Intelligent und packend
Ein Bild der NiedertrachtLangsam gewöhnt sich Karen an ein Leben ohne Phil, vergessen ist er nicht. Hummerfischer ziehen die Leiche eines Mannes aus dem Meer, nachdem seit Jahren wegen des rätselhaften Verschwindens seines Bruders, ...
Langsam gewöhnt sich Karen an ein Leben ohne Phil, vergessen ist er nicht. Hummerfischer ziehen die Leiche eines Mannes aus dem Meer, nachdem seit Jahren wegen des rätselhaften Verschwindens seines Bruders, eines hochrangigen politischen Beamten gefahndet wird. Auch wenn dies ein aktueller Fall ist, landet er auf dem Schreibtisch der Cold Case Unit, da Karen und Jason erst vor zwei Jahren das spurlose Verschwinden des Beamten neu überprüften. Dabei hatten die zwei gerade erst den Fall einer Frau zum Ermitteln bekommen, die in einem Wohnmobil in der Garage ihrer kürzlich verstorbenen Schwester eine skelettierte Leiche fand. Wer ist die Frau und warum wurde sie solange in einer Garage versteckt, statt sie zu vergraben?
In diesem Fall geht auch um Homosexualität, was daran liegen dürfte, dass es die Autorin selbst betrifft. Nun habe ich in der letzten Zeit das Gefühl, dass so ungefähr 50 % aller Bücher die Diversität thematisiert wird, um den Zeitgeist zu treffen. Das ist hier nicht so. Es fühlt sich in diesem Fall nicht nur echt an, sondern hat auch tatsächlich einen zwingenden inneren Zusammenhang, während es im zweiten Fall, einfach nur ein Umstand ohne große Bedeutung ist, der aber eben zeigt, wie unterschiedlich man mit seiner Homosexualität umgehen kann. Gerade diese Umstände, in Verbindung mit dem Zeitelement und den schottischen Besonderheiten gefallen mir besonders gut. Denn Schottland ruft nicht nur nach Unabhängigkeit, das Strafrechtssystem ist ein anderes und auch die Politik ist nicht so konservativ, wie die in London. Das führt tatsächlich auch zu Eigenheiten im Lebensgefühl, man fühlt sich freier, kreativer, innovativer... ganz ähnlich den Bewohnern von Brighton der Hauptstadt der englischen Clubszene, Kunstszene, Drogenszene, Homosexualität.... ach ja, und Studentenstadt. Ein Ort der am Rande von Bedeutung ist, weil dort eine Kunstgalerie abbrannte. Allerdings ist Karen Pirie mit ihrem Assistenten nicht nur in Schottland unterwegs. Der Altfall führt sie nach Frankreich, allerdings nicht mit Assistent Jason, der zwar in seinen Fähigkeiten begrenzt ist, aber absolut loyal, engagiert und bereit und in der Lage, das Beste aus seinen Möglichkeiten herauszuholen. Da Französisch nicht dazu gehört, bekommt Karen dieses Mal Unterstützung von der jungen, eifrigen DS Daisy, die einen Studienabschluss in Französisch hat, für die allerdings einige Begriffe im Studium wohl auch nicht vorkamen. So stutzte ich über den „juge d'instruction“ den Untersuchungsrichter, der ja nicht so geläufig ist und sicherlich beim Hören für ??? im Ohr sorgen wird. Macht nichts, weiter hören, die Erklärung folgt, wenn auch nicht unmittelbar, aber noch vor dem europäischen Haftbefehl. Denn hier geht es um große Zusammenhänge, die Kunstwelt, Identitätsdiebstahl, Geldwäsche, Mord... kein Wunder, dass jemand, dem die akribische Karen Pierie auf den Fersen ist, versucht von der britischen Insel zu fliehen und auf dem Festland unterzutauchen. Sehr komplexe Zusammenhänge, intelligent arrangiert. Ihre Personen haben Ecken und Kanten, die sie mit ihren Grenzen und Stärken einfach menschlich machen, bis auf Karens gefürchtete Chefin aka der Hundekuchen. Eigentlich mag ich es nicht so, wenn Fälle weiblicher Ermittler von Männern gelesen werden. Doch Karen Pierie ist auch eine ungewöhnlich und recht herbe Person. Etwas spröde, hartnäckig, aber irgendwie auch gewinnend. Wolfgang Berger liest sympathisch und abwechslungsreich. Er betont gekonnt, aber natürlich, was ich bei einem Hörbuch dieser Länge sehr angenehm finde. Sehr angenehm empfinde ich nicht nur, dass er den Personen unaufdringliche Stimmcharaktere verleiht, er behält auch die Lautstärke bei, so dass sie gut ausbalanciert ist.
Dieser Fall wurde in der Pandemie geschrieben. Masken und Hygienemaßnahmen kommen nicht darin vor, da die Ermittlungen der Ausbreitung des Virus vorweg eilen. Doch ist die Arbeit ja noch nicht beendet, nur weil man den Schuldigen kennt, es folgen noch die Vorbereitung der Anklage und der Prozess. Hierfür müssen sich die Ermittler in den harten schottischen Lockdown begeben und sich gut überlegen, mit wem sie diesen verbringen möchten, oder ob sie nicht alleine sein wollen. Hier spürt man deutlich das Augenzwinkern der Autorin bei Jasons Wahl und man selbst kann sich noch einmal vor Augen führen, wie gut es uns in Deutschland gegangen ist, wo es lediglich nächtliche Ausgangsbeschränkungen gab.... Es ist der sechste Fall der Cold Case Unit, die man mit jedem Band besser kennenlernt. So knüpft dieser Band an den Vorgänger an, dürfte aber auch ohne Vorkenntnisse gut verständlich sein, da sie kurz zusammen gefasst werden. Hamish tritt selbstverständlicher in Karens Leben, die noch nicht so genau weiß, ob sie dazu schon bereit ist, gerade jetzt wo der Schuldige an Phils Tod nach nur 3 Jahren aus dem Gefängnis frei kommt. Es sind diese Kleinigkeiten, die diesen gekonnt geplotteten Krimi mit Leben erfüllen. Dabei wird Karen immer wieder von Zweifeln geplagt, doch ist sie bereit ihre eigene Position auch in Frage zu stellen. Da ziehe ich meinen Hut. Den deutschen Titel finde ich übrigens sehr gut gewählt...
Ein intelligenter, schlüssig sich entfaltender Krimi, der dieses Mal in ganz andere Bereiche Schottlands und des Verbrechens entführen, den ich wirklich gerne gehört habe und den ich gerne weiterempfehle.