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Veröffentlicht am 30.05.2021

Leben am Zentralfriedhof

Das Buch des Totengräbers (Die Totengräber-Serie 1)
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Augustin Rothmayer ist Totengräber am Wiener Zentralfriedhof, allerdings ein ganz besonderer, indem er sich eingehend mit dem Tod beschäftigt, Todesursachen und Verwesungsstufen untersucht, Leichen schon ...

Augustin Rothmayer ist Totengräber am Wiener Zentralfriedhof, allerdings ein ganz besonderer, indem er sich eingehend mit dem Tod beschäftigt, Todesursachen und Verwesungsstufen untersucht, Leichen schon in allen nur erdenklichen Formen gesehen hat und nun an einem Almanach für Totengräber schreibt. Der Tod ist schließlich Teil des Lebens, so einfach ist das für den kauzigen Mann mit erdverschmiertem Mantel und abgewetztem Schlapphut. Allerdings wird er im Oktober 1893 bei seiner sorgfältigen Arbeit vom jungen Inspektor Leopold von Herzfeldt gestört. Die Leiche von Johann Strauß‘ Bruder Bernhard wäre beinahe aus seinem Sarg gestohlen worden und im Prater wird eine tote Dienstmagd gefunden, brutal gepfählt. Kann Rothmayer wertvolle Hinweise zu den Verbrechen liefern?

Mit seinem unverwechselbaren und hervorragenden Schreibstil entführt uns Oliver Pötzsch diesmal ins alte Wien Ende des 19. Jahrhunderts, in eine Zeit der Pferdetramways und der Fiaker, trübe Gaslampen beleuchten noble Ringstraßenpalais, welche einen harschen Gegensatz bilden zu den tristen, stinkenden Fabriksvierteln, die noch vor der staubigen Ödnis des Zentralfriedhofs liegen. Die dargestellte Epoche ist geprägt von rasanten Entwicklungen mit Telefon und Automobil, Fotografie und Kino. Auch vor der Ermittlungsarbeit der Polizei macht der Fortschritt nicht Halt, Herzfeldt war Schüler bei Staatsanwalt und Untersuchungsrichter Gross in Graz und kommt mit Handbuch und Kriminalistikkoffer, Maßband und Kamera nach Wien. Voll Eifer und Scharfsinn geht er jedoch eher hochmütig an die Ermittlungsarbeiten heran und verschafft sich dadurch keine Freunde in der Hauptstadt. Seine jüdische Abstammung tut noch ihr Übriges…

Mit vielen wissenswerten Details beschreibt Pötzsch das Geschehen und erweckt alte Zeiten zu neuem Leben, eingestreute Satzteile im Dialekt und typische Ausdrücke verleihen dem Kriminalroman sein ganz spezielles Flair, wodurch der Leser ganz und gar eintaucht in diese fremdartige Welt. Grausame Morde und abergläubische Riten gegen Untote werden zu einem spannenden Kriminalroman verknüpft, anschaulich charakterisierte Figuren verleihen der Handlung Lebendigkeit und Realitätsnähe. Vom ersten bis zum letzten Kapitel blickt der Leser gebannt auf die Lebenden und die Toten, erlebt einen gekonnten Mix aus historischen Fakten und romanhafter Dichtung.

Wie immer, besticht Pötzsch durch ausgiebige, genaue Recherche und Authentizität, sodass auch mit dem Buch des Totengräbers wieder ein exzellentes Werk entstanden ist, welches ich – wie schon die Faustdilogie – nur wärmstens empfehlen kann.



Titel Das Buch des Totengräbers

Autor Oliver Pötzsch

ISBN 978-3-86493-166-6

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 448 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 31. Mai 2021

Verlag Ullstein Taschenbuch Verlag

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Veröffentlicht am 16.05.2021

Zwischen den Cotswolds und New York

Muschelspiel
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Um ein drohendes Burn-out durch ihren stressigen Anwaltsjob noch rechtzeitig abzuwenden, gönnt sich Kira aus New York eine dreimonatige Auszeit im idyllischen südenglischen Castle Combe. Rasch wird ihr ...

