Außergewöhnlich
Wenn das Schicksal anklopft, mach aufHarmonie ist Mitte/Ende Zwanzig und liebt das Leben. Doch seit dem Tod ihrer Mutter, kennt sie keine bedingungslose Liebe mehr. Ihr Tourette Syndrom mit ihren unwillkürlichen verbalen Ausbrüchen, die selten ...
Harmonie ist Mitte/Ende Zwanzig und liebt das Leben. Doch seit dem Tod ihrer Mutter, kennt sie keine bedingungslose Liebe mehr. Ihr Tourette Syndrom mit ihren unwillkürlichen verbalen Ausbrüchen, die selten schmeichelhaft sind und reflexartigen Bewegungen irritiert die meisten Menschen. Im Supermarkt entdeckt sie einen Zettel, dass eine Hundesitterin gesucht wird. Als sie sich bei 76 jährigen, übergewichtigen Fleur als Sitterin für deren verwöhnten Mops Mylord vorstellt, kommt es wieder zu ungewollten Ausbrüchen. Erschrocken schließt Fleur die Tür und bricht Harmonie dabei den Arm. Harmonies Freund Freddy ist entsetzt, doch zeigt sich in seinem Schock auch, wie er sie wirklich sieht. Entschlossen trennt sich Harmonie, auch wenn sie nicht weiß, wo sie nun unterkommen soll. Zuerst flüchtet sie zu ihrer Freundin Elvire, deren Nystagmus (unkontrolliertes Augenzucken) die meisten Menschen irritiert. Doch dieser wurde die Wohnung gekündigt und Elvires Mutter erweist sich als unerträglich. Entschlossen klopft Harmonie an Fleurs Tür, wohl wissend, dass Fleur wegen des Armbruchs ein schlechtes Gewissen hat und auch schlecht Nein-Sagen kann. Nach und nach lernt Fleur durch diese WG-gegen-ihren-Willen auch Harmonies übrigen nicht ganz gewöhnlichen Freunde und dadurch eine ungeahnte Leichtigkeit kennen. Diese aufgedrängte Nähe erweist sich als größter Gewinn.
Fleur (76) ist einsam und verunsichert, sie füttert ihre Eisamkeit mit Neurosen, Zwängen, Schokolade und ihrer Liebe zu ihrem Mops. Regelmäßig geht sie zu einem russischen Therapeuten, dessen Sitzungen ihre Highlights sind. Harmonie hingegen ist nach ihrer Trennung wie befreit, lebenslustig und bereit die Welt zu umarmen. Ein ungleiches Paar, das eigentlich nicht zusammen passt, sich aber dennoch gegenseitig bestärkt und das Beste aus sich heraus holt. Nach und nach wagt Fleur sich immer weiter aus ihrer Komfortzone heraus und entdeckt das Leben wieder für sich, während Harmonie merkt, dass Sicherheit in einer Beziehung, die sie zu erdrücken scheint, die Persönlichkeit verunsichert und zu ersticken droht. Trotz ihrer scheinbaren Perspektivlosigkeit blüht sie auf. Umgeben von anderen Individuen, die nicht so recht in die Gesellschaft zu passen scheinen, packen sie das Leben mit beiden Händen, um der Welt ihren Stempel aufzudrücken.
Kleine Episoden und Details, die nach und nach die Außenseiterinnen aus ihren Schneckenhäusern locken zeichnen dieses Werk aus. Eine sehr poetische, französische Erzählung, über das Leben und das Schicksal, wie es ruft, wenn man es nur lässt. Französisch im Sinne der Fabelhaften Welt der Amelie und nicht vertrackter Dreiecksgeschichten voller Lug und Trug und Sex. Mir gefällt sehr gut, dass Harmonie ihren langjährigen Freund Freddy verlässt, obwohl sie sich noch lieben, nicht wegen eines anderen, sondern weil sie merkt, dass er ihr letztendlich nicht gut tut und sie als Versagerin zu sehen scheint, trotz all seiner Fürsorge und Liebe. Das ist eigentlich sehr unfranzösisch, aber sehr stark. In all den scheinbaren Benachteiligungen dieser kleinen Truppe erwacht eine Leichtigkeit und unbändige Lebensfreude, die schon beim Zuhören ansteckend ist. Mit wechselnden Blickwinkeln erzählen je Fleur und Harmonie von den prägendsten Momenten ihrer gemeinsamen Zeit. Gerade in den Überschneidungen ist es sehr witzig, da ihre Einstellung und ihr jeweiliger Blick auf die Welt kaum unterschiedlicher sein könnten. Es ist die Geschichte einer Befreiung, eine Ode an die Freude, das Leben und die Freundschaft – sich von den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, davon sich zu sorgen, was andere über einen denken mögen. Dabei verwendet Marie-Sabine Roger eine sehr poetisch bildliche Sprache, die auch z.T. über Sprache als solches sinniert, denn Fleur bereichert ihren Wortschatz mit Kreuzworträtseln und Harmonie wollte eigentlich Französischlehrerin werden... Claudia Kalscheuer hat bei der Übersetzung dieses Werkes viel Feingefühl bewiesen, auch wenn einige grammatikalische Phänomene im Französischen anders sind, als im Deutschen. Der Gedanke, den Fleur dazu hat, bleibt jedoch gültig. Absolut liebenswerte Heldinnen, die einem ans Herz wachsen, vielleicht nicht von der ersten Minute an, aber mit jeder Minute mehr. Marie-Sabine Roger sind absolut starke Missfits gelungen, bis in die Nebenrollen hinein.
Svenja Pages spricht mit viel Gefühl sowohl die junge Harmonie mit ihren unvermittelten Wortausbrüchen, als auch die 76-jährige Fleur mit ihrer Angst vor dem Leben absolut überzeugend. Nur durch die Variation ihrer Stimme macht sie deutlich, wessen Part sie gerade spricht, bevor es schon aus dem Text hervorgeht. Die 76 Jahre voller Einsamkeit und Selbstzweifel nimmt man ihr ebenso ab, wie ihre unerwarteten Verbalergüsse und die rasch wachsende Lebensfreude. Die Klangqualität und Balance der Aufnahme sind einwandfrei.
Ein poetisch, hoffnungsvoll-beschwingter Roman der in den unsicheren Corona-Zeiten wunderbar optimistisch stimmt!