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Veröffentlicht am 24.04.2023

Lektüre, die erdet und entschleunigt

Das Café ohne Namen
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Der Roman beginnt 1966 als sich Wien langsam von den Kriegsschrecken erholt, die Verhältnisse trotzdem noch ärmlich sind. In dieser Zeit schlägt sich Robert Simon als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener ...

Der Roman beginnt 1966 als sich Wien langsam von den Kriegsschrecken erholt, die Verhältnisse trotzdem noch ärmlich sind. In dieser Zeit schlägt sich Robert Simon als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener Karmelitermarkt durch und bewohnt ein Zimmer bei einer Kriegerwitwe. Doch bald schon beschließt er ein leerstehendes Café vor weiterem Verfall zu retten und neu zu eröffnen. Sein Angebot ist klein, besteht lediglich aus Schmalzstullen, Salzgurken und diversen Getränken. Eigentlich würde die Bezeichnung Schankwirtschaft viel besser passen.

Doch entscheidender ist, wer das Café besucht, mit welchen Herausforderungen die Gäste zu kämpfen haben und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickeln. Robert Seethaler widmet seine Geschichte den einfachen Menschen. Er schenkt ihnen ein Bier ein und hört ihren alltäglichen Geschichten zu. Dadurch entsteht eine einfühlsame leidvolle Atmosphäre, die der Erzählweise meiner Großeltern und ihren Besuchern entspricht. Stundenlang saßen sie in meiner Kindheit auf der Gartenbank und haben sich was erzählt. Daran musste ich beim Lesen ganz oft zurück denken.

Bei Seethaler bekommen Menschen eine Stimme, für die sich normalerweise niemand interessiert, der Fleischermeister mit seinen Kindersorgen aus dem Laden gegenüber, der Hauseigentümer Vavrovsky, die arbeitslos gewordene Näherin Mia, der Preisboxer, der Mann mit Glasauge und einige andere mehr. Es ist schön, die einzelnen Paarungen an den Tischen aus einer Ecke des Cafés heraus zu beobachten, ihren Gesprächen und Gedanken beizuwohnen. Dieses Jahre überdauernde Stimmengewirr ergibt eine leises, sehr authentisches Spiegelbild der bescheidenen Leute seinerzeit. Eine spannende Handlung war hier nicht notwendig, um mir zu gefallen. Das Auf und Ab des Cafés und seiner Gäste waren in meiner Wahrnehmung Handlung genug. Nur so kam die Stimmung des wiedererwachenden Wiens unverfälscht bei mir an.

Es mag sein, dass der ein oder andere diese Auseinandersetzung vielleicht langatmig findet. Mich hat Robert Seethaler mit seinem Café ohne Namen tief berührt. Ein schöner Ausgleich zu unserer schnellen, undankbaren Wegwerf-Lebenswirklichkeit von heute. Ich kann diese Erdung und Entschleunigung nur empfehlen.

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Veröffentlicht am 22.04.2023

Ultimative Überwachung

Going Zero
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Kaitlyn Day ist eine scheinbar naive Bibliothekarin, die als Durchschnittsbürgerin für eine Challenge ausgewählt wurde, bei der es ums digitale Verschwinden geht. Wer es von den zehn Kandidat:innen schafft ...

Kaitlyn Day ist eine scheinbar naive Bibliothekarin, die als Durchschnittsbürgerin für eine Challenge ausgewählt wurde, bei der es ums digitale Verschwinden geht. Wer es von den zehn Kandidat:innen schafft im Rahmen des Betatests eines neuen Überwachungsapparates aus CIA und modernsten Silicon-Valley-Algorithmen, dreißig Tage verborgen zu bleiben, gewinnt drei Millionen Dollar.

