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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.03.2018

Sehr gelungenes Debüt

Leinsee
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MEINE MEINUNG
Mit dem Debüt „Leinsee“ ist der deutschen Autorin Anne Reinecke ein außerordentlich faszinierender Entwicklungsroman gelungen, der mich vor allem mit ihrem bemerkenswerten Schreibstil beeindruckt ...

MEINE MEINUNG
Mit dem Debüt „Leinsee“ ist der deutschen Autorin Anne Reinecke ein außerordentlich faszinierender Entwicklungsroman gelungen, der mich vor allem mit ihrem bemerkenswerten Schreibstil beeindruckt hat.
Der Roman beginnt mit einer Ausnahmesituation für den jungen Protagonisten, der sich unter dem Pseudonym Karl Sund als aufstrebender Künstler in Berlin etabliert hat. Nach vielen Jahren ohne jeglichen Kontakt zu seinen berühmten Künstler-Eltern, muss er zu seinem Elternhaus zurückkehren, um die Beerdigung seines Vaters August zu organisieren, der Selbstmord begangen hat. Seine todkranke Mutter Ada befindet sich währenddessen im Koma auf der Intensivstation, da sie sich einer lebensbedrohlichen Operation mit ungewissem Ausgang unterzogen hatte. Der Leser erlebt die Hauptfigur anfangs in einer inneren Krise und gefangen in seiner aufgewühlten Gedankenwelt, denn unvermittelt ist Karl gezwungen, sich mit seiner schwierigen Kindheit und der sehr problematischen Beziehung zu seinen Eltern auseinander zu setzen. Schrittweise werden immer mehr Details aus Karls Vergangenheit und seine tragische Familiengeschichte enthüllt, so dass man zunehmend Einblick in seine komplexe Persönlichkeit erhält und sein Verhalten besser zu verstehen beginnen. Der Autorin ist es hierbei hervorragend gelungen, sein Innenleben einzufangen und uns an seiner Wut, Verlust, Trauer und Sehnsucht nach der ihm stets versagten Anerkennung und Nähe zu Mutter teilhaben zu lassen.
Sehr beiläufig und behutsam erzählt sie die ungewöhnliche Geschichte um die achtjährige Tanja, die bei Karl im Garten auftaucht und ihn ganz unbekümmert beobachtet. Fasziniert verfolgt man wie die beiden mit kleinen, spielerischen Gesten Kontakt aufnehmen und über einfallsreiche bis bizarre Überraschungsgeschenke größtenteils nonverbal miteinander kommunizieren. Schon bald ist man gefangen von Karls ganz eigener Welt voll seltsamer Angewohnheiten, seinen kindlichen, irrationalen Verhaltensweisen und seinem neu gefundenen Selbstverständnis. Im Laufe der Zeit entsteht zwischen den beiden eine ganz außergewöhnliche Freundschaft, die zum Teil auch etwas befremdliche Züge trägt. Das selbstbewusste, unberechenbare Mädchen, das mich anfangs oft an Pippi Langstrumpf erinnerte, kann Karl den benötigten Rückhalt geben und wird zunehmend zu einer zentralen Figur seinem Leben. Im Laufe der Handlung begleiten wir Karls charakterliche und künstlerische Entwicklung über das folgende Jahrzehnt, erleben aber auch seine innere Zerrissenheit und Sprunghaftigkeit auf dem Weg zu sich selbst und neuen Ausdrucksformen.
Die Autorin versteht es, mit viel Feingespür und einer besonderen Beobachtungsgabe außergewöhnliche Stimmungen und zwischenmenschliche Zwischentöne in ihrer Geschichte einzufangen und diese auf unnachahmliche Weise in wundervollen Bildern zu vermitteln. Besonders gut haben mir hierbei auch die originellen Überschriften der Kapitel gefallen, die sich mit ungewöhnlichen Farbkompositionen wie „Gottweiß“, „Kaugummigrau“ oder „Schaumstoffgelb“ auf eine inhaltliche Besonderheit im jeweiligen Abschnitt beziehen. Reineckes prägnanter, klarer Schreibstil gewürzt mit feinsinnigen, humorvollen Passagen und einer guten Portion Kritik am Kunstbetrieb macht den Roman zudem zu einem besonderen Leseerlebnis.
FAZIT
Ein faszinierender, nachdenklich stimmender Entwicklungsroman - farbenfroh, voller Poesie und mit einem wundervollen Schreibstil! Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 21.03.2018

Ein berührender, kunstvoll geflochtener Frauenroman

Der Zopf
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INHALT
Eine Reise rund um den Globus - Drei Kontinente, drei Frauen, drei Lebenswege, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dennoch eint sie das gleiche Schicksal. Smita aus Indien, Giulia aus Sizilien ...

