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Veröffentlicht am 22.09.2022

Beschwerliches Leseerlebnis

Auf See
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Der neue Roman von Theresia Enzensberger beschäftigt sich mit zwei Frauen, Yada und Helena. Yada wohnt auf einer künstlichen Insel auf See. Diese sogenannte Seestatt wurde einst von ihrem Vater als Abgrenzung ...

Der neue Roman von Theresia Enzensberger beschäftigt sich mit zwei Frauen, Yada und Helena. Yada wohnt auf einer künstlichen Insel auf See. Diese sogenannte Seestatt wurde einst von ihrem Vater als Abgrenzung zur Welt im Chaos gegründet, die anfängliche Euphorie dafür ist längst verflogen. Die vollständige Selbstversorgung funktioniert nicht, einseitiges Essen ist die Folge. Als Gründertochter mit Zugang zu optimaler Ausbildung wird Yada kritisch beäugt.

Helena hat einst als Experiment versucht, eine Sekte zu gründen, was ihr durch zutreffende Vorhersagen überraschend gut gelungen ist. Das Interesse an ihr ist groß, finanzielle Probleme scheinen ihr fremd zu sein. Trotzdem wirkt sie gelangweilt und irgendwie abgestumpft. In diesem Kontext schlingert die Geschichte zwischen den beiden Hauptcharakteren hin und her. Hin und wieder ist ein Archiv-Kapitel eingefügt, das zu den Geschehnissen einigermaßen passend Wiki-mäßige Abhandlungen zur tiefergehenden Auseinandersetzung beinhaltet.

Diese mäandernde Herangehensweise hat mir das Lesen erschwert. Ich habe überdurchschnittlich lange gebraucht, um diesen Roman eher übersichtlichen Umfangs zu Ende zu lesen. Der stetige Wechsel hat meinen Lesefluss gestört. Die beiden Charaktere waren mir auch nicht wirklich sympathisch, so dass in dieser Hinsicht kein Ausgleich erfolgen konnte. Zudem habe ich nicht verstanden, was die Autorin uns tatsächlich sagen will. Natürlich habe ich wahrgenommen, dass, wenn man es geschickt anstellt, Menschen leicht beeinflussbar sind und einem ggf. überall hin folgen. Darüberhinaus wird auch in diesem Roman die zwangsläufige Erhebung von Eliten über den Rest der eigenen Welt in allen Gesellschaftsformen deutlich. Die gesetzten Regeln und Vorgaben gelten für sie nicht oder nur eingeschränkt. Grundsätzlich hätte ich mir zur Botschaft der Autorin mehr Leserführung gewünscht.

Im Übrigen wird im Roman zeitweise gegendert und obwohl ich mich diesbezüglich anders eingeschätzt hatte, hat es mich gar nicht gestört. Kommt also immer mal wieder auf einen Versuch an.

In Summe konnte ich leider kein richtiges Lesevergnügen empfinden. Die Lektüre war mir einfach zu anstrengend und auch ein stückweit langatmig.

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Veröffentlicht am 13.09.2022

Interessanter Blickwinkel, Potenzial nicht ganz ausgeschöpft

Isidor
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Isidor ist ein jüdischer Lebemann im Wien der 1930er Jahre, der es, aus ärmsten Verhältnissen stammend, geschafft hat, mit Hilfe von Bildung und Zielstrebigkeit zu Reichtum und einem guten Leben zu kommen. ...

Isidor ist ein jüdischer Lebemann im Wien der 1930er Jahre, der es, aus ärmsten Verhältnissen stammend, geschafft hat, mit Hilfe von Bildung und Zielstrebigkeit zu Reichtum und einem guten Leben zu kommen. Dafür war er schon in jungen Jahren bereit, einen Teil seiner Identität zu verschleiern beziehungsweise zu verbergen. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten beginnt die grauenhafte Ära, die den schon viele Jahre vorhandenen Antisemitismus auslebt, die Neid und Missgunst eskalieren lässt.