Alle glauben, dass Kaitlyn eine der ersten sein wird, die den Überwachern in die Fänge gerät. Doch sie schlägt sich tapfer, obwohl sie sich mancher brenzliger Situation stellen muss. Parallel dazu erleben wir, mit welchen Methoden der Überwachungsapparat arbeitet und durch welche Spuren andere Kandidaten entdeckt werden. Unsere Spurendichte, wenn wir einfach nur ein normales Leben führen, ist schon enorm. Die Vorstellung, dass diese Überwachungsmöglichkeiten eigentlich schon fast real sind, ist beängstigend. Diese Technologie in den falschen Händen wird extreme Auswirkungen haben.

Im zweiten Teil des Romans erfahren wir in Ansätzen, wie negativ die Macht aus dieser Überwachungsdimension wirken kann. Lockere dynamische Typen werden zu verbissenen Hass erfüllten Menschen mit entsprechenden Fantasien. Der Schritt zur Gefährdung Dritter ist dann nicht mehr weit, wie der Roman temporeich vermittelt.

Von den Charakteren her fühlte ich mich niemandem besonders nah. Die ausgeschiedenen Kandidaten hatten zwar Namen, blieben allerdings dermaßen blaß, dass sie für mich eher Nummern waren. Selbst bei der Hauptfigur Kaitlyn war es eher ein Mitfiebern aus dem Wettbewerb heraus als echte emotionale Zuneigung. Ablehnung empfand ich im Verlauf gegenüber dem Silicon-Valley-Wunderkind Cy Baxter, obwohl Nerds es eigentlich immer leicht mit mir haben.

Trotzdem hat mir der Roman gefallen. Die inhaltliche Idee ist zwar nicht ganz neu, aber es lohnt sich, immer mal wieder die Facetten der totalen Überwachung zu betrachten. Zudem war er spannend geschrieben und ließ sich ein bisschen wie im Rausch lesen. Ich liebe kurze Kapitel und Szenenwechsel, die den ein oder anderen Cliffhanger ergeben.

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Veröffentlicht am 11.04.2023

Überbordende Zukunftsperspektiven

°C – Celsius
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Schwarze Flugobjekte sind im chinesischen Luftraum Richtung Taiwan unterwegs und alle Welt erwartet den nächsten Krieg. Doch anders als erwartet will China nicht über Taiwan, sondern über das Weltklima ...

Schwarze Flugobjekte sind im chinesischen Luftraum Richtung Taiwan unterwegs und alle Welt erwartet den nächsten Krieg. Doch anders als erwartet will China nicht über Taiwan, sondern über das Weltklima richten. Das erkennt zunächst nur Fayola Oyetunde-Rabelt, eine Klimawissenschaftlerin bei der UNO. Ihre Erläuterungen verhindern einen spontanen Gegenschlag der westlichen Mächte. Trotzdem kommt es zu einer überbordenden Ereigniskette, die teilweise irritiert, unerwartete Kunstgriffe beinhaltet und die Leserschaft herausfordert. Wie bei Elsberg üblich, sind wieder unglaublich viele Charaktere beteiligt.

Ich habe lange überlegt, was mir der Autor mit diesem Thriller sagen möchte, denn über weite Strecken habe ich das Gelesene nicht als Thriller, sondern eher als anspruchsvollen Roman empfunden. Neben dem Hauptthema Klimabeeinflussung geht es meinem Empfinden nach vor allem darum, uns den Spiegel vorzuhalten, in jedem von uns ein Bewusstsein zu schaffen, zu dem, was wir gerade tun, was es für andere bedeutet und was dadurch gegebenenfalls an unerwünschten Nebeneffekten entsteht. Es geht um unser Verhalten, Flüchtlingen gegenüber, um unsere Arroganz gegenüber China und den Schwellenländern. Der Westen glaubt immer noch Inhaber der Wahrheit zu sein, über andere hinweg diktieren zu können, wie es weitergeht. Dieser Glaube wird im Roman mehrfach erschüttert und das manövriert auch die Leserschaft ganz schön aus der Komfortzone. Ein weiteres wichtiges Thema ist Meinungsbildung und-beeinflussung sowie die Macht, die darin steckt. Im Verlauf fragt man sich, wer denn nun wirklich die Welt regiert? Spannend, welche Machenschaften im Hintergrund laufen, damit es zu bestimmten Handlungen kommt oder eben auch nicht.

