Sehr gelungenes Debüt
LeinseeMEINE MEINUNG
Mit dem Debüt „Leinsee“ ist der deutschen Autorin Anne Reinecke ein außerordentlich faszinierender Entwicklungsroman gelungen, der mich vor allem mit ihrem bemerkenswerten Schreibstil beeindruckt ...
MEINE MEINUNG
Mit dem Debüt „Leinsee“ ist der deutschen Autorin Anne Reinecke ein außerordentlich faszinierender Entwicklungsroman gelungen, der mich vor allem mit ihrem bemerkenswerten Schreibstil beeindruckt hat.
Der Roman beginnt mit einer Ausnahmesituation für den jungen Protagonisten, der sich unter dem Pseudonym Karl Sund als aufstrebender Künstler in Berlin etabliert hat. Nach vielen Jahren ohne jeglichen Kontakt zu seinen berühmten Künstler-Eltern, muss er zu seinem Elternhaus zurückkehren, um die Beerdigung seines Vaters August zu organisieren, der Selbstmord begangen hat. Seine todkranke Mutter Ada befindet sich währenddessen im Koma auf der Intensivstation, da sie sich einer lebensbedrohlichen Operation mit ungewissem Ausgang unterzogen hatte. Der Leser erlebt die Hauptfigur anfangs in einer inneren Krise und gefangen in seiner aufgewühlten Gedankenwelt, denn unvermittelt ist Karl gezwungen, sich mit seiner schwierigen Kindheit und der sehr problematischen Beziehung zu seinen Eltern auseinander zu setzen. Schrittweise werden immer mehr Details aus Karls Vergangenheit und seine tragische Familiengeschichte enthüllt, so dass man zunehmend Einblick in seine komplexe Persönlichkeit erhält und sein Verhalten besser zu verstehen beginnen. Der Autorin ist es hierbei hervorragend gelungen, sein Innenleben einzufangen und uns an seiner Wut, Verlust, Trauer und Sehnsucht nach der ihm stets versagten Anerkennung und Nähe zu Mutter teilhaben zu lassen.
Sehr beiläufig und behutsam erzählt sie die ungewöhnliche Geschichte um die achtjährige Tanja, die bei Karl im Garten auftaucht und ihn ganz unbekümmert beobachtet. Fasziniert verfolgt man wie die beiden mit kleinen, spielerischen Gesten Kontakt aufnehmen und über einfallsreiche bis bizarre Überraschungsgeschenke größtenteils nonverbal miteinander kommunizieren. Schon bald ist man gefangen von Karls ganz eigener Welt voll seltsamer Angewohnheiten, seinen kindlichen, irrationalen Verhaltensweisen und seinem neu gefundenen Selbstverständnis. Im Laufe der Zeit entsteht zwischen den beiden eine ganz außergewöhnliche Freundschaft, die zum Teil auch etwas befremdliche Züge trägt. Das selbstbewusste, unberechenbare Mädchen, das mich anfangs oft an Pippi Langstrumpf erinnerte, kann Karl den benötigten Rückhalt geben und wird zunehmend zu einer zentralen Figur seinem Leben. Im Laufe der Handlung begleiten wir Karls charakterliche und künstlerische Entwicklung über das folgende Jahrzehnt, erleben aber auch seine innere Zerrissenheit und Sprunghaftigkeit auf dem Weg zu sich selbst und neuen Ausdrucksformen.
Die Autorin versteht es, mit viel Feingespür und einer besonderen Beobachtungsgabe außergewöhnliche Stimmungen und zwischenmenschliche Zwischentöne in ihrer Geschichte einzufangen und diese auf unnachahmliche Weise in wundervollen Bildern zu vermitteln. Besonders gut haben mir hierbei auch die originellen Überschriften der Kapitel gefallen, die sich mit ungewöhnlichen Farbkompositionen wie „Gottweiß“, „Kaugummigrau“ oder „Schaumstoffgelb“ auf eine inhaltliche Besonderheit im jeweiligen Abschnitt beziehen. Reineckes prägnanter, klarer Schreibstil gewürzt mit feinsinnigen, humorvollen Passagen und einer guten Portion Kritik am Kunstbetrieb macht den Roman zudem zu einem besonderen Leseerlebnis.
FAZIT
Ein faszinierender, nachdenklich stimmender Entwicklungsroman - farbenfroh, voller Poesie und mit einem wundervollen Schreibstil! Sehr lesenswert!