In diesem Setting erzählt Shelly Kupferberg von ihrem Urgroßonkel Dr. Isidor Geller.
Sie beschreibt seinen Aufstieg, das Verlassen der Heimat. Die Autorin begründet sehr anschaulich die Notwendigkeit, den ursprünglichen Vornamen Israel einzudeutschen und daraus Variationen wie Innozenz, Ignaz oder eben Isidor abzuleiten. Gleichzeitig schildert sie die widersprüchliche Einstellung der hohen jüdischen Gemeinschaft, die vulgären Nationalsozialisten könnten ihnen nichts anhaben. Diesen Glauben an die eigene Überlegenheit finde ich sehr interessant und spannend, weil sie sich sehr gut auf unsere westliche Denke China und Russland gegenüber übertragen lässt.

Den Aufstieg Isidors hätte ich mir etwas liebevoller vom Schreibstil her gewünscht. Ich konnte keine Nähe zu Isidor entwickeln, alles erschien kühl dokumentarisch, irgendwie sachlich. Der Abstand zur Hauptfigur hat mir nicht so gut gefallen. Berührt wurde ich erst, als der Schrecken über Isidor, seine Familie und Freunde hereinbrach. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehr Mitgefühl für alle anderen als für Isidor. Das stimmt mich nachdenklich, weil es diesen Unterschied nicht geben sollte. Schließlich ist allen gleichermaßen immenses Unrecht widerfahren.

Als Highlight habe ich die Verbindung der Geschichte zu dem extravaganten Cover empfunden. Das Reh im Salon war der Grund, warum ich den Roman lesen wollte. Ebendiesem Reh wieder zu begegnen war sehr schön, ein Lichtblick innerhalb des Grauens.

Insgesamt ist der Roman thematisch keine leichte Kost. Ich spreche gern eine Leseempfehlung an alle historisch Interessierten aus, liefert er doch einen interessanten Blickwinkel auf das Geschehen.

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Veröffentlicht am 30.08.2022

Mein Lesehighlight 2022

Das Leben vor uns
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Anja Ranewa und Milka Putowa sind schon von klein auf beste Freundinnen. Sie besuchen die gleiche Schule, verbringen fast jeden Nachmittag miteinander, fahren sogar gemeinsam in die Ferien. Anja wohnt ...

Anja Ranewa und Milka Putowa sind schon von klein auf beste Freundinnen. Sie besuchen die gleiche Schule, verbringen fast jeden Nachmittag miteinander, fahren sogar gemeinsam in die Ferien. Anja wohnt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter in einer kleinen Wohnung, Milka ebenfalls beengt mit Mutter und Stiefvater, beide am Stadtrand von Moskau.

Beim Einstieg in den Roman sind die Freundinnen 14 Jahre alt, es ist 1982. Kristina Gorcheva-Newberry erzählt mit ganz viel Gefühl und Detailreichtum vom Aufwachsen in Moskau sowie von den Aufenthalten in der Datscha, wo der angenehme Teil des Lebens stattfindet. Man bewirtschaftet den Boden, kümmert sich um die wunderbaren Apfelbäume, die dem harten Winter trotzen und himmlisches Mus ergeben. Die Autorin bringt die Leser:innen ganz nah an ihre Protagonisten heran, so dass ich mich schon fast wie ein Familienmitglied fühlte.

In der gesamten Geschichte, die zunächst nur vom Erwachsenwerden und von erwachender Sexualität zu berichten scheint, schwingt sowohl inhaltlich als auch sprachlich die Liebe zur Literatur mit. Es wird eine herrliche Parallele zwischen der Datscha und Tschechows Theaterstück "Der Kirschgarten" gezeichnet. Darüberhinaus werden ganz nebenbei die Herausforderungen des Lebens in der Sowjetunion skizziert. Dabei werden die politischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Menschen genauso thematisiert wie die Probleme während des Zerfalls und des aufkommenden Kapitalismus. Dieser gesellschaftskritische Blick auf das Vorher wie auch auf das Neue bis ins Heute hinein erschien mir sehr ausgewogen.

