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Veröffentlicht am 17.09.2022

Ein Dorf schweigt

Als der Wind die Wellen rief
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„Ich bin voller Gedanken und wer so viele Gedanken hat, kann nicht dumm sein.“ (Rosie, kindle Pos. 888)



Orla Donovan ist verlobt und soll ihren Umzug nach Frankreich vorbereiten. Allerdings muss sie ...

„Ich bin voller Gedanken und wer so viele Gedanken hat, kann nicht dumm sein.“ (Rosie, kindle Pos. 888)



Orla Donovan ist verlobt und soll ihren Umzug nach Frankreich vorbereiten. Allerdings muss sie sich erst einmal um ihren autistischen Bruder Kieran kümmern, während ihre Mutter im Krankenhaus liegt. Aus dem pulsierenden Dublin zurück im bodenständigen Heimatdorf Saltmore am südwestlichen Ende Irlands, lernt sie Seàn Gallagher kennen. Er renoviert den alten Leuchtturm, hilft dazwischen im Pub und hat sich mit Kieran angefreundet. Orla findet den Fremden auf Anhieb sympathisch und spürt bald eine gewisse Vertrautheit. Aber irgendein Geheimnis umgibt den geschickten Handwerker, der kaum etwas aus seiner Vergangenheit preisgibt.

Josephine Cantrell stellt ihrem wunderbaren Roman ein informatives Vorwort voran, was ich ausgesprochen gut und interessant finde. Hier spricht sie zwei wichtige Kernthemen an, nämlich die Autismus-Spektrum-Störung und die Irish Travellers, zwei Schwerpunkte, welche außergewöhnliche, eher selten dargestellte Fragen aufgreifen.

Hinter dem überaus ansprechenden Titelbild verbirgt sich nun eine sehr berührende Erzählung, welche in zwei Zeitebenen gegliedert ist. Im Jetzt wird aus Orlas Sicht erzählt, im Jahre 1997 kommt Rosie aus dem Volk der Fahrenden in der Ich-Form zu Wort. Im Präsens schildert sie ihr Verständnis von Heimat ohne festen Wohnsitz, die Annehmlichkeiten der Freiheit, aber auch die Schwierigkeiten mit den Vorurteilen über Ihresgleichen. All das wird präsentiert vor der rauen Küste Irlands, vor den steilen Felsen und Klippen der Grafschaft Kerry, welche nicht passender sein könnte für diesen Roman. Die schroffe Schönheit der Landschaft und vielfach überlieferte Mythen untermalen die ungewöhnliche Geschichte Orlas.

Ruhig und bildhaft fließen die Sätze aus Cantrells Feder, füllen Kapitel um Kapitel und nehmen den Leser mit auf eine spannende Reise in fremde Gefilde und widerstreitende Gefühle. Unglaublich, wie es die Autorin zustande bringt, den Einklang von Mensch und Natur so exzellent abzubilden, insbesondere, als irische Begriffe eingeflochten werden, welche für das Flüstern der Steine im Meer stehen oder das Funkeln auf den Wellen der weiten See. Auf diese Art und Weise gelingt dem Leser ein vollkommenes Eintauchen in dieses wundervolle Schauspiel rund um ein Unglück 1997 und die Wahrheit, welche langsam, Stück für Stück, im aktuellen Handlungsverlauf ans Licht tritt. Wird der dichte Mantel des Schweigens gelüftet? Oder ist Schweigen immer noch Gold?

Ich kann nur jedem empfehlen, das Geheimnis des Windes zu ergründen, welcher vielleicht alles mit angesehen hat. Dieser Roman bewegt jedenfalls weit über seine letzte Seite hinaus!



Titel Als der Wind die Wellen rief

Autor Josephine Cantrell

ISBN 978-2-4967-1138-7

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 395 Seiten

ebenfalls erhältlich als e-book

Erscheinungsdatum 20. September 2022

Verlag Tinte & Feder

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.09.2022

Wunderbare Zukunft?

Freiheitsgeld
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Deutschlands Bundeskanzler und EU-Präsident a.D. Robert Havelock lebt im Jahre 2064 in einer sogenannten Gated Community. Dreißig Jahre zuvor hat er das Freiheitsgeld (ehemals Bedingungsloses Grundeinkommen) ...

