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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.09.2020

Auf der Suche nach Theo

Volkswagen Blues
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Ein relativ erfolgloser Autor, der in der Vergangenheit mehrere Romane unter dem Pseudonym Jack Waterman veröffentlicht hat, macht sich in Québec mit einem uralten Bulli auf den Weg, um seinen Bruder ...

Ein relativ erfolgloser Autor, der in der Vergangenheit mehrere Romane unter dem Pseudonym Jack Waterman veröffentlicht hat, macht sich in Québec mit einem uralten Bulli auf den Weg, um seinen Bruder Theo zu suchen. Als Kinder standen sie einander sehr nahe, als Jugendliche nicht mehr so, aber inzwischen hat er seinen Bruder etwa 20 Jahre nicht gesehen. Er fühlt sich schuldig, glaubt, dass er ihn irgendwann im Stich gelassen hat. Schon zu Beginn der langen Reise nimmt Jack die Anhalterin Pitsémine und ihren Kater Chop Suey mit. Die sehr belesene Halb-Indianerin entschlüsselt die wenigen Indizien zu Theos Weg und wird Jack einige sehr wertvolle Tipps geben. Als gelernte Mechanikerin hält sie auch den alten Bulli in Schuss und ermöglicht so die lange Fahrt von Quebec über den Oregon-Trail, die Rocky Mountains bis nach Kalifornien. Die beiden Eigenbrötler nähern sich einander an, entwickeln Gefühle, obwohl der schüchterne Jack und die etwas forschere Pitsémine im Grunde am liebsten allein sind und eine feste Bindung gar nicht wollen. Sie sind ein ungewöhnliches und sehr sympathisches Paar.

Jacques Poulains Roman ist eine Road Novel und zugleich eine Zeitreise, denn die Geschichte enthält viele Namen und historische Fakten und eine Menge Informationen über die Besiedlung Amerikas, den Zug der Siedler nach Westen, die Indianerkriege und die Ausrottung der Bisons, die einmal mehr zeigen, dass die Geschichte Amerikas von Gewalt bestimmt ist. Zum Glück ist der Roman kein trockenes Geschichtsbuch, zumal der Autor witzige Episoden zur Auflockerung einfließen lässt. Mir hat die Geschichte gut gefallen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, die Landschaft und die Orte aus eigener Anschauung zu kennen. Es ist auf jeden Fall erfreulich, dass der bald 40 Jahre alte Roman nun endlich auf Deutsch erscheint.

Veröffentlicht am 06.09.2020

Was wissen wir schon über unseren Nächsten?

Das Leben ist ein wilder Garten
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„Das Leben ist ein wilder Garten“ (Originaltitel: Grand National), der neue Roman des Schweizers Roland Buti, beschreibt eine kurze Phase im Leben des Landschaftsgärtners Carlo Weiss. Seine geliebte Frau ...

„Das Leben ist ein wilder Garten“ (Originaltitel: Grand National), der neue Roman des Schweizers Roland Buti, beschreibt eine kurze Phase im Leben des Landschaftsgärtners Carlo Weiss. Seine geliebte Frau Ana hat ihn verlassen, die 18jährige Tochter Mina studiert in London und duldet keine Einmischung ihrer Eltern in ihr Leben. Dann wird Carlo durch einen Arbeitsunfall außer Gefecht gesetzt, und zwei Unbekannte schlagen seinen aus dem Kosovo stammenden Helfer Agon brutal zusammen, wobei sie ihn erheblich verletzen. Genau in dieser Krise verschwindet Carlos leicht demente Mutter Pia aus dem Altersheim. Carlo findet sie in dem ehemaligen Luxushotel Grand National in den Bergen, wo die bildhübsche Tochter eines Bäckers als junges Mädchen Brötchen auslieferte. Die Mutter will hier in Würde ihre letzten Tage verbringen und weigert sich, ins Heim zurückzukehren. An ihrer Seite trifft Carlo einen alten Lehrer, der sie offensichtlich sein Leben lang bewundert und geliebt hat. In den Gesprächen mit dem Lehrer und mit seiner Mutter erfährt Carlo eine Menge über die Vergangenheit seiner Mutter, vor allem über die Männer in ihrem Leben, als sie eine umschwärmte Schönheit war.
Buti erzählt seine an äußerer Handlung recht arme Geschichte sensibel und poetisch, wobei er deutlich macht, dass wir nur sehr wenig über die Menschen wissen, die uns nahestehen. Carlo hat nicht nur ein sehr unvollständiges Bild von seiner Mutter. Er erfährt auch, dass der massige Koloss Agon mit den Riesenpranken eine dunkle Vergangenheit im Balkankrieg hat und es sich bei dem Überfall um eine späte Rache handelt. In der Begegnung mit Carlos Mutter erweist sich Agon als äußerst sensibel und empathisch. Umso schlimmer ist es für ihn, dass sein kleines Gartenparadies samt Hütte einem Fußballplatz weichen muss.
Poetisch ist die Sprache Butis nicht nur in Bezug auf die Menschen, sondern auch bei den Naturbeschreibungen. Da verschmerzt der Leser leicht, dass auf der Handlungsebene nicht viel passiert.

