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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.02.2022

Etwas weniger, wäre mehr gewesen

Das Nest
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Das Nest ist der vierte Teil der Kopenhagen-Krimiserie um Jeppe Kørner und Anette Werner. Der Fall beginnt mit einem verschwundenen Jungen, Oscar, besser gesagt einem 15-jährigen jungen Mann aus gutem ...

Das Nest ist der vierte Teil der Kopenhagen-Krimiserie um Jeppe Kørner und Anette Werner. Der Fall beginnt mit einem verschwundenen Jungen, Oscar, besser gesagt einem 15-jährigen jungen Mann aus gutem Hause. Sofort liegt Druck auf den Ermittlungen. Als nach ersten Befragungen auch noch ein junger Mann in der hiesigen Müllverbrennungsanlage gefunden wird, ist das undurchsichtige Gebilde perfekt.

Das Konstrukt aus Gewinnmaximierungsinteressen, dem Verhalten von Oscars Eltern und Umfeld sowie aus geheimnisvollen Inseln und ihren Wärtern fand ich dieses Mal nicht so perfekt gelungen, wie ich es von Katrine Engberg gewohnt bin. Die verwobenen Themen passten für mich nicht ganz so gut zusammen. Zudem dauert es ein Buchdrittel bis die „Bombe“ endlich platzt und man wirklich mitfiebern konnte. Vielleicht hätten es auch insgesamt weniger Themen sein können. Ich fand den Roman ganz schön überladen.

Vielleicht dadurch kommen auch meine Lieblinge, Esther und Gregers, ein wenig zu kurz. Von den beiden hätte ich mir mehr Wortmeldungen gewünscht. Anette zeigt für mich erstmals echte emotionale Schwächen. Das hat mir gut gefallen, weil es die toughe Ermittlerin menschlicher erscheinen lässt. Jeppe strauchelt wie so oft in seiner Beziehung, bleibt sich treu.

Insgesamt ist „Das Nest“ ein solider Krimi, der leider unter dem Niveau der Vorgänger bleibt. Wer Jeppe und Anette bereits kennt, wird diesen Krimi trotzdem gern lesen.

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Veröffentlicht am 24.11.2021

Nichts ist so, wie es scheint

Das Geschenk
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Klaus ist Witwer. In diesem Zustand haben ihn Kathrin und Peter lange nicht besucht. Die letzte Begegnung ist auf die Beerdigung seiner Frau zu datieren. Als Klaus die beiden nach Jahren plötzlich zu Weihnachten ...

Klaus ist Witwer. In diesem Zustand haben ihn Kathrin und Peter lange nicht besucht. Die letzte Begegnung ist auf die Beerdigung seiner Frau zu datieren. Als Klaus die beiden nach Jahren plötzlich zu Weihnachten in sein Wochenendhaus einlädt, sagt Kathrin aus Mitleid spontan zu. Peter ist das gar nicht recht, eine Notlüge wäre angebracht gewesen. Trotzdem machen sich die beiden auf und fahren ein paar verwirrenden Feiertagen entgegen.

Sharon, die sehr junge neue Freundin von Klaus, öffnet dem Paar bei ihrer Ankunft die Tür und bringt das Weltbild der Beiden mächtig ins Wanken. In den Jahren ohne Kontakt hat sich in den Köpfen ein Bild von Klaus manifestiert, dass mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. So ergeben sich während der Feiertage in der Enge des Wochenendhauses immer wieder skurrile Situationen, die Kathrin und Peter zweifeln lassen, an der eigenen Wahrnehmung und an sich selbst.

Die Paare müssen sich quasi ganz neu kennen lernen. Sie müssen einsehen, dass mehr frühere Ehrlichkeit manches Missverständnis hätte vereiteln können. Vielleicht hätte man auch den Kontakt aufrecht erhalten sollen.

Auch wenn Alina Bronsky nicht ganz so bissig wie in ihren letzten Romanen daherkommt, ist es amüsant, die Gedanken der Beteiligten zu verfolgen und ihr Verhalten zu beobachten. Alle sind in ihrer Erwartungshaltung gefangen, können die Wahrheit schwer aushalten. So porträtiert die Autorin typische Fehleinschätzungen unserer Gesellschaft und lässt diese durch das Setting zu Weihnachten mit viel gemeinsamer Zeit unter dem Brennglas wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Gute Beobachtung, sehr zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 22.11.2021

Einblick in eine fremde Welt

Die Enkelin
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Ich weiß gar nicht mehr so recht, was ich von diesem Roman erwartet hatte, aber das, was ich jetzt gelesen habe, bestimmt nicht. Die Auseinandersetzung mit der völkischen Gemeinschaft war intensiv, sehr ...