Deutschlands Bundeskanzler und EU-Präsident a.D. Robert Havelock lebt im Jahre 2064 in einer sogenannten Gated Community. Dreißig Jahre zuvor hat er das Freiheitsgeld (ehemals Bedingungsloses Grundeinkommen) eingeführt und soll demnächst bei der Jubiläumsfeier eine Rede halten. Doch bevor es dazu kommt, wird er leblos im Badezimmer aufgefunden, ein Freitod-Set am Waschbecken. Der junge Polizist Ahmad Müller aus der Abteilung G vermutet ein Gewaltverbrechen, hat aber praktisch keine Möglichkeit, hinter den Mauern der Reichen zu ermitteln.

Fesselnd, erschreckend, dystopisch – so präsentiert Andreas Eschbach diese gar nicht unrealistische Romanhandlung. Roboter übernehmen viele Arbeiten, der Mensch hat nicht viel, aber mit dem monatlichen Freiheitsgeld ausreichend, um zu überleben. Wer nach mehr strebt, kann einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen. Kommunikation, Bestellungen und Zahlvorgänge, Ausweissammlung, Türöffner, alles läuft über einen Pod, den man immer bei sich trägt. Längst an die vermeintlichen Vorteile dieses Systems gewöhnt, denkt niemand an Überwachung, Macht und Kontrolle.

Mit interessanten Szenarien und glaubwürdigen Charakteren bildet der Autor eine durchaus vorstellbare Welt in unserer Zukunft ab. Was kostet Bequemlichkeit, was bedeutet Freiheit? Woher kommt das regelmäßige Einkommen ohne Leistung? Gibt es andere Möglichkeiten, wenn durch Roboter Arbeitsplätze verloren gehen oder handelt es sich bloß um Umstrukturierung? Muss sich der Mensch nur neu orientieren? Viele Fragen um moderne Lebensstile, Ethik und Moral werden aufgeworfen und regen zum Nachdenken an, wie wir die vor uns liegenden Jahrzehnte gestalten wollen. Unterschiedlichste Existenzen werden vorgestellt, mit welcher kann man sich am ehesten identifizieren? Ist es der Drogenabhängige, der allein vom Freiheitsgeld lebt und in einer kleinen Wohnung sitzt oder der Familienvater, der keinen qualifizierten Arbeitsplatz findet, der strenge Steuerfahnder, welcher für Recht und Ordnung sorgt oder der Angepasste, der ungewöhnliche Aufträge akzeptiert, um sich ein luxuriöses Leben in einer Gated Community leisten zu können?

Von unterschiedlichen Seiten und Lebensentwürfen beleuchtet Eschbach die 2060er-Jahre und zeigt diverse Facetten, welche die Automatisierung bieten kann. Vor dieser Kulisse gibt es noch einen spannenden Krimi, bei dem die zuständigen Ermittler nicht gerade gefördert werden in ihrem Tun. Von höchster Stelle werden Ahmad Müller und seine Kollegen zurückgepfiffen, wodurch seine Neugier natürlich erst recht geweckt wird.

Ein flüssiger Schreibstil, interessante, manchmal erstrebenswerte, manchmal beängstigende Szenen lassen dieses Buch zu einer wahren Hochschaubahn der Gefühle werden. Sieht so unser künftiges Leben aus? Viel zum Nachdenken, welchen Einfluss jeder Einzelne von uns hat, Reflektieren, ob Entscheidungen von gestern heute noch ihre Berechtigung haben oder überarbeitet werden sollen. Lesevergnügen und Bewusstsein für Verantwortung – das findet man in ansprechender Form bei Andreas Eschbach. Ich empfehle „Freiheitsgeld“ jedenfalls gerne weiter.



Titel Freiheitsgeld

Autor Andreas Eschbach

ISBN 978-3-7857-2812-3

Sprache Deutsch

Ausgabe Gebundenes Buch, 528 Seiten

ebenfalls erhältlich als e-book und Hörbuch

Erscheinungsdatum 26. August 2022

Verlag Lübbe

Veröffentlicht am 11.09.2022

West Coast Trail

Der finstere Pfad
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Am West Coast Trail lernt die eher schüchterne Maisie Seraphine und Ric kennen. Gemeinsam marschieren sie durch die beeindruckende Landschaft, bis Sera in einer dunklen Nacht ermordet wird. Durch Alkohol ...

