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Veröffentlicht am 17.07.2022

Außergewöhnliche Liebe

Jahre mit Martha
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Željko Drazenko Kovačević, genannt Jimmy, ist Kind von Einwanderern, die zum Arbeiten nach Ludwigshafen gekommen sind. Auf dem Bau und beim Putzen verdienen Jimmys Eltern gerade so viel, dass sie ihre ...

Željko Drazenko Kovačević, genannt Jimmy, ist Kind von Einwanderern, die zum Arbeiten nach Ludwigshafen gekommen sind. Auf dem Bau und beim Putzen verdienen Jimmys Eltern gerade so viel, dass sie ihre fünfköpfige Familie versorgen und in einer Zweizimmerwohnung unterbringen können. Beim vierzigsten Geburtstag seiner Mutter lernt der 15-Jährige Martha Gruber, Professorin in Heidelberg, kennen. In seinen Sommerferien kümmert sich Jimmy um den Garten der Grubers. Marthas Anziehungskraft ist riesengroß. Željko verliebt sich.

Ich mochte Željko. Er ist klug, forscht Themen aus, die er nicht kennt. In der Bibliothek schlägt er Fremdwörter nach, wodurch er vermutlich mehr davon beherrscht als Gleichaltrige mit deutschen Wurzeln. Željko merkt schnell, dass ihm aufgrund seiner Herkunft Steine im Weg liegen, und weiß sehr genau, dass Bildung die Hürden überwinden kann.
In Martha konnte ich mich gut hineinversetzen. Mit beruflich erfolgreichem Werdegang, Mann und Kind steht sie mitten im Leben als sie Jimmy kennenlernt. Vielleicht ist dieses sorglose Leben mit Putzfrau, verwöhntem Kind und regelmäßig abwesenden Mann von einer gewissen Kälte durchdrungen, die durch eine Dankbarkeit und Zuneigung, die Jimmy ihr entgegenbringt, vertrieben werden kann.

So entwickelt sich eine Liebe zwischen den beiden, die manchmal kindlich in einem Rülpswettbewerb endet, die mütterlich wirkt, wenn Martha ihm Bücher schenkt, die aber vor allem von unterdrückter Leidenschaft und Entbehrung geprägt ist. Nur selten geben sich die Liebenden vollends hin. Das macht das Lesen sehr reizvoll und spannend.

Ganz nebenbei taucht man in das Schicksal der Gastarbeiterfamilien und ihren in Deutschland geborenen Kindern ein. Sie sind die Fremden, die mit Vorurteilen bedacht werden und sich doppelt anstrengen müssen, um sich zu bewähren. So tut Željko alles, um sich maximal zu integrieren und ein anerkannter Bürger zu sein. Dabei droht er sich selbst, seine Identität und seine Persönlichkeit, zu verlieren. Das hat mich stark berührt und lässt mich meine empfundene Toleranz neu reflektieren.

Martin Kordić verbindet gekonnt Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und Zeitgeist. Angenehm in Erinnerung bleiben wird mir die Einbettung seiner Geschichte in das Zeitgeschehen. Seine Ausführungen zu Michael Jackson und zur Fußball-WM in Deutschland haben mich selbst zurückversetzt und das jüngere Lebensgefühl wieder aufleben lassen. Kordićs attraktive, wunderbar lesbare Sprache bildet den perfekten Rahmen für seinen Roman.

Sehr gern empfehle ich die Lektüre.

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Veröffentlicht am 14.07.2022

Fall mit interessanter Entwicklung

Später Frost
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Später Frost ist der erste Fall von nunmehr einer ganzen Krimiserie, die Ingrid Nyström und Stina Forss als Ermitterinnen begleitet. Ich bin ca. mittig in die Serie eingestiegen und verfolge die beiden ...

Später Frost ist der erste Fall von nunmehr einer ganzen Krimiserie, die Ingrid Nyström und Stina Forss als Ermitterinnen begleitet. Ich bin ca. mittig in die Serie eingestiegen und verfolge die beiden seitdem zuverlässig. Für dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, die noch fehlenden Bände zu lesen.

Nach einem Unfall fällt Ingrids Chef für Ermittlungen aus. Nyström übernimmt seinen Posten und bekommt auch gleich Verstärkung aus Berlin, die Deutschschwedin Stina Forss. Kurze Zeit später gibt es auch schon den ersten Mordfall. Ein übel zugerichteter Schmetterlingsforscher, Balthasar Frost, ist das Opfer.