Der Roman brachte allerdings auch ein paar Schreckensmomente mit sich, die mir stark ans Herz gegangen sind, die für mich kaum auszuhalten waren. Ich las unter Tränen weiter und wurde mit meinem Lesehighlight 2022 belohnt. Die Autorin formuliert unzählige wunderbare Sätze, wie diesen hier: „Seit meiner Kindheit liebte ich die frühen Morgenstunden, wenn der Tag neu war und hunderte kleiner, zusammengefalteter Träume enthielt, wie Blütenblätter in einer Blume.“. Sie hat mich insgesamt tief berührt. Ihren Schilderungen zum verlorenen „Heimatland“ kann ich ausnahmslos folgen. Alles ist geprägt von einer hohen Authentizität und Glaubwürdigkeit.

„Das Leben vor uns“ hat mich begeistert, ich kann diesen Roman nur empfehlen.

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Der beste, gleichzeitig furchtbarste Filipenko bisher

Die Jagd
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„Rote Kreuze“ hat mich begeistert, „Der ehemalige Sohn“ hat mir gut gefallen. So war für mich klar, dass ich auch den nächsten Roman von Sascha Filipenko lesen werde.

„Die Jagd“ war undurchsichtig wie ...

„Rote Kreuze“ hat mich begeistert, „Der ehemalige Sohn“ hat mir gut gefallen. So war für mich klar, dass ich auch den nächsten Roman von Sascha Filipenko lesen werde.

„Die Jagd“ war undurchsichtig wie das russische Regime, sie war maximal gefährlich, eine echte Herausforderung. Insgesamt war das Gelesene einfach nur grauenvoll und hat mich entsetzt zurückgelassen. Mein Glaube an das Gute im Menschen wurde massiv erschüttert. Der kaum zu ertragende Inhalt wird dermaßen dicht an Opfern und Tätern erzählt, dass es mir vorkam, als wäre ich live als Zuschauer dabei. Diese Tatsache lässt mich diesen neuen Roman noch ein Tucken besser finden als „Rote Kreuze“. Vielleicht ist es auch der aktuelle Kontext, der mich so stark berührt.

Anton Quint ist Journalist. Er berichtet kritisch über das Regime sowie über die Reichen und Schönen. Anton führt ein normales, recht unaufgeregtes Familienleben bis er eines Tages aus Sicht des Oligarchen Slawin den Bogen überspannt. Die Jagd beginnt. Dabei geht es nicht darum, Anton zu erwischen und ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, sondern eher um perfide Tierquälerei. Erschreckend dabei ist die Geschwindigkeit, in der das Grauen voranschreitet, und die Leichtigkeit mit der es konstruiert werden kann.

Zu Beginn des Romans war ich unsicher hinsichtlich der Charaktere, wer gehört zu wem, wer sind hier die Guten. So stelle ich mir auch das Leben in Russland vor, unsicher. Man muss stets auf der Hut sein, mit wem man offen reden kann und mit wem nicht. Fragwürdig ist darüberhinaus, ob die Vertrauten von heute auch in Zukunft noch zuverlässig sind. Interessant war dann die Entwicklung der beiden Brüderfiguren, die sich jeder auf seine Weise hochgearbeitet haben im Leben. Wirklich gemocht habe ich übrigens keine Figur im Roman, es gibt allerdings verschiedene Grade der Abneigung, die ich empfinde. Mit Anton Quint habe ich so meine Probleme, weil er nicht nur sich selbst in Gefahr bringt mit seiner Berichterstattung. Vielleicht spüre ich auch den Wunsch nach dem ganz großen Coup bei ihm. Die meiste Abscheu empfinde ich gegenüber dem Oligarchen und seinem Sohn.

Das Besondere an der Jagd ist Sascha Filipenko’s Fähigkeit, uns in die Stimmung, in die Gefühlswelt seiner Charaktere eintauchen zu lassen. Da ist das Versnobte und die Langeweile der reichen Oligarchen-Kids sowie die überbordende Aufgeregtheit der Jagenden, die im gegenseitigen Wettbewerb immer noch einen draufsetzen wollen. Sie wirken wie Suchtkranke auf der Suche nach dem nächsten Kick. Sie wissen genau was sie tun, bedienen sich allerdings einer verharmlosenden Sprache, ziehen ihr Tun ins Lächerliche als wäre alles nur ein großer Witz. Auch die Darstellung Anton Quints ist gelungen. Der Journalist verliert, getrieben durch den Wunsch das Richtige zu tun, die Wahrnehmung, wann er genug für seine Ideale gekämpft hatte.

