Coming of Age Klassiker
Die Mitte der WeltLiebe Daisy,
erinnerst du dich noch daran, wie wirr der Kopf als Teenager war, als man versucht hat seinen Platz in der Welt zu finden? Wir lesen ja beide allerlei Coming of Age Bücher, aber heute möchte ...
Liebe Daisy,
erinnerst du dich noch daran, wie wirr der Kopf als Teenager war, als man versucht hat seinen Platz in der Welt zu finden? Wir lesen ja beide allerlei Coming of Age Bücher, aber heute möchte ich dir einen Klassiker des Genres vorstellen: Die Mitte der Welt von Andreas Steinhöfel. Vielleicht sagt es dir ja sogar schon was, das Buch ist schließlich schon 1998 bei Carlsen erschienen; ich hab die überarbeitete Ausgabe von 2004 gelesen.
Das Buch erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen Phil. Dieser lebt zusammen mit seiner aus Amerika stammenden, exzentrischen Mutter und seiner verschlossenen Zwillingsschwester in einer deutschen Kleinstadt. Wie du dir sicher schon denken kannst, passt die Familie nicht so gut in die Umgebung: eine Frau mit zwei Kindern, ohne Mann? Und dann wohnen sie auch noch auf einem alten Anwesen auf einem Hügel, das von der ganzen Stadt aus sichtbar ist (passender Weise trägt dieses den Namen Visible.) So ungewöhnlich wie ihr Zuhause, ist auch die Familie: nichts läuft so, wie man es erwartet. Und an jeder Ecke schlummern Geheimnisse und Erinnerungen. Gut, dass Phil seine beste Freundin Kat hat, die seit ihrer gemeinsamen Kindheit mit ihm durch Dick und Dünn geht. Doch dann kommt ein Neuer in die Klasse. Nicholas. Der bringt Phils Welt ziemlich aus dem Gleichgewicht – als gäbe es nicht genug, über das er sich den Kopf zerbrechen müsste...
All seine Erlebnisse, Erkenntnisse und Entwicklungen bekommt man als Leserin oder Leser durch eine erste Personen Erzählung hautnah mit. Phil macht selten einen Schritt zurück, um zu reflektieren – umso mehr Chance hatte ich beim Lesen, eben das zu tun. Ich habe oft schmunzelnd den Kopf geschüttelt und mich daran erinnern, wie es war, selbst ein Teenager zu sein; bevor ich wusste, wer ich bin und was ich wollte. Die Momente, in denen ich eben in der Situation von Phil war. Sein Charakter ist für seine Mitmenschen wohl manchmal undurchschaubar, als Figur funktioniert er dafür umso klarer. Hierfür verwendet Andreas Steinhöfel eine Vielzahl von Rückblicken, die dem Roman ein episodisches Gefühl geben. Diese zeigen, wie Phil sich zu seiner jetzigen Person entwickelt hat und erschaffen einen runden Charakter. Wobei ich zugeben muss, dass es mir beim Lesen stellenweise zu episodisch wurde und ich mich stark konzentrieren musste, um die einzelnen Bögen zusammenzufügen. Als Fernsehserie könnte ich mir das sehr spannend vorstellen.
Apropos, vielleicht hast du gelesen, dass es auch einen Film zu dem Buch gibt; der kann aber leider nicht mit der Atmosphäre des Buches mithalten. Durch den konstanten inneren Monolog des Buches ist man viel dichter an Phil, seinem Staunen, Zweifeln und Erkennen dran als im Film. Dasselbe gilt für die anderen Figuren: Im Buch sind sie wunderbar mehrdimensional geglückt, im Film dagegen gar nicht. Wenn du dich also fragst, was davon du eher zur Hand nehmen solltest: definitiv das Buch! Die Atmosphäre, die geschaffen wird, ist einmalig; man fühlt sich direkt selbst wieder wie siebzehn:
„Ende der Fahnenstange. Mein Gehirn setzt einfach aus – beide Hälften. Ich fühle mich wie betäubt. Es ist keine große Beruhigung, dass ich nicht der Einzige bin, auf den Nicholas eine solche Wirkung hat.“ (S. 144)
Denn ja, unser Protagonist ist verliebt. In Nicholas. Erwähnenswert finde ich, dass der Fokus des Buches nicht darauf liegt, dass es sich um zwei Jungs handelt. Andere Romane schwingen dafür ja den neonfarbenen Holzhammer. Die Verliebtheit stellte hier vielmehr eine der vielen Sachen, die Phil bedenkt, um sich und seinen Platz in der Welt zu finden, dar. Wobei der Autor eine ausgesprochen große Bandbreite an relevanten Themen, die einem beim Erwachsen werden durch den Kopf schwirren, behandelt: Familie, Freundschaft, Loyalität, Zugehörigkeit und ja, eben auch Liebe. Und vielleicht bringt die Reise, die Phil durchmacht, ihn ja dazu, die Mitte seiner Welt zu überdenken?
Empfehlen würde ich das Buch für alle ab fünfzehn. Es hat gedauert, bis ich mich in die episodische Struktur eingelesen hatte, aber dann war ich ganz begeistert: Zum Schluss konnte ich es gar nicht mehr aus der Hand legen und als ich die letzte Seite gelesen hatte, war ich ehrlich enttäuscht. An dem Punkt waren mir die Figuren so an’s Herz gewachsen, dass ich es sehr schade fand, ihre Geschichte nicht weiter verfolgen zu können. Falls du also Lust auf ein rundes Jugendbuch mit interessanten Figuren hast, kann ich dir dieses empfehlen.
Deine Daffy