Um ein drohendes Burn-out durch ihren stressigen Anwaltsjob noch rechtzeitig abzuwenden, gönnt sich Kira aus New York eine dreimonatige Auszeit im idyllischen südenglischen Castle Combe. Rasch wird ihr klar, dass auch ihr Privatleben gründlich überdacht gehört. Aber noch bevor sie richtig entspannen und die wunderschöne Landschaft der Cotswolds genießen kann, scheint ein Einbrecher am Dachboden herumzurumoren. Gut, dass direkt im Nachbarhäuschen der Schriftsteller Matt Vellacott wohnt, der ihr Unterschlupf bietet und sich schließlich noch mit Kira auf die Spuren der Vergangenheit der erst kürzlich verstorbenen Vorbesitzerin von Kiras Ferienunterkunft begibt.

Romantisch und mit viel Humor gespickt präsentiert sich dieser neue Roman von Margot S. Baumann. Die ehrgeizige und gewissenhafte Kira sowie der unter einem Pseudonym schreibende Autor mit dem verstrubbelten Haar bilden zwei sympathische Hauptfiguren, die die Geschichte mit wenigen - meist ebenso liebenswerten - Nebendarstellern, tragen. Während man zu Beginn meinen könnte, dass es sich hier um eine mittelmäßige Liebesgeschichte handelt, so wird man rasch eines Besseren belehrt. Der Leser erlebt Einblicke in die Geschichte der Umgebung, besucht interessante Schauplätze und taucht ganz unmittelbar in spannende Nachforschungen über vergangene Zeiten ein. Ein flüssiger Schreibstil und eine ansprechende Handlung tun ein Übriges, um dieses Buch rasch als kurzweilige Unterhaltung zu betrachten.

Eine klare Linie ohne Zeitsprünge und verwirrende Szenenwechsel führt von der ersten bis zur letzten Seite durch das Geschehen, dennoch - oder gerade deshalb - möchte man das „Muschelspiel“ gar nicht mehr aus der Hand legen, sondern ohne Pause mit Kira und Matt aufregende Wochen erleben.

Mir hat auch dieser Roman von Margot S. Baumann wieder sehr gut gefallen und angenehme Lesestunden beschert.



Titel Muschelspiel

Autor Margot S. Baumann

ISBN 978-2-496-70489-1

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 381 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook

Erscheinungsdatum 18. Mai 2021

Verlag Tinte und Feder

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Veröffentlicht am 10.05.2021

Sicherer Hafen

Sturmvögel
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Sechszundachtzig Sommer hat Emmy Seidlitz nun schon erlebt und blickt zurück auf ein gutes Leben, mit Höhen und Tiefen, aber ihrer Ansicht nach eben insgesamt ein gutes: geboren 1907 auf einer kleinen ...

Sechszundachtzig Sommer hat Emmy Seidlitz nun schon erlebt und blickt zurück auf ein gutes Leben, mit Höhen und Tiefen, aber ihrer Ansicht nach eben insgesamt ein gutes: geboren 1907 auf einer kleinen Nordseeinsel, die Entbehrungen zweier Kriege durchlebt und das Gefühl, innige Liebe erfahren zu haben, lassen sie trotz allem zufrieden ihrem Ende entgegensehen, vor dem ein angesehener Professor sie mittels Herzschrittmacher retten will. Augenzwinkernd verlässt sie seine Praxis, um der Natur ihren Lauf zu lassen; woran sollte sie denn sterben, wenn ihr Herz nicht stehenbleiben dürfe? Nur nicht jetzt im Frühling, im Winter jedoch, wenn die dunklen Nächte lang sind, wenn man nicht so viel verliert vom Tag, da wolle sie sterben, ja, warum nicht? Und während schon zwei der drei erwachsenen Kinder auf ein überraschendes Erbe hoffen, zieht Emmy im Hintergrund die Fäden.