Ich weiß gar nicht mehr so recht, was ich von diesem Roman erwartet hatte, aber das, was ich jetzt gelesen habe, bestimmt nicht. Die Auseinandersetzung mit der völkischen Gemeinschaft war intensiv, sehr detailliert, differenziert und in seinen Auswirkungen auch ganz schön extrem. Ein paar Mal musste ich schlucken. Vermutlich war ich innerhalb dieses thematischen Rahmens recht naiv unterwegs.

Die Anlage der Figur der Sigrun hat mir gut gefallen. Ausgehend von ihrem Aufwachsen in der völkischen Gemeinschaft entwickelt Sigrun Werte, die ihr auch nach der Erweiterung ihrer Welt wichtig bleiben. Egal, welche Perspektiven und Sichtweisen ihr logisch hergeleitet werden, von einigen Ansichten kann sie sich nicht lösen. Bernhard Schlink beschreibt sehr deutlich, dass Zukunft eine Herkunft hat. Nicht jedem Menschen ist jede beliebig positive Entwicklung möglich. Manchmal sind durch Erziehung, Glaube oder auch besondere Ereignisse einige Wege bereits versperrt.

Mit Svenja tat ich mich da schon schwerer. Sie war mir einfach zu passiv. Ich verstehe, dass sie Björn dankbar ist für ihre Rettung aus dem dunkelsten Tal ihres Lebens. Dennoch hätte ich mir von einer in der DDR sozialisierten Frau weniger Hörigkeit gewünscht.

Am Ende ist „Die Enkelin“ für mich ein nachdenklicher Roman, über Verlust von geliebten Menschen, Verlust von Identität. Der Roman ruft auf, sich vor zu schnellem Urteilen zu hüten. Schön fand ich Kaspars Einsicht, Sigrun so lieben zu müssen wie sie ist, bedingungslos oder gar nicht. Echte Zuneigung kann nicht an die „richtigen“ politischen Ansichten geknüpft werden. Somit konnte ich letztlich auch die klischeebedienende Rollenverteilung verzeihen, die mir in der ersten Hälfte des Romans sauer aufgestoßen war.

Der gut lesbare Roman zog mich immer tiefer in seinen Bann. Ich war erschrocken, gleichzeitig fasziniert von einer mir bisher unbekannten Welt innerhalb unseres Landes. Für mich ist erstaunlich, wie bestimmte Gruppierungen die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen offensichtlich besser bedienen als unsere Gesellschaft an sich. Der Einblick, den uns der Autor gewährt, war interessant, hatte einen aufklärenden Touch. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

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Veröffentlicht am 15.11.2021

Schwere Kost als Augenöffner

Das Archiv der Träume
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Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich einen Roman lesen möchte, der die Misshandlung einer Frau zum Inhalt hat. Letztlich hat mich dann doch die Möglichkeit, toxische Szenarien in ...


Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich einen Roman lesen möchte, der die Misshandlung einer Frau zum Inhalt hat. Letztlich hat mich dann doch die Möglichkeit, toxische Szenarien in Zukunft besser zu erkennen, überzeugt. Darüber hinaus hat mich die Umsetzung interessiert. Schließlich war der Roman vielschichtig, genrewechselnd und in diesem stressigem Kontext mit witzigem Charme angekündigt. So wagte ich den Einstieg in Carmens gerade erst erwachendes Liebesleben.

Natürlich ist es keine leichte Kost. Anfangs betrachten wir Carmen in verschiedenen Liebschaften zu Männern, begleiten sie dann beim Comingout und lernen Carmen in ihrer queeren Beziehung richtig kennen. Langsam sehen wir die Beziehung ins Toxische abgleiten. Erste Anzeichen sind schnell vorhanden, aber genau wie Carmen möchte man diesen Fakt nicht richtig wahr haben. Vielmehr fühlte ich mit Carmen und ging den eingeschlagenen Weg mit. Zwei Schlüsselmomente haben mich dann allerdings innerlich mit der toxischen Frau Schluss machen lassen. Es waren zutiefst verletzende, gleichzeitig schockierende Situationen, die mich wachgerüttelt haben. Carmen hatte dieses Loslösen für sich nicht umsetzen können, wodurch sich letztlich ihr Martyrium manifestiert hat.

Carmen Maria Machado wählt kurze Kapitel mit immer gleich startenden Titeln, wodurch sich ein Kaskadeneffekt generiert. Über weite Strecken liest sich der Roman fast wie ein Thriller. Es ist gefährlich, die Spannung ist ansteigend. In sachbuchähnlichen Kapiteln werden verschiedenste Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Carmen Maria Machado für ihre Geschichte als Einflussfaktionen wahrnimmt, erklärt. Sie bemüht unzählige Gleichnisse aus der Popkultur, um uns Leser:innen ihre emotionale Lage transparent zu machen. Diese eher sachlich orientierten Kapitel ließen mich innehalten, ermöglichten mir ein Verdauen der psychischen Schreckensmomente.

