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Veröffentlicht am 31.07.2022

Die Welt verändern

Findelmädchen
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Nach Jahren als Findelkinder bei einer freundlichen Gastfamilie in Frankreich wird im Dezember 1954 endlich über den Suchdienst des Roten Kreuzes der Vater von Helga und Jürgen gefunden. Aufgeregt und ...

Nach Jahren als Findelkinder bei einer freundlichen Gastfamilie in Frankreich wird im Dezember 1954 endlich über den Suchdienst des Roten Kreuzes der Vater von Helga und Jürgen gefunden. Aufgeregt und überglücklich reisen sie zurück nach Köln. Während der Vater mit einer kleinen Verkaufsbude beginnt und Jürgen bei Ford arbeitet, möchte Helga mit ihrer raschen Auffassungsgabe und ihrem Talent zu schreiben das Gymnasium besuchen. Dies wird ihr jedoch verwehrt, sie soll sich mit ihren „deux mains gauches“ (zwei linke Hände) durch die Haushaltungsschule plagen und sich auf ein Leben als Ehefrau und Mutter vorbereiten. Beim Praktikum im Waisenhaus gerät sie an die Grenzen des Erträglichen, so wie manches Kind dort behandelt wird. Bald gerät sie in einen Gewissenskonflikt zwischen Akzeptanz und Widerstand.

Mit besonderer Gewissenhaftigkeit und Hingabe scheint Lilly Bernstein sich diesem Buch gewidmet zu haben. Aus Helgas Sicht erzählt sie einfühlsam und mit spürbarer Empathie über das Schicksal der beiden Geschwister, welche behütet aber doch als „boches“ (Deutsche, Außenseiter) in Frankreich bei Tante Claire und Onkel Albert einige Jahre ihrer Kindheit verbringen. Zurück in Köln hausen sie in ärmlichen Verhältnissen in ihrem früheren Wohnhaus, in dem aber jetzt die unbarmherzige Tante Meta ein strenges Regiment führt. Dazwischen sind Tagebucheinträge einer verzweifelten Frau zu lesen, welche von Schutt und Trümmern, Hunger und Krankheit berichten.

Gut recherchiert und detailgenau geht die Autorin auf die schwierige Nachkriegszeit ein, beschreibt beengte und heruntergekommene Wohnverhältnisse und harte Arbeit ebenso wie die Freude über den Aufschwung, unterhaltsame Musik und schwingende Pettycoats. Die Zeit um 1955 ist sehr lebendig und gut vorstellbar eingefangen. Rasch fühlt man als Leser mit Helga mit, egal, ob es um den ausgelassenen Jitterbug geht, den sie tanzt oder um die Traurigkeit, nicht ins Gymnasium zu dürfen. Insbesondere ihre Erlebnisse mit den Zöglingen im Heim sind erschütternd realistisch und unglaublich nahegehend widergegeben. (Den Dankesworten am Ende des Buches ist zu entnehmen, dass Lilly Bernstein mit Zeitzeugen gesprochen hat.)

Die Spannung in diesem sehr emotionalen Roman steigt kontinuierlich an und zeigt die inneren Konflikte einer jungen Frau vom Bouche de Noel (Biskuitrolle mit Schokocreme) 1954 bis zum Weihnachtsbaumkuchen 1955. Ein ereignisreiches Jahr, das voller Aufregung steckt. Soll man sich gesellschaftlichen Konventionen beugen oder doch lieber um Veränderung kämpfen? Soll man Akzeptanz von bestehenden Normen über oder Unrecht wie Rassentrennung bekämpfen? Einerseits ist Helga furchtbar naiv und gutgläubig, andererseits hat sie ganz klare Vorstellungen davon, wie sie ihr Leben (nicht) gestalten möchte. Geschickt verquickt Bernstein historische Details mit einer tollen fiktiven Handlung und schafft so einen überaus lesenswerten Roman, den ich nur wärmstens empfehlen kann.



Titel Findelmädchen

Autor Lilly Bernstein

ISBN 978-3-548-06568-7

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 592 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 28. Juli 2022

Verlag Ullstein

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.07.2022

Im Spiegel der Vergangenheit

Elternhaus
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Eine alte Villa in Hamburg hat es dem charismatischen Barpianisten Tobias Hansen angetan. Gerne parkt er nach seinen Vorstellungen noch vor dem knorrigen Haus und schaut auf die dunklen Erker und windschiefen ...