Am West Coast Trail lernt die eher schüchterne Maisie Seraphine und Ric kennen. Gemeinsam marschieren sie durch die beeindruckende Landschaft, bis Sera in einer dunklen Nacht ermordet wird. Durch Alkohol und ungewohnte Drogen benebelt, weiß Maisie nicht, was sie bei der Polizei aussagen soll, um sich selbst zu schützen. Zwanzig Jahre später erinnert sich Laura mit Schrecken an ihre Wanderung in Kanada, als sie von Skelettfunden in der Nähe des Trails hört und eine Serie an sonderbaren Ereignissen erschüttert jetzt ihr harmonisches Familienleben. Eine spannende Geschichte in zwei Zeitebenen beginnt.

Mit wenigen eindringlichen und packenden Sätzen nimmt Autorin Jenny Blackhurst den Leser gleich auf der ersten Seite gefangen. Warum bringt die Radiomeldung über „menschliche Überreste“ in Kanada die in England lebende Laura derart aus der Fassung? Scheint sie doch eine selbstbewusste Frau und Mutter, welche ihre Kinder zu entscheidungsfreudigen Menschen erzieht. Während hier anschaulich und nahe am Geschehen im Präsens und in der Ich-Form geschildert wird, erfährt der Leser Maisies Geschichte klassisch im Präteritum und aus der Sicht eines neutralen Erzählers, der auch einmal den Blickwinkel wechselt. Durch eingestreute Zeitungsartikel und Diskussionsbeiträge aus unterschiedlichen Medien wird zusätzlich Information preisgegeben, welche die eher unterschwellige Spannung schürt.

Blackhurst vermag es auch diesmal, ohne brutale und blutrünstige Gewaltszenen auszukommen. Ihre Thriller sind eher darauf ausgelegt, wie Menschen mit schwierigen Sachverhalten umgehen oder reagieren, wenn sie in die Enge getrieben werden. So darf der geneigte Leser viel über Lauras und Maisies Einschätzungen erfahren und schon einmal überlegen, was sich damals tatsächlich zugetragen haben könnte und welche Auswirkungen zwanzig Jahre später möglich sind. Lange stecke ich als Beobachterin in einem festgefahrenen Gedankenmuster und bin ehrlich überrascht, was ich in den letzten Kapiteln erfahre. Während wenige Dinge vorhersehbar sind, gibt es am Ende unerwartete Wendungen, allerdings vereinzelt konstruiert und mit zu vielen Zufällen behaftet. Dennoch ist Blackhursts Thriller – oder eher Spannungsroman – ein gelungenes Lesevergnügen, welches ich gerne weiterempfehle.



Titel Der finstere Pfad

Autor Jenny Blackhurst

ISBN 978-3-404-18583-2

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 336 Seiten

ebenfalls erhältlich als e-book und Hörbuch

Erscheinungsdatum 26. August 2022

Verlag Lübbe

Übersetzer Anke Angela Grube

Veröffentlicht am 10.09.2022

Realitätsfremd in der Toskana

Pinienduft im Hotel Toscana Mare (Verliebt in Italien)
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Emilia soll für einen deutschen Konzern ein heruntergekommenes Haus in der Toskana in ein schickes Boutique-Hotel verwandeln. Nach verschiedenen Problemen in der Heimat scheint dies eine phantastische ...

Emilia soll für einen deutschen Konzern ein heruntergekommenes Haus in der Toskana in ein schickes Boutique-Hotel verwandeln. Nach verschiedenen Problemen in der Heimat scheint dies eine phantastische Idee zu sein, unter anderem, um sich beruflich zu beweisen. Allerdings liegt dieses Anwesen weiter von Florenz entfernt als erwartet und befindet sich zwanzig Jahre nach dem Kauf in einem schrecklichen Zustand. Ob Emilia hier etwas ausrichten kann?

