschlossenen Kapiteln aus ihrer subjektiven Perspektive über ihre kurzzeitige Liebesbeziehung zum ihm und ihre Trennung berichten. In einzelnen, scheinbar unbedeutende Episoden und willkürlich aneinandergereihten Schilderungen der so unterschiedlichen Frauen wie dem Kennenlernen, ihrem Zusammensein auf teilweise sehr eigenwilliger Basis, alltägliche Belanglosigkeiten, ja sogar merkwürdige Dreiecksbeziehungen formt sich allmählich ein fragmentarisches, zwiespältiges Bild über den Charakter und die Lebensgewohnheiten des Protagonisten.
Insgesamt erfährt der Leser in den zehn nicht chronologisch angeordneten Episoden und stets subjektiv eingefärbten Erzählungen der Geliebten sehr viel über Nishinos Leben und seine Gewohnheiten, vor allem über seine Beziehungsängste, Selbstverliebtheit und der Widersprüchlichkeit seiner Gefühle und seiner Wunschvorstellung von Liebe. Dennoch schwingt beim Lesen stets auch ein Zweifel am Wahrheitsgehalt der Berichte mit. So kam mir bisweilen der Verdacht, ob Nishino nicht seine Gespielinnen oftmals getäuscht hat und ihnen bewusst etwas vorgespielt hat. So bleibt mein Eindruck von Nishinos Persönlichkeit bis zuletzt vage - eine faszinierende Annäherung an einen undurchsichtigen, unnahbaren Charakter, der seinen eigenen Mikrokosmos geschaffen hat.

FAZIT
Ein außergewöhnlicher, sehr ruhiger und atmosphärisch dichter Roman aus Japan, zu dem man allerdings nicht leicht Zugang findet!

Veröffentlicht am 02.03.2019

Packender, temporeicher Schweden-Thriller

Der Patriot
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INHALT
Nach dem kaltblütigen Mord an einer jungen, liberalen Journalistin verbreitet sich großes Unbehagen in den schwedischen Nachrichtenredaktionen. Die Vertreter der sogenannten "Lügenpresse" sind längst ...

INHALT
Nach dem kaltblütigen Mord an einer jungen, liberalen Journalistin verbreitet sich großes Unbehagen in den schwedischen Nachrichtenredaktionen. Die Vertreter der sogenannten "Lügenpresse" sind längst massive Drohungen gewohnt, doch müssen sie tatsächlich um ihr Leben bangen, denn es bleibt nicht bei einem Opfer und populistische Meinungsmacher heizen die Stimmung noch an.
Nur die junge, ehrgeizige Nachrichtenredakteurin Madeleine Winther lässt dies alles recht kalt und völlig unerschrocken nutzt sie die Situation, um ihre Karriere weiter voranzutreiben.
Der skrupellose und zu allem entschlossene Serienkiller Carl Cederhielm scheint in Stockholm mit den Medien abrechnen zu wollen, die dem ungezügelten Flüchtlingszustrom in seine Heimat wohlwollend gegenüberstehen. Zusammen mit zwei gleichgesinnten Rechtsextremen verfolgt Carl Cederhielm seine perfide Mission und macht gnadenlos Jagd auf die Journalisten auf seiner Todesliste.
Doch dann taucht ein völlig unbeteiligter Akteur aus seinem chilenischen Exil auf - August Novak. Der junge schwedische Ex-Soldat und Bodyguard ist zum Äußersten entschlossen, kommt den schwedischen Terroristen in die Quere und wird zu einem äußerst gefährlichen Gegenspieler.