Eine alte Villa in Hamburg hat es dem charismatischen Barpianisten Tobias Hansen angetan. Gerne parkt er nach seinen Vorstellungen noch vor dem knorrigen Haus und schaut auf die dunklen Erker und windschiefen Fensterläden. Alsbald zieht Familie Winkler in den renovierungsbedürftigen Kasten ein und Hansen sucht als Klavierlehrer deren Nähe. Niemand ahnt, warum er gerade den vier Winkler-Kindern Musikunterricht geben will.

Sehr ruhig startet Jennifer Mentges diesen Thriller. Verschiedene Figuren werden vorgestellt, die Zusammenhänge bleiben über etliche Kapitel im Verborgenen. Während die Handlung erst allmählich in Gang kommt und die Spannung sich recht langsam aufbaut, besticht von Anfang an die klare Charakteristik der Personen. Schnell lernt der Leser die wenigen wesentlichen Menschen kennen. Was unklar bleibt: was fesselt Tobias Hansen tatsächlich so sehr an diesem alten Haus, das sowohl finanziell als auch von der Größe her „mindestens drei Nummern zu groß“ für ihn ist? Im Gegensatz zu den anderen scheint er schwer durchschaubar, wiewohl recht früh in der Geschichte so manches vorhersehbar wird aufgrund versteckter Details, die da und dort preisgegeben werden. Zwischen die abwechslungsreichen Szenen aus unterschiedlichen Blickwinkeln gibt es schicksalhafte Zeilen aus den 1970er und -80er-Jahren. Schließlich fügt sich die Vergangenheit wie ein fehlendes Puzzlestück in die Gegenwart.

Insgesamt ein Buch, das erst nach und nach an Spannung und Knistern gewinnt. Der Aufbau ist logisch und durchdacht, die Sprache überaus angenehm und stellenweise poetisch: „Sie würde nicht das Glück der anderen im Sonnenschein mit ansehen müssen, denn niemand war so allein wie der Einsame bei gutem Wetter.“ [kindle, Pos.1847] „Die Nacht hatte bereits vom Schlaf verklebte Lider.“ [kindle, Pos.2911].

Ein Buch für Thrillerfreunde, die es lieber unblutig wollen.



Leseprobe: https://www.fischerverlage.de/buch/jennifer-mentges-elternhaus-9783104905389



Titel Elternhaus

Autor Jennifer Mentges

ISBN 978-3-651-02555-4

Sprache Deutsch

Ausgabe Taschenbuch, 416 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook (1. Juli 2022)

Erscheinungsdatum 10. August 2022

Verlag Fischer Scherz

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.07.2022

Helden ihres Lebens

Die Freundinnen vom Strandbad (Die Müggelsee-Saga 2)
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Berlin, 1961: Clara kann in den Westen fliehen, Martha und Betty bleiben im Osten zurück. Völlig im Ungewissen, wie es Clara geht, ob sie verhaftet oder gar erschossen worden ist, entwickelt sich auch ...

Berlin, 1961: Clara kann in den Westen fliehen, Martha und Betty bleiben im Osten zurück. Völlig im Ungewissen, wie es Clara geht, ob sie verhaftet oder gar erschossen worden ist, entwickelt sich auch deren Leben in ganz unterschiedliche Richtungen. Betty versucht sich anzupassen, während Martha immer mehr den Protest wagt. Wie wird sich das auf die Freundschaft auswirken?

Nahtlos knüpft Band 2 der Müggelsee-Saga an den Vorgänger an. Claras Flucht wird auf bewegende und beängstigende Weise beschrieben. Nicht minder aufregend geht es im Osten weiter; den Verhörmethoden und Versuchen, Menschen zum Spionieren zu bewegen, ist schwer zu widerstehen. So mancher verliert den Kampf oder gar sein Leben. Sehr gut recherchiert und absolut glaubwürdig wird das Leben diesseits und jenseits der Mauer geschildert. Einfühlsam und mit ein wenig Melancholie zeichnet Julie Heiland ein grandioses Bild der unterschiedlichen Welten in den Jahren 1961 – 1990. Trotz aller Verluste, Trauer und Zorn bleibt aber immer ein gerüttelt Maß an Zuversicht, welche die drei jungen Frauen auf ihren Wegen begleitet.