Naserümpfend lässt sich Emilia vom Luxushotel in Florenz Richtung Westen chauffieren. Pepes kleine Rostlaube ist nicht gerade das Fahrzeug, das sie erwartet hat. Schnell ist Emilia also im Dorf als herablassende Deutsche verschrien. Trotzdem freundet sie sich mit Letizia aus der Osteria La Pieve an und flugs finden sich interessierte Architekten, Landschaftsgärtner und fleißige Arbeiter bei Emilia ein. In kürzester Zeit wird eifrig gearbeitet und ganz nebenbei entspinnen sich eine Liebesgeschichte und ein Streit mit dem wehrhaften Giampaolo Rattibaldi. Stimmige Zutaten für eine romantische Geschichte, jedoch mit hölzernen Phrasen und völlig unrealistischem Hintergrundgeschehen durchsetzt.

Punkte verdienen nur toskanisches Flair und Letizias kulinarische Köstlichkeiten, welche man nach den Rezepten am Buchende nachkochen kann. Das erste, recht unterhaltsame, Kapitel verspricht leider sehr viel mehr als danach kommt.



Titel Pinienduft im Hotel Toscana Mare

Autor Hanna Holmgren

ISBN 978-3-949221-38-5

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 300 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook

Erscheinungsdatum 1. September 2022

Verlag FeuerWerke

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Veröffentlicht am 07.09.2022

Zerrissen

Der Sturm
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Zwölf Jahre nach einem schrecklichen Unglück kommt Kieran mit Frau und Tochter zurück nach Tasmanien. Inzwischen ist sein Vater krank und seine Mutter in sich zurückgezogen. Kieran plagt auch jetzt noch ...

Zwölf Jahre nach einem schrecklichen Unglück kommt Kieran mit Frau und Tochter zurück nach Tasmanien. Inzwischen ist sein Vater krank und seine Mutter in sich zurückgezogen. Kieran plagt auch jetzt noch das schlechte Gewissen, am Tod seines Bruders Finn und dessen Freund Toby schuld zu sein. Nun liegt plötzlich eine Tote am Strand, wenige Tage nach seiner Rückkehr. Gibt es einen Zusammenhang mit den damaligen Ereignissen, und wenn ja, welche?

Ein Prolog, der irgendwann wiederkehrt wie ein Schicksal, das sich nicht abstreifen lässt. Geschickt verwebt Jane Harper das Jetzt mit der Vergangenheit und lässt immer wieder frühere Episoden nahtlos in die aktuelle Handlung einfließen. Unaufhaltsam wie das Wasser, das sich seinen Weg sucht und findet, bahnen sich Gedanken und Erinnerungen in Kierans Gedächtnis. Ruhig, fast ein wenig kühl und distanziert, liest sich Harpers Thriller, dessen Stärke genau darin besteht: ohne Ausschweifungen, ohne schmückendes Beiwerk erzählt die Autorin Kierans Heimkehr, die Schreibweise spiegelt perfekt die Kühle und Düsternis wider, welche auch mehr als ein Jahrzehnt später das Küstenstädtchen überschattet, auch wenn man vergessen möchte.

Nicht so sehr Hochspannung mit Gänsehautfaktor sind hier das Entscheidende, sondern die nagenden Gefühle von Schuld und Versagen. Kieran fühlt sich immer noch als der leichtsinnige Junge, der seinen älteren Bruder in Gefahr – und somit in den Tod – getrieben hat. Und er spürt, dass die anderen ihn genauso sehen – als Täter, der seinen Eltern den Sohn geraubt, einem kleinen Buben den Vater genommen hat.

Wenige Charaktere stehen nach dem Ende der Hauptsaison im Mittelpunkt um die Suche nach dem Mörder der Toten vom Strand. Eine gewissenhafte Polizistin stellt viele Fragen. Plötzlich erscheint der Sturm zwölf Jahre zuvor wie ein Unglück von gestern. Die Vergangenheit holt Evelyn Bay wieder ein.

Fazit: ein überaus gelungener Spannungsroman über Schuld und Verzweiflung, über zerbrochene Familien und eine atemberaubende, wilde und gefährliche Kulisse, wenn die Sonne untergeht und die Wellen unbezähmbar werden.



Titel Der Sturm

Autor Jane Harper

ISBN 978-3-352-00968-6

Sprache Deutsch

Ausgabe Gebundenes Buch, 396 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 20. September 2022

Verlag Rütten & Loening

Originaltitel The Survivors

Übersetzer Matthias Frings

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