Mit viel Humor und witzigen Dialogen beginnt dieser wunderbare Roman, Emmy erobert wohl alle Leserherzen wie im Fluge. Ja, jedes Leben hat ein Ende und unerschrocken geht die nette, alte Dame darauf zu, was sollte ihr auch noch fehlen? Zwischen die aktuellen Kapitel, die im Jetzt, nämlich 1994 spielen, fügen sich Rückblenden, die Emmys fast jahrhundertlanges Leben widerspiegeln und beleuchten. Voller Warmherzigkeit schildert Autorin Manuela Golz sehr beeindruckend die mühsamen Lebensbedingungen auf einer kargen Nordseeinsel zwischen Dänemark und Preußen, dem heutigen Schleswig-Holstein. Entwurzelung und eine Zeit als Dienstmagd überwindet Emmy, ohne dem Schicksal allzu gram zu sein. Darauf folgen die wilden 1920er-Jahre, bevor ein schrecklicher zweiter Weltkrieg über Berlin tobt. Realistisch und lebensnah begegnet uns diese grauenvolle Zeit, in der Emmy immer auf die ermutigenden Sätze ihres Vaters vertraut: „Jetzt machen wir uns erst einmal ein paar schöne Gedanken. Ist doch das Einfachste von der Welt. Kostet nichts und geht überall.“ (Pos. 2687) Eine friedvolle Insel wird zum Ort der Trauer, bunte Landschaft verschwimmt in Szenen von grauem Kriegsschutt, Freude wird erstickt von einer bösen Schwiegermutter, aber trotz allem Leid bewahrt sich Emmy ihre Hoffnung, verliert nie den Mut, schöpft schließlich Kraft aus der Liebe und gibt diese bedingungslos weiter an ihre Kinder.

Berührende Szenen und ein angenehmer, fließender Schreibstil begleiten dieses Buch, das man kaum mehr aus den Händen legen möchte. Man spürt in jedem Satz die Nähe zu Golz´ eigener Großmutter, die bestimmt oft spannende Geschichten aus einem bewegten Leben erzählt und damit ihre Enkelin inspiriert hat. Gefühlvoll, spannend und mit viel Liebe ist Emmys Geschichte verewigt. Sturmvögel finden fast immer einen sicheren Hafen und am Ende ist Emmy selbst ein solcher.



ISBN 978-3-8321-8137-6

Sprache Deutsch

Ausgabe gebundenes Buch, 336 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 17. Mai 2021

Verlag DuMont Buchverlag

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Veröffentlicht am 06.05.2021

Hier wohnt die glückliche Familie

Das Nachtfräuleinspiel
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Ein Quotenhit soll sie werden, die Jubiläumssendung der bekannten Erziehungsexpertin Liane van der Berg. Schließlich fließt all ihre Energie nicht nur in dieses Sendeformat, sondern schon sein Jahrzehnten ...

Ein Quotenhit soll sie werden, die Jubiläumssendung der bekannten Erziehungsexpertin Liane van der Berg. Schließlich fließt all ihre Energie nicht nur in dieses Sendeformat, sondern schon sein Jahrzehnten in ihre gesamte Arbeit im Waldorfkindergarten, in das Schreiben psychologisch fundierter Elternratgeber und in die Therapiesitzungen für schwierige Kinder – wer, wenn nicht sie, besitzt also die besten Voraussetzungen dafür? Und noch dazu hat sie fünf Kinder großgezogen, Haus und Garten in Schwung gehalten und wie nebenbei disziplinierte Ernährungsgewohnheiten eingehalten, um nicht nur für ihren Mann Carl attraktiv zu bleiben. Eine Vorzeigefrau wie im Bilderbuch, aber gibt es so etwas tatsächlich?

In einem außergewöhnlichen Roman lässt Anja Jonuleit den Leser in Lianes Leben blicken, alles beginnt mit einem verstörenden Anruf in Jahre 2017 und schwenkt immer wieder zurück bis in die späten 1960er-Jahre. Mit vielen Zeit- und Perspektivwechseln präsentiert sich dieses Buch durchaus als eines, das man nicht nur kurz für zwischendurch zur Hand nehmen sollte, im Gegenteil ist es dafür ohnehin viel zu spannend und mitreißend. Schließlich birgt jedes Kapitel so viel an interessanten Informationen, dass man stets neugierig weiterlesen will, ja muss. Die einzigartige Handlung wird umrahmt von vielen wissenswerten Details und realen Fakten: so erfährt man vom freizügigen Leben in einer Kommune ebenso wie von gruseligen Fastnachtsbräuchen auf der Schwäbischen Alb, irritierenden Erziehungsmethoden und strikten Ernährungsprinzipien. (Das Nachwort - diesmal vorab gelesen - bietet hier nützliche weiterführende Hinweise.)

Die Autorin versteht es von Anfang an, alltägliche Themen erfrischend unterhaltsam in Szene zu setzen und daraus einen ganz besonderen Roman zu verfassen. Die Begleitung der einzelnen Kapitel durch Verse aus dem „Nachtfräuleinspiel“ verleiht dem Ganzen eine düstere Note und auch sonst spürt man immer wieder eine unterschwellige Spannung wie in einem Psychothriller, einen latenten dunklen Unterton, der die Handlung sehr passend begleitet.