Die erste Hälfte des Krimis beschäftigt sich verstärkt mit dem Ermittlungsteam, das aus einer großen Anzahl an Personen besteht. Hier die Übersicht zu behalten ist bestimmt nicht einfach. Dadurch, dass ich schon einige Bände gelesen habe, kam ich schnell im Personenkarussell zurecht. Allerdings wurde meine Vorstellung zu den Personen, zum Beispiel hinsichtlich des Aussehens, nochmal angepasst.

Durch die Einführungsphase wurde es erst in der zweiten Hälfte richtig spannend. Faszinierend wurde der Fall dadurch, dass er Kreise zog. Sah es zunächst nach eine lokalen Tat aus, wuchs er sich nach und nach international aus. Stina Forss darf auch schon ein erstes Mal ihren impulsiven Charakter offenbaren. Auch wenn in diesem ersten Band noch nicht allzu viel verraten wird, merkt man, dass beide Hauptfiguren schon ein Päckchen zu tragen haben. Was das genau sein wird, werden vielleicht die nächsten Bände zeigen.

Ich mag im Übrigen die Aufteilung der Ermittlungsarbeit in Tage und untertägig in recht kurze Kapitel. Für mich entsteht dadurch ein zusätzlicher Sog, der mich zügig weiterlesen lässt. Darüberhinaus wirft das Autorenpaar hin und wieder einen Blick auf den Täter, so dass bei mir der Eindruck eines Wissensvorsprungs gegenüber Nyström und Forss entstanden ist.

Insgesamt mochte ich auch diesen Fall und freue mich nun auf den Nächsten.

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Veröffentlicht am 14.07.2022

Vertiefung einer Gesellschaftskritik

Dämmerstunde
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Dämmerstunde von Hwang Sok-yong nimmt uns mit in eine ferne fremde Gesellschaft, die rücksichtslos ihre Schwachen wie Müll beiseite schiebt, um der aufstrebenden Wirtschaft und dem modernen Wohnungsbau ...

Dämmerstunde von Hwang Sok-yong nimmt uns mit in eine ferne fremde Gesellschaft, die rücksichtslos ihre Schwachen wie Müll beiseite schiebt, um der aufstrebenden Wirtschaft und dem modernen Wohnungsbau Platz zu machen. Hier begegnen wir Bak Minu, einen alternden Architekten, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, eine imposante Karriere hingelegt hat. Er blickt auf das eigene Leben mit all seinen Begegnungen zurück, hinterfragt vielleicht so manche Entscheidung. Als zweiter Charakter tritt Dschong Uhi auf die Bühne. Sie ist Theaterregisseurin vor dem sogenannten Durchbruch, die sich durch Nachtschichten in einem 24-Stunden-Nahversorger über Wasser hält.

Obwohl beide ganz unterschiedliche Charaktere sind, sich also nicht nur ihres Alters wegen massiv unterscheiden, gibt es doch Parallelen. Sowohl Bak Minu als auch Dschong Uhi halten mit strenger Disziplin an ihren Lebensträumen fest. Dem ordnen beide alles unter, bringen so manches Opfer. Sie besitzen eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, fallen niemals aus dem Rahmen, bleiben komplett unauffällig, so wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet. Die gesamte Lesezeit habe ich den beiden eigentlich mehr Leben und ein bisschen weniger strebsame Arbeit gewünscht.

Der Autor pflegt eine eher distanzierte, beschreibende Sprache. Trotzdem ist es Hwang Sok-yong gelungen, dass mir seine beiden Hauptfiguren ans Herz gewachsen sind. Ich konnte die Handlungsweisen von Uhi und Minu in ihrem Umfeld gut nachvollziehen, mich gut in beide hineinversetzen, sie ein stückweit verstehen. Anspruchsvoll fand ich die Umsetzung mittels verschiedener Ich-Erzählstimmen, da es mich jeweils einen Moment gekostet hat, den Personenwechsel zu erkennen. Herausfordernd waren auch die immensen Zeitsprünge. Dadurch hat es eine Weile gedauert, sich an den Erzählstil zu gewöhnen. Letzten Endes passen allerdings Geschichte und Schreibstil sehr gut zusammen.

Am besten hat mir das Anknüpfen dieses Romans an seinen Vorgänger „Vertraute Welt“, den ich im letzten Jahr gelesen hatte, gefallen. So wirkt „Dämmerstunde“ ein wenig wie eine Fortsetzung ohne tatsächlich eine zu sein. Ich habe mich jedenfalls gern an „Vertraute Welt“ erinnert und mit der aktuellen Lektüre den Faden, Südkorea und seine Gesellschaft besser kennen zu lernen, wieder aufgenommen.