INHALT
Eine Reise rund um den Globus - Drei Kontinente, drei Frauen, drei Lebenswege, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dennoch eint sie das gleiche Schicksal. Smita aus Indien, Giulia aus Sizilien und Sarah aus Kanada kämpfen mutig gegen die Widrigkeiten des Lebens an, die sie unversehens in eine existenzielle Krise stürzen. Wird es ihnen gelingen, einen Ausweg zu finden und einen Neuanfang zu wagen?
MEINE MEINUNG
Mit „Der Zopf” hat die französische Autorin Laetitia Colombani einen bemerkenswerten Debütroman geschrieben, den man noch einige Zeit lang in Gedanken mit sich trägt.
In dem eindrücklich erzählten, berührenden Frauenroman stehen drei Frauen im Mittelpunkt, die auf verschiedenen Kontinenten, in voneinander abweichenden sozialen Milieus und sehr unterschiedlichen Welten leben. Sehr originell ist der besondere Aufbau des Romans, in dem die fesselnde Lebensgeschichte der drei Hauptfiguren in den sich abwechselnden Kapiteln aus ihrer Perspektive in der 3. Person erzählt wird. Geschickt lässt die Autorin diese drei unterschiedlichen Handlungsstränge sehr kunstvoll zusammenlaufen, bis zum Ende hin deutlich wird wie diese zusammenhängen. Drei teilweise emotional aufwühlende Schicksale verflochten zu einem alles verbindenden Zopf – ein wundervoll gewähltes Bild. Thematisch ist dies auf dem Cover sehr gelungen aufgegriffen, das auch farblich sehr ansprechend gestaltet und ein echter Blickfang ist.
Als Symbol stehen Haare auch stellvertretend für die Identität eines Menschen, von ihnen lässt sich auf die körperliche Gesundheit, gesellschaftliche Stellung und sogar religiöse Einstellung des Menschen schließen, und besitzen hierdurch sogar einen besonderen Wert, der sie zu einem begehrten Handelsobjekt macht.
Der sehr anschauliche Schreibstil der Autorin gewährt uns Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der verschiedenen Hautfiguren, baut oft ohne viele Beschreibungen eine teilweise eindringliche Atmosphäre auf und passt auch sprachlich hervorragend zu den jeweiligen Charakteren.
So lernen wir in den unterschiedlichen Episoden die drei Frauen und ihre Lebenssituation schrittweise kennen. Die junge Giulia aus Sizilien arbeitet in der kleinen, elterlichen Perückenmanufaktur in Palermo. Die alleinerziehende Kanadierin Sarah ist erfolgreiche Teilhaberin in einer großen Anwaltskanzlei in Montreal. Sie hat sich trotz aller Schuldgefühle wegen ihrer drei Kinder für den knallharten Karriereweg entschieden und ihren nach außen perfekten, aber stressigen Lebensstil ganz darauf ausgerichtet. Die aufopferungsvolle Mutter Smita lebt unter ärmlichsten Bedingungen im dem Dorf Badlapur, denn ihre Familie gehört als „Unberührbare“ zur untersten Schicht des Kastensystems in Indien und ist gesellschaftlich geächtet. Alles würde sie dafür geben, ihrer Tochter Lalita eine gute Ausbildung zu ermöglichen, damit sie der großen Armut einmal entfliehen kann. Gebannt folgt man den geschilderten Ereignissen und ist betroffen von den Widrigkeiten des Lebens, gegen die die Frauen unversehens ankämpfen müssen. Immer wieder tragen geschickt platzierte Cliffhanger am Ende einzelner Kapitel zur Steigerung der Spannung bei.
Obwohl die Autorin mit großer Sensibilität ihre Hauptfiguren und charakterliche Weiterentwicklung im Laufe der Handlung ausgearbeitet hat, hätte ich mir bei ihnen teilweise etwas mehr Nuancen und Tiefgang gewünscht. Dennoch hatte ich schon bald jede einzelne von ihnen in mein Herz geschlossen und gefesselt ihren Lebensweg mitverfolgt. Äußert bewegt hat mich vor allem das unvorstellbare Schicksal von Smita und ihrer kleinen Tochter in Indien.
Die Autorin beschreibt auf sehr einfühlsame und behutsame Weise den Kampf dreier Frauen, die ganz unerwartet in eine Krise stürzen. In diesem entscheidenden Moment ihres Lebens gelingt es ihnen, ihr Schicksal mutig und entschlossen in die Hand zu nehmen und einen Weg in ihre individuelle Freiheit und hoffnungsvolle Zukunft zu beschreiten. Der nachdenklich und zugleich hoffnungsvoll stimmende Ausklang des Romans hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ein bemerkenswerter, warmherziger Roman, der den Leser mit auf eine außergewöhnliche und sehr persönliche Reise über die Kontinente genommen hat, stellvertretend für die Lebenswege vieler Frauen in aller Welt, die gegen Ungerechtigkeiten, Diskriminierung, Frauenfeindlichkeit und Schicksalsschläge in ihrem Leben anzukämpfen haben, und der zugleich ein wundervoller Mutmacher ist für alle Frauen auf der Suche nach einem Weg in ihre individuelle Freiheit und Selbstbestimmung.
FAZIT
Ein ergreifender und einfühlsam geschriebener Frauenroman über drei bewegende Frauenschicksale. Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 15.03.2018