Besonders gelungen ist die Tatsache, dass zu Beginn die Richtung des Romanes nicht ganz klar ist und der Klappentext nicht zu viel verrät. Und auch wenn die Lösung bereits nach zwei Dritteln absehbar ist, so berührt die Geschichte unterschiedlichste Gefühlsebenen und man fiebert mit mit der ein oder anderen Person. Diese sind übrigens recht lebensnah dargestellt und herausgearbeitet, haben ihre Macken ebenso wie liebenswürdige Seiten, in fast jeden kann man sich hineinversetzen. Damit wird die abwechslungsreiche Thematik perfekt abgerundet, langweilig wird es hier nie.

Fesselnd und dramatisch, so empfinde ich „Das Nachtfräuleinspiel“, ein Buch, wie kein zweites!



ISBN 978-3-423-21918-1

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 496 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 3. Mai 2021

Verlag dtv

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Veröffentlicht am 03.05.2021

Tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert

Das Mädchen im Nordwind
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Ein Work & Travel-Arrangement führt die gelernte Tischlerin Sofie nach Island, da ihr Arbeitsplatz in Hamburg nicht mehr existiert und auch privat nicht mehr alles „rund“ läuft. Wie es der Zufall so will, ...

Ein Work & Travel-Arrangement führt die gelernte Tischlerin Sofie nach Island, da ihr Arbeitsplatz in Hamburg nicht mehr existiert und auch privat nicht mehr alles „rund“ läuft. Wie es der Zufall so will, fällt ihr ein Päckchen mit Notizen in die Hände, in dem sie sogleich neugierig zu lesen beginnt: die Zeilen scheinen sehr privat zu sein und ins Deutschland im Jahre 1936 zurück zu schweifen.

Aha, typisches Konzept, denke ich mir zu Beginn, aber was auf den ersten Blick eine ganz durchschnittliche Geschichte werden dürfte, entpuppt sich immer mehr zu einer sehr berührenden Zeit- und Länderreise. Eng ineinander verflochten präsentieren sich Sofies Arbeits- und Urlaubsleben auf der nordländischen Insel und die immer bedrohlicheren Bedingungen für die jüdische Kaufmannsfamilie Rosenberg Ende der 1930er-Jahre im deutschen Lüneburg.

Der Spannungsbogen beginnt eher flach, nimmt jedoch von Kapitel zu Kapitel stetig zu und lässt den Leser schließlich mit Tränen in den Augen zurück. Voller Gefühl schildert Autorin Karin Baldvinsson die einzelnen Ereignisse und man spürt förmlich, wie viel Herzblut in jede Szene geflossen ist. Detailgetreue Schilderungen lassen jede Zeit, heute wie damals, so plastisch und greifbar werden, so lebendig, als wäre man selbst mitten drin in einer Achterbahn aus höchstem Glücksgefühl und tiefgreifendsten Problemen. Beide Hauptfiguren – Luise und Sofie – sind als starke Frauen konzipiert, die ihren Weg gehen, auch wenn er steinig ist und von Schmerzen erfüllt.

Wunderbar fügen sich die karge isländische Landschaft und die ganz im Gegensatz dazu stehende Herzlichkeit in die Handlung der Jetzt-Geschichte ein und auch im „Damals“ kann man diesen Familienzusammenhalt erahnen, selbst wenn Luise das anders erlebt hat. Die Vertrautheit der Autorin mit Kultur und Lebensweise Islands spricht aus jedem einzelnen Satz und vermittelt dadurch größtmögliche Authentizität, die keine theoretische Recherche wettmachen könnte. Und genau das lässt dieses Buch zu einer Geschichte werden, die so viel sehr Persönliches von Sofie preisgibt, ins Innerste blicken lässt und schließlich auch durch Luise eine Erinnerung wach werden lässt, ein Denkmal setzt für unzählige grausame Schicksale im Deutschen Reich.

Nur auf den ersten Seiten harmlos daherkommende Lektüre, steckt unglaublich viel Emotion in diesem traurigen und zugleich Mut machenden Roman, der noch lange in meinen Gedanken nachhallen wird …

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