Veröffentlicht am 02.08.2020

Ich sollte noch ein bisschen bleiben

Der letzte Satz
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In Robert Seethalers neuem Roman “Der letzte Satz“ ist der Komponist und Dirigent Gustav Mahler auf dem Schiff „Amerika“ von New York Richtung Europa unterwegs. Er ist todkrank und weiß selbst, dass dies ...

In Robert Seethalers neuem Roman “Der letzte Satz“ ist der Komponist und Dirigent Gustav Mahler auf dem Schiff „Amerika“ von New York Richtung Europa unterwegs. Er ist todkrank und weiß selbst, dass dies seine letzte Reise sein wird. Er schaut vom Deck aus über das Meer und lässt Stationen seines Lebens Revue passieren: seine bemerkenswerte Karriere als Dirigent, die ihn in die großen Häuser der ganzen Welt führte und unter anderem in Wien einem disziplinlosen Orchester mit teilweise mittelmäßigen Musikern zu großen Triumphen verhalf. Er erinnert sich an seine kleine Tochter Maria, die etwa zwei Jahre zuvor verstarb, und er denkt über seine Ehe mit der schönen Alma nach, die mit der kleinen Tochter Anna ebenfalls an Bord ist. Alma ist die Liebe seines Lebens. Sie ist dennoch von dieser Ehe enttäuscht und hat sich einem anderen Mann zugewandt, weil sie immer gespürt hat, dass die Musik in Gustav Mahlers Leben die wichtigste Rolle spielt. Sie verlässt ihren Mann jedoch nicht, denn ihm bleibt ohnehin nicht mehr viel Zeit. Rückblickend bedauert Mahler, nicht mehr komponiert zu haben: „Ich sollte noch ein bisschen bleiben.“ (S. 118) Seine Tätigkeit als Dirigent und die vielen Reisen haben zu viel Zeit gekostet.
Seethaler zeichnet in diesem schmalen Bändchen ein faszinierendes Porträt eines großen Künstlers, der trotz antisemitischer Anfeindungen und Widerständen aller Art seinen Weg ging und großes leistete. Auch die lange Krankheit mit vielen unangenehmen Symptomen lässt ihn nicht resignieren. Er weiß: Solange man sich den Tod vorstellen kann, ist er noch nicht da (S. 108). Dem Autor ist ein auch sprachlich beeindruckendes Porträt gelungen, das ich gern empfehle.

Veröffentlicht am 16.07.2020

Die Geschichte einer starken Frau

Die Marschallin
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In ihrem Roman „Die Marschallin“ erzählt die Autorin Zora del Buono die Geschichte ihrer gleichnamigen Großmutter und gibt dabei einen detaillierten Einblick in das Zeitgeschehen von 1919 - 1948. In einem ...