Ein toll geschriebener, bewegender und tiefgründiger Roman

Für immer ist die längste Zeit
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INHALT
Maddy Starling ist vom Dach der Bibliothek in den Tod gestürzt. Doch statt gleich in den Himmel zu kommen, hat sie noch Gelegenheit ihre Familie ein Weilchen zu beobachten und ist schockiert. Ihre ...

INHALT
Maddy Starling ist vom Dach der Bibliothek in den Tod gestürzt. Doch statt gleich in den Himmel zu kommen, hat sie noch Gelegenheit ihre Familie ein Weilchen zu beobachten und ist schockiert. Ihre pubertierende Tochter Eve und ihr völlig aus der Bahn geworfener Ehemann Brady sind bereits mit der Organisation der alltäglichen Dinge völlig überfordert und drohen an der Frage nach dem Warum zu zerbrechen. Maddy beschließt, Einfluss auf die Geschicke ihrer Liebsten zu nehmen – allerdings keine leichte Aufgabe aus dem Jenseits…
MEINE MEINUNG
Mit ihrem Debüt „Für immer ist die längste Zeit“ hat die amerikanische Autorin Abby Fabiaschi einen sehr bewegenden und tiefgründigen Roman vorgelegt. Hierbei ist es der Autorin auf einzigartige Weise gelungen, die schwierige Thematik rund um Tod und Trauerbewältigung mit einer wundervollen Leichtigkeit, ihrem humorvollen Erzählstil und einer interessanten übernatürlichen Komponente zu vermitteln. Dennoch weist der Roman viel Tiefgang und emotional aufwühlende Episoden auf, und regt den Leser zum Nachdenken an.
Schon der amüsante Einstieg ist sehr geschickt gewählt, zeigt er uns doch wie Maddy nach ihrem Sturz vom Bibliotheksdach aus dem Jenseits ihre Lieben beobachtet, mit zarten Einflüsterungen versucht deren Leben zu lenken und für ihren überforderten Mann sogar eine neue Frau zu finden.
Der Roman wird aus sich abwechselnden, sehr authentisch wirkenden Perspektiven erzählt, so dass die Ereignisse pro Kapitel jeweils aus der Sicht von Maddy, Eve und Brady geschildert werden. Leider ist es der Autorin allerdings nicht gelungen, für jede Figur auch sprachlich eine eigene, unverwechselbare „innere Stimme“ zu finden. Eingestreut sind zudem kursiv gedruckte Passagen, die Auszüge aus Maddys Tagebuch darstellen. Hierin reflektiert sie einige Episoden aus ihrem Leben teilweise durchaus kritisch und bringt dem Leser diese oft aus einem ganz anderen Blickwinkel nahe.
Lebendig, lebensnah und facettenreich hat die Autorin ihre sympathischen Hauptfiguren und deren charakterliche Entwicklung gezeichnet.