Wenn ich mein Leseerlebnis rückblickend betrachte, fühlte es sich an wie die nächste Krise. Es begann mit Überforderung, ging über in eine Phase der Gewohnheit und endete ein Stück weit in Abstumpfung. Alles wurde begleitet von Unsicherheit. Meint Marc Elsberg das wirklich ernst? Habe ich das richtig erfasst und auch nichts übersehen? Im weiteren Verlauf kam noch Empfindlichkeit dazu. Mich störten plötzlich Dinge, die eigentlich nicht der Rede wert sind, wie ein bisschen aus Star Wars kopierte Technik. Es war Krise in Reinform. Ich hatte Mühe, den Überblick über die Haupthandlung zu behalten und die verschieden Nebenhandlungsstränge voneinander abzugrenzen. Das hat meinen Lesefluss immer wieder ausgebremst, was ich bei Thrillern nicht wirklich mag.

Thematisch fand ich Celsius trotzdem gut, einige Passagen habe ich auch wirklich gern gelesen. Ingesamt erschien mir der Roman allerdings zu zerstückelt, zu komplex, einfach schwer zu begreifen. Über weite Strecken hätte ich mir mehr Orientierung gewünscht. Dann hätte ich für das reine Textverständnis nicht so oft doppelt lesen und zurückblättern müssen. Wenn Marc Elsberg bewusst irritieren und seine Leserschaft auf die Probe stellen wollte, dann ist ihm das sehr gut gelungen. Wenn nicht, ist Celsius nicht sein bester Thriller.

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Veröffentlicht am 03.04.2023

Sprachlich ansprechender historischer Einblick

Morgen und für immer
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Ermal Meta erzählt uns das Leben von Kajan, der zu Kriegszeiten bei seinem Großvater am Rande eines albanischen Dorfes aufwächst, von einem deutschen Soldaten Klavierunterricht bekommt, so dass er nach ...

Ermal Meta erzählt uns das Leben von Kajan, der zu Kriegszeiten bei seinem Großvater am Rande eines albanischen Dorfes aufwächst, von einem deutschen Soldaten Klavierunterricht bekommt, so dass er nach dem Krieg zum berühmten Pianisten avanciert. Trotzdem ist sein Leben leer, denn seine Liebe zu Elizabeta bleibt durch die Machenschaften seiner Mutter unerfüllt. Die linientreue Kommunistin kann und darf die Tochter eines Regimekritikers nicht in der eigenen Familie dulden. Als Kajan sein Talent in der DDR bei einem Musikwettbewerb unter Beweis stellen soll, bietet sich die Möglichkeit zur Flucht.

Die Geschichte des kindlichen und des erstmals verliebten Kajan mochte ich sehr. Sie spiegelt in einem ausgewogenen Verhältnis die Ängste während des Krieges wie auch die glücklichen Momente zu dieser Zeit wider. Dieses Gleichgewicht habe ich auch in der Phase des Verliebtseins empfunden, als sich Elizabeta und Kajan heimlich getroffen haben. Im weiteren Verlauf wird die Geschichte zunehmend politischer. Bespitzelung, Verfolgung, Verhaftung und Vernichtung oppositioneller Kräfte in den Ostblockstaaten rücken immer weiter in der Vordergrund.

Gerät man wie Kajan unglücklich in die Mühlen des Systems ist das gezeichnete Schreckensszenario zutreffend und viel zu viele unschuldige Menschen waren davon betroffen. Da es hier keine Nebengeschichten gibt, entsteht der Eindruck, dass alle Menschen im Ostblock derartigen Quälereien ausgesetzt waren. Eine Abgrenzung zwischen den Regimen hinsichtlich des Unrechts-Ausmaßes habe ich ebenfalls vermisst, auch wenn jedes Unrecht letztlich bleibt, was es ist. So werden nach meinem Empfinden alle Verbrechen auf das Level von Goli Otok gehoben, was auch nicht richtig ist.