MEINE MEINUNG
Dem ehemaligen schwedischen Journalisten und jungen Debütautor Pascal Engman ist mit seinem Erstling „Der Patriot“ ein beeindruckender, äußerst rasanten Thriller gelungen, der mich mit seiner brandaktuellen, sehr glaubwürdig ausgearbeiteten Thematik von Beginn an fesseln konnte.
Der Autor hat sich für seinen Page Turner einen sehr packenden und erschreckend realistischen Plot ausgedacht, der uns in eine beklemmende und brutale Realität mitnimmt, die wir mittlerweile überall in Europa beobachten können. Anschaulich führt uns Engman beängstigende Einstellungen und Strömungen in unserer Gesellschaft vor Augen, die die Politik nur zu gerne verdrängen und nicht wahrhaben möchte.
In seinem Thriller greift er zahlreiche Schlagworte wie Flüchtlingsflut, Populismus, rechtsextremistischer Patriotismus, Terrorismus, Manipulation durch Fake-News und skrupelloser Waffenhandel auf, die tagtäglich durch die Medien geistern. Geschickt verdichtet er die unterschiedlichen Themenbereiche zu einer vielschichtigen, wirklich packenden Story, die mich in Atem hielt, und ich den Thriller schließlich nicht mehr aus der Hand legen konnte.
Der Autor versteht es hervorragend, temporeich und mitreißend zu schreiben, wobei man sich auch auf einige recht brutale und blutrünstige Szenen gefasst machen sollte. Der schockierende Prolog, der mit der Ermordung der Journalistin Hannah Löwenström endet, kurz gehaltene Kapitel mit Cliffhanger und rasche Perspektivwechsel sorgen schon von Beginn an für enorme Spannung. .
Die komplex angelegte Handlung mit verschiedenen parallel laufenden Erzählsträngen, unterschiedlichen Schauplätzen und etlichen Akteuren ist lange Zeit nicht vorhersehbar. Einige unerwartete Wendungen sorgen für einen nervenaufreibenden Lesespaß, lassen Raum zum Spekulieren und geben viele Rätsel auf. Erst beim äußerst fesselnden Showdown führt der Autor geschickt die verschiedenen, miteinander verwobenen Handlungsstränge zusammen und lässt die Wege der unterschiedlichen Charaktere schließlich sich für kurze Zeit kreuzen. Natürlich bedient sich der Autor bisweilen auch einiger, für dieses Genre recht typischer Klischees, und überstrapaziert Zufälle in seinem Plot für meinen Geschmack bisweilen etwas zu sehr, aber insgesamt mindert dies die Glaubwürdigkeit und Unterhaltungswert seiner Geschichte kaum.
Der Autor hat mit seinem Protagonisten und Gegenspielern faszinierende, recht vielschichtig angelegte und stimmige Charaktere geschaffen, deren Hintergrundgeschichten und Motivation man gut nachvollziehen konnte. Zudem gewährt der Autor uns einige sehr schockierende Einblicke in die Abgründe der menschlichen Psyche und zeichnet ein nachdenklich stimmendes, realitätsnahes Bild unserer Gesellschaft und Politik.

FAZIT
Ein packender, temporeicher Schweden-Thriller mit einer brandaktuellen, sehr realistischen Thematik!
Ein lesenswertes Debüt, das sehr neugierig auf den bereits auf Schwedisch erschienenen 2. Band macht und sich mit dem internationalen Organhandel beschäftigt.

Veröffentlicht am 02.03.2019

Aufrüttelnde Dystopie

Die Mauer
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INHALT
Während in England der Brexit vorbereitet wird, legt Bestsellerautor John Lanchester seinen von der Gegenwart inspirierten neuen Roman vor: Joseph Kavanagh tritt seinen Dienst auf der Mauer an, ...

INHALT
Während in England der Brexit vorbereitet wird, legt Bestsellerautor John Lanchester seinen von der Gegenwart inspirierten neuen Roman vor: Joseph Kavanagh tritt seinen Dienst auf der Mauer an, die England seit dem großen Wandel umgibt. Er gehört nun zu jener Gruppe von jungen Menschen, die die Mauer unter Einsatz ihres Lebens gegen Eindringlinge verteidigt. Der Preis für ein mögliches Versagen ist hoch. Schaffen es Eindringlinge ins Land, werden die verantwortlichen Verteidiger dem Meer - und somit dem sicheren Tod - übergeben. Das Leben auf der Mauer verlangt Kavanagh einiges ab, doch seine Einheit wird zu seiner Familie, und mit Hifa, einer jungen Frau, fühlt er sich besonders eng verbunden. Gemeinsam absolvieren sie Kampfübungen, die sie auf den Ernstfall vorbereiten sollen. Denn ihre Gegner können jeden Moment angreifen. Und die sind gefährlich, weil sie für ein Leben hinter der Mauer alles aufs Spiel setzen.
(Quelle: Klett Cotta Verlag)