Fabiaschi beschreibt sehr realistisch und glaubwürdig, wie Eves und Bradys Leben nach Maddys Selbstmord völlig aus den Fugen gerät, die beiden durch den plötzlichen Verlust völlig am Boden zerstört sind und mit der Bewältigung des Alltags, ihrer Trauer und Schuldgefühlen zu kämpfen haben. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um die Frage nach den Gründen. Sehr nachvollziehbar schildert die Autorin ihr Gefühlschaos, ihre Einsamkeit und Verzweiflung. Sie lässt uns hautnah das Auf- und Ab in ihren Bemühungen miterleben, ein belastbares Vater-Tochter-Verhältnis aufzubauen und ihre Beziehung zueinander neu zu definieren.
Durch ihren bildhaften, einfühlsamen und mitreißenden Erzählstil gewährt die Autorin dem Leser Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonisten, wodurch man sich gut in sie hineinversetzen, ihr Handeln und ihre Entwicklung besser nachvollziehen kann.
Ein absolutes Highlight war für mich jedoch Maddy mit ihrem vielschichtigen, liebenswerten Charakter und ihren vielen tollen Lebensweisheiten, die sie ihren Mitmenschen auf den Weg gibt. Sehr rührend waren ihre Versuche, ihren Lieben Trost und Zuspruch auf ihrem schweren Weg zu spenden. Je besser man allerdings Maddys Charakter im Laufe der Geschichte kennenlernt, desto spannender wird es, die Hintergründe ihres rätselhaften Selbstmords zu ergründen. Geschickt eingestreute Andeutungen geben Anlass zu Spekulationen, so dass man auf das Ende hinfiebert und auf eine plausible Erklärung hofft.
Hervorragend ausgearbeitet sind auch viele der Nebencharaktere. Als etwas unpassend und unnötig empfand ich allerdings eine für die Gesamthandlung eher unwichtige Nebenstory.
Im Epilog lässt die Autorin ihre berührende Geschichte dann zwar etwas rosa-rot, aber dennoch sehr passend und zufriedenstellend ausklingen.
Was diesen Roman trotz der tragischen Thematik besonders macht, ist die Leichtigkeit und Frische mit der es der Autorin es gelungen ist, die verschiedenen Phasen von Trauer, die sehr komplexen Emotionen während der Trauerbewältigung und die zwangsläufigen Rückschritte beim Umgang mit schicksalhaften Verlusten authentisch und anschaulich zu vermitteln. Zugleich zeigt sie für den Leser einen sehr tröstlichen Ausblick auf, dass jeder einen Abschluss finden und auf Neubeginn hoffen darf. Hervorzuheben ist auch sehr angenehme Schreibstil der Autorin gewürzt mit der richtigen Portion Sarkasmus, Ironie und Humor.

FAZIT
Ein wundervoll geschriebener, bewegender und tiefgründiger Roman über Trauer und Trauerbewältigung, der viele interessante Denkansätze liefert.
Eine sehr empfehlenswerte Lektüre!

Veröffentlicht am 10.03.2018

Eine verstörende, beklemmende Geschichte

Bananama
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INHALT
Ein sechsjähriges Mädchen lebt mit ihren Eltern in einem Haus am Waldrand mit kleinem Garten fernab von der Zivilisation. Als selbst ernannte Aussteiger versuchen sie sich an einem einfachen Leben ...