In ihrem Roman „Die Marschallin“ erzählt die Autorin Zora del Buono die Geschichte ihrer gleichnamigen Großmutter und gibt dabei einen detaillierten Einblick in das Zeitgeschehen von 1919 - 1948. In einem auf das Jahr 1980 datierten Epilog berichtet die Großmutter, die inzwischen in einem Pflegeheim in Jugoslawien lebt, aus ihrer Sicht über ihr Leben. Zora del Buono ist eine dominante Frau, die weiß, was sie will. Aufgewachsen mit vier Brüdern und Mutter von drei Söhnen duldet sie keine Rivalinnen. Von daher haben ihre Schwiegertöchter später einen schweren Stand. Zora lernt ihren Mann, den Radiologen Pietro del Buono, bei einem Einsatz im Ersten Weltkrieg kennen. Das Paar heiratet und lebt später in einem von Zora entworfenen Haus in Bari, in dem sich auch die Klinikräume befinden. Sie sind reich, leben ein gutbürgerliches Leben und sind dennoch überzeugte Kommunisten, die den Faschismus bekämpfen, Tito bewundern und aktiv Partisanen unterstützen. Bei diesen Aktivitäten wird Zora in einen Raubmord verwickelt, denn die Gegner des Faschismus brauchen Geld und Waffen für ihren Kampf. Es ist eine Zeit von Kriegen und Gewalt, und die Familie erlebt eine Reihe von tragischen Verlusten, vor allem Autounfälle mit tödlichem Ausgang. Enkelin Zora ist die Tochter des früh verstorbenen jüngsten Sohnes Manfredi und der Schweizerin Marie-Louise.
Der Roman ist besonders interessant, weil er zugleich eine ungewöhnliche, bewegte Familiengeschichte und ein kenntnisreiches Geschichtsbuch ist, was die Lektüre teilweise etwas erschwert. Nach der Lektüre weiß ich jedenfalls, was ich über Slowenien alles nicht wusste. Ein eindrucksvoller und empfehlenswerter Roman.

Veröffentlicht am 05.07.2020

Die Welt folgt keinem Plan

City of Girls
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In „City of Girls“, Elizabeth Gilberts neuem Roman, berichtet Ich-Erzählerin Vivian Morris als fast 90jährige Frau über ihr Leben, indem sie einen Brief an „Angela“ schreibt, über deren Identität der Leser ...

In „City of Girls“, Elizabeth Gilberts neuem Roman, berichtet Ich-Erzählerin Vivian Morris als fast 90jährige Frau über ihr Leben, indem sie einen Brief an „Angela“ schreibt, über deren Identität der Leser lange nicht Bescheid weiß. Die Geschichte beginnt im Sommer 1940, als die 19jährige Vivian das renommierte Vassar College verlassen muss, weil sie dort die erforderlichen Leistungen nicht erbracht hat. Ihre gut situierten Eltern schicken sie aus der Kleinstadt Clinton nach Manhattan zu ihrer Tante Peg, die dort das heruntergekommene Lily Playhouse leitet. Dort gibt es täglich zwei preiswerte Vorstellungen für die Bewohner des Viertels, in denen Revuegirls auftreten. Vivien lernt ein neues Leben kennen und genießt es in vollen Zügen. Sie findet in Celia Ray eine Freundin, mit der sie jede Nacht durch die Clubs zieht, trinkt, flirtet und sich mit einer Vielzahl von Männern einlässt. Sie verfällt Anthony Roccella, einem Mitglied des Ensembles, und wird irgendwann in einen Skandal verwickelt, der fast ihr Leben ruiniert. Für kurze Zeit flüchtet sie wieder in ihr Elternhaus, bevor sie sich definitiv in New York niederlässt und mit einer Freundin eine Schneiderei für außergewöhnliche Brautkleider betreibt.
Der vielschichtige Roman liefert einerseits ein Porträt des amerikanischen Lebens vor und nach dem Kriegseintritt der USA, andererseits eine Coming-of-Age Geschichte am Beispiel der jungen Vivian und eine Abhandlung über Frauenrechte, genauer gesagt ein Plädoyer dafür, dass auch Frauen ein selbstbestimmtes Leben mit allem, was dazugehört, führen können, ohne dass sie irgendjemand Rechenschaft ablegen oder sich für das schämen müssten, was sie sind und tun. “Die Welt folgt keinem Plan (…) Und Menschen passieren Dinge“ (S. 467). Die Autorin macht Vivian zu ihrem Sprachrohr und zeigt überzeugend, dass die sexuelle Befreiung der Frauen keineswegs eine Erfindung der Blumenkinder war, sondern sehr viel eher begonnen hat. Ich habe den interessanten Roman trotz einiger Längen und handlungsarmer Passagen mit inhaltlichen Wiederholungen gern gelesen.