Ist man sich dessen bewusst, kann Kajans Lebensgeschichte sehr bereichernd im Verständnis der Historischen Gegebenheiten sein und wie diese vielleicht mit ihren Auswirkungen bis ins Heute weiter strahlen. Dabei hat für mich die Erkenntnis, dass der Krieg für Viele 1945 längst noch nicht zu Ende war, den größten Mehrwert.

Einige Schilderungen im Roman waren schwer zu ertragen, an anderer Stelle hat mich der Autor im positiven Sinn emotional tief berührt. Ermal Meta beherrscht das Wechselbad der Gefühle, ohne dabei kitschig zu werden. Er verwendet eine Sprache, die das beschriebene Szenario in ein realistisches Licht taucht, auch wenn ich die Ansammlung an Katastrophen in Kajans Leben etwas überbordend finde. Insgesamt ein interessanter, mitreißender Roman über einen Charakter, mit dem man extrem leidet und stets auf einen guten Ausgang hofft.

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Veröffentlicht am 25.03.2023

Nichts bleibt - außer Kugeln und Asche

Kremulator
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Pjotr Nesterenko ist Direktor des Moskauer Krematoriums. Tagsüber äschert er die regulär verstorbenen ein, nachts die anderen Toten. Es ist ein seltsamer Beruf, am Ofen zu stehen und quasi im Akkord Leichen ...


Pjotr Nesterenko ist Direktor des Moskauer Krematoriums. Tagsüber äschert er die regulär verstorbenen ein, nachts die anderen Toten. Es ist ein seltsamer Beruf, am Ofen zu stehen und quasi im Akkord Leichen dem Feuer zuzuführen, ein kaum zu ertragendes Geschäft. Gleichzeitig ist man Herr über die Moskauer Friedhöfe, entscheidet über die Vergabe der besten Liegeplätze, genießt ein gewisses Ansehen. Ein Beruf, den ich niemals ertragen könnte, den Pjotr Nesterenko mangels Alternativen in konzentriertem Gleichmut tagtäglich bis zu seiner Verhaftung ausübt.

Als Offizier der Weißen Armee und ehemaliger Flüchtling durch halb Europa weiß Nesterenko sofort, was ihm blüht. Es beginnt eine Zeit der Verhöre, die in Nesterenkos unausweichlichen Schicksal mündet. Sasha Filipenko kreiert ein Zwei-Personen-Stück mit Pjotr Nesterenko als Angeklagtem und dem jungen Leutnant der Staatssicherheit Perepeliza als Ermittler. Beide umschleichen sich gegenseitig wie Katz und Maus, um im richtigen Moment entweder zuzuschlagen oder zu entkommen. Dabei verbleibt Nesterenko in seiner unerschütterlichen Ruhe, gönnt sich die ein oder andere Provokation seines Gegenübers.

Das gesamte Szenario ist geprägt von einer kalten Atmosphäre des Misstrauens. Daran ändern auch manch bittersüße Gedanken Nesterenkos an seine erste und einzige Liebe Vera nichts. Obwohl die Handlung im Kontext der stalinistischen Säuberungen erzählt wird, hatte ich überwiegend das Gefühl im Heute unterwegs zu sein. Im Ergebnis drängt sich mir die gruselige Erkenntnis, dass Rehabilitation nach einer einzelnen politischen Fehlentscheidung nicht möglich ist, auf. Es bleibt ein Gefühl von Angst, Terror und Unterdrückung zurück.

Umso mehr Respekt hege ich dem Autor gegenüber für diesen Text. Da mich der Inhalt kalt erwischt und maximal schockiert, kann ich den Roman nicht unbedingt als mein Lieblingsbuch von Sasha Filipenko bezeichnen. Nichtsdestotrotz nehme ich eine literarische Steigerung im Vergleich zu seinen letzten beiden Romanen wahr. Allein schon das Wortspiel des Titels begeistert mich. Den Mut dahinter muss ich einfach anerkennen.

Ich bin ein stückweit atemlos aus dem Roman entkommen. Die gewonnenen Eindrücke sind eindringlich und sehr glaubwürdig. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

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