INHALT
Ein sechsjähriges Mädchen lebt mit ihren Eltern in einem Haus am Waldrand mit kleinem Garten fernab von der Zivilisation. Als selbst ernannte Aussteiger versuchen sie sich an einem einfachen Leben in ihrem idyllischen „Bananama“ ohne großen Kontakt zur Außenwelt und ganz im Einklang mit ihren Idealen. Doch immer häufiger muss sie bei ihren Eltern Veränderungen feststellen, die sie sehr befremden und ihr Angst machen. Zunehmend wird ihr Paradies von der „Welt da draußen“ bedroht, doch die Eltern verschließen die Augen vor der Realität und halten zwanghaft an ihrer Vision fest. Doch der allmähliche Zerfall ihres kleinen Bananama lässt sich nicht mehr aufhalten…
MEINE MEINUNG
Mit „Bananama ” ist der deutschen Autorin Simone Hirth ein bemerkenswerter Roman gelungen, der dem Leser mit seiner beklemmenden Intensität unter die Haut geht und ihn noch länger beschäftigt.
In ihrem Roman beleuchtet die Autorin Widersprüche und Absurditäten des gesellschaftlichen Lebens und übt deutliche Kritik an unserer Konsumgesellschaft und der rein materialistischen Denkweise. Zugleich enthüllt sie aber auch auf ironische Weise die Beschränkungen des menschlichen Daseins und Denken.
Schon bald kann man sich der enormen Sogwirkung dieser Erzählung nicht mehr entziehen und wird von den sich zuspitzenden, unwirklichen Geschehnissen und der zunehmend bedrückenden Atmosphäre unweigerlich gefangen genommen. Hervorragend ist auch der eindringliche, bildreiche und sprachgewaltige Schreibstil der Autorin.
Im Mittelpunkt dieser skurrilen Geschichte steht die Hauptfigur und namenlose Ich-Erzählerin im Grundschulalter, die mit ihren Eltern recht abgeschieden in ihrem selbstgeschaffenen Aussteiger-Paradies „Bananama“ lebt.
Sehr subtil schildert die Autorin aus dem unschuldigen Blickwinkel eines sehr aufgeweckten Kindes, wie das idealistische Lebensmodell ihrer Eltern jenseits aller gesellschaftlichen Normen und mit ihren selbstgestrickten Konventionen mehr und mehr Risse bekommt. Den Herausforderungen des Alltags scheinen sie nicht so recht gewachsen zu sein, trotz propagiertem Konsumverzicht werden häufig der örtliche Tauschkreis und Bestellungen über das Internet genutzt. Der Vater versucht dem Mädchen sein „Weltbild“ zu vermitteln, indem er ihr Begriffe wie Ressourcenknappheit, Globalisierung, Biosphärenpark und Materialismus erklärt, die für sie jedoch sperrige Worthülsen bleiben und sie befremden. Völlig überfordert, vereinsamt und auch emotional auf sich allein gestellt wünscht sich das Mädchen nichts sehnlicher als ein bisschen Normalität aus der Welt „da draußen“ und sei es nur ein Schokoriegel, eine Freundin, Schwester oder zumindest eine Puppe. Sie rettet sich in selbst geschaffene Rituale wie beispielsweise das Beerdigen von Wörtern, die ihr eine gewisse Stabilität und Sicherheit geben.
So muss sie miterleben, wie der idyllische Schein ihres Aussteigerlebens abbröckelt und die Eltern in eine äußerst widersprüchliche Scheinwelt abdriften, wodurch sie den Bezug zur bedrückenden Realität ihres Lebens immer mehr verlieren. Zunehmend baut die Autorin eine sehr unheilvolle Spannung auf, indem sie die angespannte, oft unheimliche Situation immer stärker außer Kontrolle geraten, eskalieren und surrealer werden lässt. Die Eltern verharren schließlich in einem passiven Verhalten und hüllen sich in eine Mauer des Schweigens, unfähig sich den Realitäten zu stellen und ihr Weltbild zu revidieren. Gekonnt entlarvt die Autorin mit sehr zynischem Blick wie ihre Ideale und ihre utopische Vorstellung eines sicheren Lebens schrittweise kläglich scheitern. Lediglich die junge Ich-Erzählerin beginnt dies zu begreifen und kann durch ihr konsequentes Handeln dem ihr aufgezwungenen Lebenskonzept entkommen.
Geschickt lässt die Autorin ihren Roman mit einem offenen Ende ausklingen, so dass einige Geschehnisse und Entwicklungen ungeklärt und die Deutungen der Fantasie der Leser überlassen bleiben.
FAZIT
Eine verstörende, beklemmende Geschichte, die den Leser auf ganzer Linie herausfordert und ihm ein außergewöhnlich intensives Leseerlebnis beschert.

Veröffentlicht am 10.03.2018

Ein Muss für Liebhaber des historischen Genres!

Die Revolution des Mondes
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INHALT
Als 1677 in Sizilien der Vizekönig, der als Stellvertreter der spanischen Krone am Hof in Palermo lebt, an Elephantiasis stirbt, reiben sich die königlichen Räte die Hände: Endlich können sie sich ...