Für mich ist es eine Sache, eine Ahnung im Sinne einer Vorstellung von einem autoritären Regime mit seinen Eliten zu haben, es eine zweite Sache hier in so deutlicher Prosa davon zu lesen und sein eigenes Bild weit ins Negative zu korrigieren. Was ganz anderes aber dürfte es sein, in so einem Regime leben zu müssen. Ganz ehrlich: Ich kann gut nachvollziehen, warum Massen von Menschen ein angepasstes Leben führen und eben nicht gegen ihre Eliten rebellieren. Bevor man ebendiese Massen leichtfertig als Mitläufer bezeichnet, sollte man unbedingt diesen Filipenko lesen.

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Veröffentlicht am 23.07.2022

Schleichender Verlust eines selbst bestimmten Lebens

Die karierten Mädchen
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Klara ist eine neunzigjährige, bereits erblindete Frau, die ihre Lebenserinnerungen festhält, indem sie unzählige Kassetten bespricht. Das ist eine ganz wunderbare Idee, lässt man die Familie nochmal die ...

Klara ist eine neunzigjährige, bereits erblindete Frau, die ihre Lebenserinnerungen festhält, indem sie unzählige Kassetten bespricht. Das ist eine ganz wunderbare Idee, lässt man die Familie nochmal die eigene Stimme hören und schenkt ihr die Lebensgeschichte, gibt vielleicht das ein oder andere Geheimnis preis. So kann möglicherweise manche Reaktion postum besser nachvollzogen werden.

Wir Leser:innen tauchen ab in Klaras Dasein als junge Frau zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 und begleiten sie bis in die späten 1930er Jahre. Zunächst erleben wir eine glückliche Frau, die unverheiratet und unabhängig ihr Leben gestaltet. Als Lehrerin ist es ihr sogar möglich, ihre Familie, deren Pension schwächelt, zu unterstützen. Bald übernimmt sie sogar für ein Findelkind, Tolla, die Verantwortung. Doch wenig später bekommt das Kindererholungsheim, indem Klara tätig ist, finanzielle Probleme. Eine Lösung könnte staatliche Unterstützung sein. Dazu müssen sich Klara und ihre Kolleginnen allerdings auf die Nationalsozialisten einlassen.

So entwickelt Alexa Hennig von Lange mit ihren „karierten Mädchen“ eine kluge und aus meiner Sicht faire Auseinandersetzung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Sie beschönigt nichts, macht aber auch die Nöte der einfachen Leute zur Weltwirtschaftskrise sichtbar. Sie transportiert sehr gut Klaras innere Ablehnung des Systems, das sie braucht, um weiterhin kranke Kinder pflegen und Haushaltungsschülerinnen ausbilden zu können. Die Autorin richtet gleichzeitig ihren Blick auf hundertprozentige Befürworter, Extremisten und die von ihnen verübten Gräueltaten.

Ich muss zugeben, ich mag Klara. Eine aus heutiger Sicht bessere Entscheidung ihrerseits hätte für alle Bewohner des Erholungsheimes ein schlechteres Leben bedeutet. Ihr Findelkind hätte sie ebenfalls nicht aufziehen können. Sympathie empfinde ich darüber hinaus, weil sie jede Lücke des Systems nutzt, um ihren Schützlingen ein Stück Selbstbestimmtheit zu vermitteln, auch wenn die Möglichkeiten dafür immer weniger werden.

Sprachlich sind „Die karierten Mädchen“ sehr eingängig. Der Roman liest sich flott, aufgrund der aufgebauten Spannung habe ich gern immer weiter und weiter gelesen. Zudem schwingen durchgehend die Gefühle der Protagonisten mit, so dass ich auch persönlich von Klara‘s Schicksal berührt wurde. Ich fragte mich direkt und nicht ohne Gewissensbisse, wie ich wohl entschieden hätte. Ein persönliches Highlight stellt das anhaltiner Setting, meine Heimat, dar.

Ich kann Euch diesen Roman nur ans Herz legen. Ich selbst fiebere jetzt der Fortsetzung entgegen, denn der vorliegende Roman ist der erste Band einer Trilogie.

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