Spuren eines Lebens Ein raffinierter Psychothriller und ein interessantes literarisches Experiment
Wer war AliceIn einer Februarnacht wird im englischen Southampton die Leiche einer jungen Frau aus dem Fluss gezogen. Es stellt sich schnell heraus, dass es sich um die 25-jährige Journalistin Alice Salmon handelt. ...
In einer Februarnacht wird im englischen Southampton die Leiche einer jungen Frau aus dem Fluss gezogen. Es stellt sich schnell heraus, dass es sich um die 25-jährige Journalistin Alice Salmon handelt. Laut Autopsie ist sie ertrunken, die Todesumstände sind jedoch nicht eindeutig und so arbeitet die Polizei daran, ihre letzten Stunden zu rekonstruieren. Aber nicht nur die Polizei und die Familie der jungen Frau hat Interesse daran, die Wahrheit zu erfahren. Die Presse schlachtet den „Fall Alice“ regelrecht aus und animiert die Bevölkerung zu Spekulationen. Und dann ist da noch Jeremy Cook, ein Anthropologe und Professor an der Universität Southampton, der Alice aus ihrer Studienzeit kannte und eine ganz besondere Beziehung zu ihr hatte. Erschüttert von der Tragödie widmet sich Cook der Suche nach allen Dokumenten und Fotos, die mit Alice im Zusammenhang stehen. Er will ein Buch schreiben, um ihrer Person Ehre zu erweisen und ihr Andenken für die Nachwelt zu bewahren. Dabei stößt er auf ein erschütterndes Geheimnis...
Es war der Umschlag, der mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Das schöne Gesicht einer jungen, offenbar toten Frau vor einem schwarzen Hintergrund, dazu in großen Buchstaben der Titel. Diese Aufmachung wirkt geheimnisvoll und spannend und so konnte ich als großer Thriller-Fan nicht umhin, das Buch zu lesen. Es hat sich gelohnt, denn „Wer war Alice?“ erweist sich durchaus als interessant und überraschend anders. So steht es bereits zum Beginn fest, dass die Heldin tot ist. Und doch gelingt es dem Autor, Alice für den Leser präsent zu machen und sie nicht im Tod, sondern im Leben einzufangen. Um das zu erreichen greift er auf das moderne kollektive Gedächtnis zurück und bedient sich der Ausdrucksformen, die uns durch die inzwischen selbstverständliche Nutzung von Social Media zur Verfügung stehen. Das Buch besteht also - neben traditionellen Formen wie Briefe, Zeitungsartikeln und Tagebucheinträgen - aus einer Fülle von E-Mails, SMS, Twitter-Nachrichten und Blogeinträgen. Sie fungieren wie Teile eines Puzzles, enthüllen nach und nach das Geheimnis um Alice und die Vielschichtigkeit ihrer Person. Auch die Heldin selbst meldet sich zu Wort und zwar vor allem durch Auszüge aus ihren Tagebüchern, Durch diese gewinnt das Porträt der jungen Frau noch mehr an Schärfe und der Leser kann ihr Drama besser nachvollziehen.
Der Roman ist meines Erachtens nicht nur ein spannender Thriller, sondern auch ein interessantes literarisches Experiment, das durchaus gelungen ist. Er wirft darüber hinaus mehrere Fragen auf, die zumindest mich während und auch nach der Lektüre beschäftigten. Was sind wir? Was macht uns aus? Was bleibt, wenn wir nicht mehr da sind? Wie sehen wir uns selbst und wie werden wir von unserer Umgebung wahrgenommen? Ziemlich philosophische Fragen und doch macht es vielleicht Sinn, sich solche und ähnliche zu stellen, gerade heutzutage, im Zeitalter der Digitalisierung. Im Vergleich zu den meisten Menschen von früher hinterlassen wir so viele Spuren. Und manche davon bleiben vielleicht für immer im Netz...
Fazit: Interessant und außergewöhnlich, zwischendurch etwas langatmig und für manche Leser vermutlich etwas verwirrend, aber alles in allem ein lesenswertes Buch!