Übersichtliche Kapitel mit Namen und Jahreszahl führen spannend und fesselnd durch die Jahre, begleiten die drei Freundinnen durch schwierige Zeiten, in denen alles auseinanderzubrechen droht. Familie oder Karriere, Hausmütterchen oder Berufsleben, Anpassung oder Protest? Viele Fragen werden gestellt, Richtungen eingeschlagen und Weichen verändert. Zum Glück gibt es fast immer eine Wahl, auch wenn es nicht leicht fällt.

Die Schicksale von Clara, Betty und Martha werden anhand ihres Alltags überaus plastisch beschrieben, als Leser kann man sich die Szenen bildlich vorstellen, schmunzeln, staunen, Angst verspüren. Der Kontrast zwischen Ost und West ist gut gelungen, nicht alles ist unbedingt auf einer Seite besser Was vermittelt ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit? Nylonstrümpfe und Dosenpfirsiche oder der kratzige Wollstoff des abgetragenen Kleides? Sehr gut zeigt die Autorin in diesem Buch, worauf es im Leben wirklich ankommt, wie wichtig Freunde und Rückhalt in der Familie sind.

Fazit: eine wunderschöne Zeitreise in die Jahre „hinter der Mauer“ …



Titel Die Freundinnen vom Strandbad, Wogen der Freiheit

Autor Julie Heiland

ISBN 978-3-548-06560-1

Sprache Deutsch

Ausgabe Flexibler Einband, 592 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook

Erscheinungsdatum 28. Juli 2022

Verlag Ullstein

Reihe Die Müggelsee-Saga, Band 2

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.07.2022

(Un)Schuld

Die karierten Mädchen
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Klara ist über neunzig und blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück. Vieles hat sie mit ihrem Mann Gustav und ihren vier Kindern geteilt, einiges jedoch hat sie über all die Jahrzehnte tief in sich ...

Klara ist über neunzig und blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück. Vieles hat sie mit ihrem Mann Gustav und ihren vier Kindern geteilt, einiges jedoch hat sie über all die Jahrzehnte tief in sich verborgen. Nun spricht sie, mittlerweile blind, ihre Erinnerungen auf Tonbandkassetten. Sie erzählt von ihrer Zeit als Lehrerin im Kinderheim Oranienbaum, von der immer schwieriger werdenden finanziellen Lage, einem jüdischen Säuglingsmädchen, das in ihrer Erziehungsanstalt abgegeben worden ist, von den Nazis, welche das Haus in ein ländliches Frauenbildungsheim verwandeln wollen und darüber, wie sie Gustav kennengelernt hat.

In unregelmäßigem Wechsel schildert Alexa Hennig von Lange die Situation der alten Dame, wie sie ihre Kassetten bespricht oder in Erinnerungen schwelgt und Kapitel, welche ab 1929 datieren. Als Vorlage für Klaras Lebensgeschichte dienen die Erlebnisse ihrer eigenen Großmutter, die sie als diszipliniert und streng beschreibt. Aufgrund dieser Eigenschaften bleibt leider auch Klara im Roman sehr distanziert und oberflächlich. Die Autorin beschreibt zwar ihre Zuneigung zu ihrer Familie und zu ihrer Kollegin und Freundin Susanne, aber immer wieder drängt sich hier das Gefühl auf, dass es sich (auch) um Pflichtbewusstsein oder Eigennutz handelt. Im Grunde ist Klara eine strebsame Einzelkämpferin, die entschieden für ihr Vorwärtskommen eintritt, selbst wenn es dafür mit den Nazis zusammenzuarbeiten heißt. Wenig interessiert an Politik, merkt sie erst spät, wo sie da hineingeraten ist.

Die starre Vorlage der Kassettenaufzeichnungen führt leider zu einer eher langatmigen Szenenabfolge anstelle einer aufregenden Romanhandlung. Insbesondere fehlen mir nahegehende Gefühle und Gewissenskonflikte, möglicherweise aber war die Dame tatsächlich so streng und kühl wie ihr starrer Dutt am Hinterkopf? Dann hätte ein wenig Fiktion, gemischt mit der Realität, ein bisschen Schwung ins Geschehen bringen können.