INHALT
Als 1677 in Sizilien der Vizekönig, der als Stellvertreter der spanischen Krone am Hof in Palermo lebt, an Elephantiasis stirbt, reiben sich die königlichen Räte die Hände: Endlich können sie sich nach Herzenslust bereichern! Doch sie haben nicht mit der jungen, unfassbar schönen Witwe Donna Eleonora di Mora gerechnet die ihnen gewaltig einen Strich durch die Rechnung macht. Zielstrebig besteigt sie den Thron, und einen Monat lang lehrt sie einer durch und durch korrupten Männergesellschaft das Fürchten.

MEINE MEINUNG
In seinem historischen Roman „Die Revolution des Mondes“ hat der sizilianische Schriftsteller Andrea Camilleri eine faszinierende, wahre Begebenheit aus Siziliens bewegter Vergangenheit aufgegriffen. Es handelt sich um die kurze Regentschaft der längst vergessenen, bemerkenswerten Revolutionärin Donna Eleonora di Mori, die im Jahre 1677als „Vizekönigin“ der spanischen Krone am Hof in Palermo lebte und regierte.
Camilleri erzählt eine äußerst unterhaltsame und vielschichtig angelegte Geschichte, mit nachdenklich stimmenden menschlichen Schicksalen und einer mitreißenden Handlung, die sich zunehmend zu einem spannenden Krimi entwickelt. Gerade die politischen Verwicklungen und Intrigen dieser sehr korrupten Männergesellschaft lassen uns Leser zwangsläufig auch gewisse Parallelen zu aktuellen Ereignissen ziehen.
Sehr fesselnd wird geschildert, wie sich mit der wachsenden Beliebtheit Eleonoras beim Volk der anfängliche Unmut der machtgierigen Herren immer mehr zu einem erbitterten Machtkampf entwickelt, bei dem die unliebsame Regentin mit allen Mitteln zu Sturz gebracht werden soll. Die schillernde Persönlichkeit der Protagonistin Donna Eleonora wurde von Camilleri sehr plastisch ausgearbeitet. Sie war eine äußerst mutige und selbstbewusste Frau mit herausragendem Intellekt und bemerkenswerter Durchsetzungskraft und zudem eine geschickte und unnachgiebige Strategin, die der Korruption den Kampf angesagt hat und sich mit dringend notwendigen Reformen für die Schwachen der Gesellschaft einsetzte. Auch die meisten Nebenfiguren sehr lebendig und vielschichtig ausgearbeitet. Vor allem die Mitglieder des Heiligen Königlichen Rats in Palermo, die den mächtigen Adel und Klerus repräsentieren, und ihr scheinheiliges, arrogantes und intrigantes Wirken am Hofe sind von Camilleri sehr treffend beschrieben. Machtlüstern, habgierig und voller Neid schrecken sie nicht vor Korruption, Amtsmissbrauch, persönlicher Bereicherung und Gewalttätigkeiten zurück.
Camilleris Erzählstil ist sehr abwechslungsreich und einfühlsam. Er verwendet eine schöne, leicht altertümliche Sprache, die der damaligen Zeit angemessen erscheint und sich trotzdem flüssig lesen lässt.
Der Autor versteht es hervorragend, Dekadenz und Verlogenheit des prunkvollen höfischen Lebens humorvoll, leicht spöttisch und sehr schonungslos auf den Punkt zu bringen Die Atmosphäre und unterschiedlichen Schauplätze beschreibt er sehr bildhaft und anschaulich, so dass man alles sehr lebendig vor Augen hat. Camilleri hat die historischen Ereignisse und damaligen Zustände auf Sizilien wirklich sehr gut recherchiert. Den Sumpf aus Skrupellosigkeit, kriminellen Machenschaften und menschlichen Abgründen der herrschenden Oberschicht und des Klerus stellt er authentisch und sehr glaubwürdig dar.
Am Ende des Romans finden sich in einer Nachbemerkung noch einige interessante Erläuterungen zu den historischen Hintergründen, den verwendeten Quellen und den fiktiven Anteilen seiner Geschichte.
FAZIT
Ein sehr unterhaltsamer und lesenswerter historischer Roman - mitreißend und humorvoll erzählt.