MEINE MEINUNG
In seinem neuen Roman „Die Mauer“ thematisiert der britischen Autor John Lanchester einige aktuelle und bedeutsame Herausforderungen unserer Zeit auf, wie die nicht enden wollenden Flüchtlingsströme, wachsende politische Spannungen und der immer stärker zunehmende Fremdenhass in der Bevölkerung.
Wer aber meint, dass dieser Roman die aktuelle Brexit Debatte oder Trumps Mauerbaupläne an der mexikanischen Grenze thematisiert, wird das Buch sicherlich bald enttäuscht zu Seite legen.
Der Autor erzählt in seinem Roman vielmehr eine fesselnde Geschichte über Liebe, Vertrauen und Überlebenskampf in naher Zukunft und in einer dystopisch anmutenden Welt, die sich in vielfältiger Weise mit der Flüchtlingsproblematik auseinandersetzen muss. Nach einer nicht näher benannten Klimakatastrophe, die von allen nur als „Wandel“ bezeichnet wird und einem drastischen Anstieg der Meeresspiegel, wappnet sich der Staat gegen die „Anderen“, Flüchtlingen aus dem Süden, die mit allen erdenklichen Mitteln versuchen, den bestens bewachten Schutzwall zu überwinden und ins Land zu gelangen. Zum Erhalt seines „Status quo“ betreibt der Staat einen gigantischen Aufwand.
Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Ich-Erzähler und Protagonist Joseph Kavanagh, von seinen Kollegen kurz „Yeti“ genannt. Der junge englische Rekrut ist verpflichtet, auf der gigantischen, 10000 km langen und die Insel komplett umgebenden Mauer seinen Dienst als Verteidiger für zwei Jahre abzuleisten. Aus seiner lakonischen, sehr nüchtern gehaltenen Sichtweise schildert er seine Erlebnisse im Schichtdienst auf dem Wall und Trainingseinheiten. Sehr anschaulich und eindringlich führt uns der Autor seinen eintönigen, trostlosen Alltag vor Augen - ein strikt geregeltes, Leben, das von Einsamkeit, Disziplin und Gehorsam geprägt ist und aus endlosen Routinen besteht. “Es ist alles Betonwasserwindhimmel. Im Grunde ist immer alles gleich.” Letztlich ist es ein beklemmendes, perspektivloses Dahinvegetieren, das den Verteidigern aufgezwungen wird und das sie in widerspruchsloser Lethargie akzeptieren.
Auch wenn der Protagonist insgesamt wenig von seinen Gedanken und Emotionen preisgibt, kann man sich in seine Psyche und Beweggründe gut hineinversetzen und beginnt mit ihm mitzufühlen.
Als Leser gewinnt man allmählich immer tiefere Einblicke in die Lebensrealitäten dieses abgeschotteten Staats, der auf eine schockierende politische Gesinnung schließen lässt und hinter der ein straff organisiertes totalitäres System zu stecken scheint, das vor allem seine privilegierte Bevölkerung zu schützen versucht. Eine bizarre, kalte und abweisende Welt in Schwarz-Weiß mit Verteidigern, Fortpflanzlern, Dienstlingen, einer Bevölkerung, die mit Chips gekennzeichnet ist, unfähigen Babypolitikern auf der einen Seite und den Anderen als größtes Feindbild auf der anderen.
Über lange Zeit begleiten wir Yeti bei seinem Dienst auf der Mauer, bei dem er sich als einzigen Lichtblick in die junge Hifa verliebt, bis es schließlich zu einer sehr überraschenden Wendung kommt, die ich allerdings bereits vorausgeahnt hatte. Geschickt katapultiert der Autor seine Figuren ganz unvermittelt in ein völlig anderes Umfeld – auf die andere Seite, nämlich hilflos im Meer und Naturgewalten ausgesetzt. Bei ihren abenteuerlichen Erlebnissen werden sie nun an ihre körperlichen und ethischen Grenzen gebracht und müssen um ihr Leben kämpfen.
Sehr aufwühlend ist das offene Ende des Romans gestaltet, das mich sehr nachdenklich und mit vielen Fragen zurücklässt. Eine überaus erschreckende, beklemmende Parabel!