Natürlich ist es im Nachhinein einfach, zu urteilen, aber die Naivität und politische Interessenlosigkeit von Klara ist schon bemerkenswert. Und schließlich stellt sich die Frage, was Hennig von Lange mit diesem Buch bezwecken will. Soll das reale Leben der 1930er-Jahre abgebildet werden oder ist es ein Versuch, die Großmutter zu entlasten? Ich habe mir vom Beginn dieser Trilogie mehr erwartet …



Titel Die karierten Mädchen

Autor Alexa Hennig von Lange

ISBN 978-3-8321-8168-0

Sprache Deutsch

Ausgabe Gebundenes Buch, 368 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook

Erscheinungsdatum 2. August 2022

Verlag Dumont

Band 1 einer Trilogie

Veröffentlicht am 24.07.2022

Tee aus Japan

Der Duft der Kirschblüten
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„Der Tee in ihrer Schale wurde zu einem jadegrünen Meer, und sie tauchte in seine Tiefe, bis an den Grund, wo von den Wellenbewegungen an der Oberfläche nichts mehr zu spüren war und vollkommene Stille ...

„Der Tee in ihrer Schale wurde zu einem jadegrünen Meer, und sie tauchte in seine Tiefe, bis an den Grund, wo von den Wellenbewegungen an der Oberfläche nichts mehr zu spüren war und vollkommene Stille und Frieden herrschten.“ (kindle, Pos. 2668)

Clara Winterfeld ist vierundzwanzig, als ihr Vater aufgrund gesundheitlicher Probleme sein Teehaus nicht mehr uneingeschränkt leiten kann. Da es im Berlin der 1870er Jahre nicht anders möglich ist, bleibt der Schein nach außen gewahrt, während Clara sich im Hintergrund um Rechnungen und Bestellungen kümmert. Um das Familienunternehmen auch längerfristig abzusichern, willigt sie in die Heirat mit ihrem Freund Franz aus Kindertagen ein. Er ist als Ziegelfabrikant eine „gute Partie“ und Claras Familie seit vielen Jahren verbunden. In Wirklichkeit jedoch empfindet Clara keine Liebe, ja nicht einmal mehr Zuneigung für ihn, sondern schwärmt für den Japaner Akeno, der auf seiner Handelsreise durch Europa auch im Hause Winterfeld seine fremdartigen Teesorten vorgestellt hat.

Mit einer sehr angenehm zu lesenden, warmherzigen Schreibweise erzählt Rosalie Schmidt diese Geschichte aus Claras Sicht. Schnell ist man als Leser angekommen in Berlin und im neunzehnten Jahrhundert. Die Wohn- und Arbeitsverhältnisse werden ebenso bildhaft vorgestellt wie die sozialen Normen und die Stellung der Frau. Die Industrialisierung im Gegensatz zur Armut zeigt sich deutlich. Die Winterfelds haben Glück gehabt und sich mit ihrem Teesalon etabliert. Mit dem Ziegelfabrikanten Franz Casper oder dem Großhändler Hannes Stargard können sie dennoch bei Weitem nicht mithalten. So sieht sich Clara gezwungen, im Sinne des Unternehmens zu heiraten, obwohl sie immer schon nach Freiheit und nach Wissen dürstet.

Liebevoll beschriebene Charaktere, manchmal vielleicht ein wenig zu schwarz-weiss gezeichnet, begleiten Clara auf ihrem spannenden Weg und bezaubern beim Lesen. Man spürt, wie sie schwankt zwischen Konventionen und persönlichen Vorstellungen, zwischen dem Wohl der Familie und ihren eigenen Wünschen. Was ist richtig, was ist falsch, was gehört sich, wie weit darf man abweichen? Zwischen den Szenen dieses großartigen Sittenbildes finden sich ausführliche Beschreibungen unterschiedlichster Teesorten samt Zubereitung und interessante Einzelheiten zu Japans Öffnung, was Handelsbeziehungen betrifft. Das elterliche Teehaus der Autorin hat hier wohl einen prägenden Eindruck hinterlassen. Der Duft von frisch gebrühten Blättern steigt fast wohltuend aus den Seiten auf.

Fazit: Die Idee, eine geschäftstüchtige junge Frau voller Träume und Ideen gegen die Konventionen ihrer Zeit ankämpfen zu lassen, vermischt mit neuen Teesorten aus Japan und einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte, ist überaus gut gelungen. Ich freue mich jedenfalls schon auf den nächsten Band, der hoffentlich alle offenen Fragen beantwortet und möglicherweise ein wenig mehr über Japan erzählt.



Titel Der Duft der Kirschblüten

Autor Rosalie Schmidt

ISBN 978-3-423-22016-3

Sprache Deutsch

Ausgabe Flexibler Einband, 448 Seiten

ebenfalls erhältlich als ebook und Hörbuch

Erscheinungsdatum 20. Juli 2022

Verlag dtv

Reihe Die Kirschblüten-Saga, Band 1

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