Die meiste Zeit konnte mich die Autorin in dieser Weise erfolgreich mitnehmen. Nur zum Ende hin habe ich ihren Stil mit Langatmigkeit verbunden. Hier wäre mir weniger Erklärung lieber gewesen. Dafür hätte ich mir einen gefühlsmäßig nachvollziehbar positiven Fokus auf ihr Leben nach der toxischen Beziehung gewünscht. Es war ein bisschen schade, dass darauf nicht intensiver eingegangen wurden. Dadurch behält der Roman seinen eher hoffnungslosen Touch. Insgesamt hat mir die Auseinandersetzung dennoch gefallen. Ich habe jetzt eine andere Sichtweise auf ein Tabuthema unserer Zeit.

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Veröffentlicht am 10.11.2021

Kritische Betrachtung einer Gesellschaft im Wandel

Phon
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Phon ist eine nicht einfach zu lesende Geschichte über ein ins Alter gekommenen Zoologenpärchen, aber nicht nur das, sondern auch ein Bericht über eine Gesellschaft im Wandel, über Einsamkeit und Abgehängt-Sein. ...

Phon ist eine nicht einfach zu lesende Geschichte über ein ins Alter gekommenen Zoologenpärchen, aber nicht nur das, sondern auch ein Bericht über eine Gesellschaft im Wandel, über Einsamkeit und Abgehängt-Sein. Nadja und Lew lernten sich zu Zeiten der noch bestehenden Sowjetunion als Dozent und Studentin kennen. Nadja wird ein bisschen zu schnell schwanger, die beiden heiraten und beziehen ein kleines Häuschen fernab vom Trubel der Großstadt. Lew führt sein Forscherleben im Prinzip weiter. Nadja bleibt in ihrer beruflichen Entwicklung stecken. Nachdem Zusammenbruch der UdSSR schließt die naheliegende Fabrik, der Lebensunterhalt in dieser abgeschiedenen Gegend ist nur sehr schwer zu verdienen. Junge Dorfbewohner ziehen weg, es bleiben die Alten, die nach dem natürlichen Lauf der Dinge auch immer weniger werden. Die Geschichte startet als Nadja und Lew fast allein zurückgeblieben sind und wird von Nadjas Erinnerungen getragen.
 
Das Leben in abgelegenen Dörfern Russlands wird zunehmend beschwerlich. Der nächste Supermarkt ist soweit weg, dass man sich mit Gemüse-Anbau im Garten und der Haltung von ein paar Tieren selbst über Wasser halten muss. Kaum jemand kommt noch vorbei, einzige Abwechslung ist ein Zug, der jede Nacht am Dorf vorbeirauscht. Halt macht auch er nicht. Dabei war nach dem Zusammenbruch doch so ein Aufbruch zu spüren. Sensationsgetriebener Tourismus trieb viele Westeuropäer in die russischen Wälder. Doch die Wildnis und die Ursprünglichkeit ist nicht ungefährlich. So tragen Nadja und Lew win schweres Paket.
 
Es sind stille Töne, mit denen die Autorin die schmerzvollen Umwälzungen thematisiert. Manchmal hat das Geschehen einen langatmigen Touch. Wenn man sich aber bewusst macht, wer hier in welcher Situation erzählt, steigert die ausgebremste Erzählgeschwindigkeit die Glaubwürdigkeit. Eingestreut werden philosophische Passagen, die mich emotional tief berührt haben. „Ohne sich von der Stelle zu rühren, wurde meine Generation von einem Land ins andere verfrachtet, von einer Geschichte in die andere, von einer Lüge in die andere. Wir wurden um dreihundertsechzig Grad gedreht, zusammengedrückt, wieder auseinandergezogen und erneut zusammengedrückt, und hielten stand, schließlich waren wir ein Volk von Kosmonauten.“, sei beispielhaft genannt (S. 254). Ich spürte regelrecht den verlorenen Stolz und den mitschwingenden Identitätsraub.

Ich mochte sehr, mit welchem Gespür die niederländische Autorin die sogenannte russische Seele auf den Punkt bringt. Ihre Jahre in St. Petersburg haben offensichtlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen, so dass Marente de Moor ihre Wahrnehmung unbedingt mit uns teilen wollte. Ich habe das genossen. Gern empfehle ich diesen leisen ausdrucksstarken Roman.

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