FAZIT
Eine bewegende, nachdenklich stimmende Dystopie zur Flüchtlingsproblematik - fesselnd geschrieben und erschreckend realitätsnah!

Veröffentlicht am 27.01.2019

Großartiger, bewegender Roman

Die Unsterblichen
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INHALT
New York 1969: Die Geschwister Simon, Klara, Daniel und Varya legen ihr Taschengeld zusammen und suchen eine Wahrsagerin auf. Die kann angeblich den Tag des Todes vorhersagen. Aufgebracht, ungläubig, ...

INHALT
New York 1969: Die Geschwister Simon, Klara, Daniel und Varya legen ihr Taschengeld zusammen und suchen eine Wahrsagerin auf. Die kann angeblich den Tag des Todes vorhersagen. Aufgebracht, ungläubig, schulterzuckend reagieren die Kinder auf die Prophezeiung – und doch wird das Wissen ihr Leben beeinflussen. Während Simon sein Glück im liberalen San Francisco der 80er Jahre findet und Klara sich ihrer Leidenschaft Magie verschreibt, suchen Daniel als Arzt und Varya als Wissenschaftlerin sicheren Boden. Und die Antwort auf die Frage, ob die Wahrsagerin recht behalten würde ...
(Quelle: DerHörverlag)
MEINE MEINUNG
Mit "Die Unsterblichen" ist der US-amerikanischen Autorin Chloe Benjamin ist eine großartige, sehr bewegende Familiengeschichte gelungen, die einen sehr berührt, nachdenklich stimmt und dazu anregt, über das eigene Leben und den Tod zu reflektieren. Geschickt thematisiert die Autorin in ihrem beeindruckenden Roman die Frage “Wenn du wüsstest, an welchem Tag du stirbst: Wie würdest du leben?” Gibt es tatsächlich Schicksal, Vorbestimmung oder selbsterfüllende Prophezeiungen, die unser Leben lenken?
Äußerst ergreifend und intensiv erzählt die Autorin ihre facettenreiche, recht mystisch angehauchte Geschichte über die vier Gold-Geschwister Simon, Klara, Daniel und Varya, die im Verlauf der schicksalhaften, chronologischen Geschehnisse immer mehr Eigendynamik und mitreißende Intensität entwickelt. Nach einer gemeinsamen Einführung in die Familie widmet die Autorin jedem ihrer vier Protagonisten nacheinander ein eigenen Abschnitt im Buch, in dem sie deren Lebensweg nach der unheilvollen Vohersagung schildert und zugleich die besonderen Eigenheiten der jeweiligen Charaktere beleuchtet. Fesselnd ist es mitzuerleben, wie unterschiedlich die Geschwister mit dem unheilvollen Wissen über ihren Todestag umgehen und wie dennoch ihr ganzes Leben bewusst oder unbewusst von ihren Entscheidungen geprägt wird
Mit ihrem faszinierend leichten und zugleich eindringlichem Schreibstil versteht Benjamin es hervorragend, den Leser von Beginn an zu fesseln und ihn emotional immer tiefer in die tragische Familiengeschichte hineinzuziehen, so dass ihn die ergreifenden Schicksale der Gold-Kinder einfach nicht mehr loslassen.
Zum Hörbuch:
Das auf 680 min gekürzte Hörbuch wird von dem versierten Sprecher Wolfram Koch gelesen, der die atmosphärisch dichte Geschichte mit einer angenehm ruhigen Stimme, der notwendigen Distanz zu den Figuren und in einem angemessenen Tempo gekonnt präsentiert. Mit geschickten Wechseln des Lesetempos, Verändern der Intonation und Lautstärke gestaltet der Sprecher die Handlung sehr abwechslungsreich und vermag seine Hörer mühelos ins Geschehen ziehen. Insgesamt eine rundum gelungene Lesung!
FAZIT
Eine äußerst gelungene, außergewöhnliche und sehr beeindruckende Familiengeschichte - warmherzig geschrieben, tiefgründig und sehr nachdenklich stimmend!
Sowohl der Roman als auch die gekürzte Hörbuchfassung sind absolut empfehlenswert.