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Veröffentlicht am 28.06.2022

Melancholisch verrückte Flucht vor dem Virus

Landpartie
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Zu Beginn der Pandemie verlassen ein paar Studienfreunde New York und begeben sich auf Einladung von Sasha Senderovsky in dessen Bungalowsiedlung. Bei gutem Essen und anregend gehobenen Gesprächen wollen ...

Zu Beginn der Pandemie verlassen ein paar Studienfreunde New York und begeben sich auf Einladung von Sasha Senderovsky in dessen Bungalowsiedlung. Bei gutem Essen und anregend gehobenen Gesprächen wollen sie dem Virus ein Schnippchen schlagen und das Virus einfach aussitzen. Doch das ist schwieriger als gedacht, da alle Beteiligten unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben und somit jeweils ganz andere Päckchen mit sich rumtragen. Zudem ist die Bungalowsiedlung in vielerlei Hinsicht marode, in Senderovskys Portemonnaie herrscht Ebbe.

Vor diesem Hintergrund lernen sich die alten Kollegen neu kennen und verbringen mit tollem Wein und exzellentem Fleisch schöne Abende auf der Terrasse des Haupthauses. War das nur die Aufrechterhaltung einer Fassade? Als bald ein besonderer Gast, der Schauspieler, eintrifft, ist es mit der Harmonie vorbei.

Als Leser:in erlebt man ein Potpourri aus Neid und Missgunst, aus Sehnsucht und unerfüllten, weil unausgesprochenen Wünschen. Gleichzeitig ist Landpartie aber auch eine Geschichte um Beziehungsprobleme, abkühlende Gefühle in einer Ehe und die damit einhergehende Unsicherheit. Als Einwanderergeschichte setzt sich der Roman mit den Identitäten der multinationalen Charaktere und ihrem Standing innerhalb der amerikanischen Gesellschaft auseinander.

Generell liebe ich die mitschwingende Melancholie der russischen Literatur, die hier über den Charakter des russischstämmigen Schriftstellers Sasha Senderovsky transportiert wird. Ich mag auch die Gemächlichkeit, in der die Geschichte vorangetrieben wird. Einen Klemmer habe ich hinsichtlich der Charaktere an sich. Ich konnte ihnen nicht wirklich nahe kommen. Am entferntesten habe ich den namenlosen Schauspieler empfunden. Vielleicht entsteht die Distanz aus der mitschwingenden Überheblichkeit dem Virus und dem bisherigen Beziehungsgeflecht gegenüber. Zwischendurch wirkt das Gehabe ein bisschen wie Springbreak in Tijuana.

Über weite Strecken mochte ich den Roman trotz der charakterlichen Schwächen. Denn genau diese verdeutlichen den kritischen Blick des Autors auf die Gesellschaft. Ganz oft musste ich wegen der überspitzten Darstellung in mich hinein schmunzeln. Zum Ende hin wurden es mir allerdings zu viele Träumereien und zu sehr fantasierende Szenen, so dass ich kaum noch folgen konnte. Hier ist Gary Shteyngart für meinen Geschmack über das Ziel hinausgeschossen.

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Veröffentlicht am 06.06.2022

Ins rechte Licht gerückt

Privateigentum
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„Trautes Heim, Glück allein“, das scheint der Lebenstraum vieler Leute zu sein. Mit dieser Erwartungshaltung verlassen Charles und Eva Caradec ihre Pariser Wohnung und ziehen in ein Haus in der Vorstadt, ...

„Trautes Heim, Glück allein“, das scheint der Lebenstraum vieler Leute zu sein. Mit dieser Erwartungshaltung verlassen Charles und Eva Caradec ihre Pariser Wohnung und ziehen in ein Haus in der Vorstadt, das die neuesten ökologischen Standards erfüllt. Sie freuen sich auf ein bisschen mehr Ruhe im Grünen.

Doch die Ruhe lässt auf sich warten. Die neuen Nachbarn nerven. Sie sind neugierig. Ihnen fehlt ständig irgendein Haushaltsgerät, dass sie mal eben in Beschlag nehmen. Die Nachbarn mimen eine Vertrautheit, die es eigentlich nicht geben kann, müssen sich alle doch erstmal kennenlernen.

So beginnt mit dem ersten Halbsatz „Ich fand es falsch den Kater zu töten“ ein bitterböser Roman, der böse Gedanken mit bösen Taten vermischt und in einen Kriminalfall mündet. Während nach außen versucht wird, eine gute Nachbarschaft zu erzeugen, findet im Kleinen längst Cliquenbildung statt. Gegenseitige Lästereien erzeugen einen gewissen Groll. Julia Decks Beobachtungsgabe ist ganz wunderbar. Nachbarschaft ist eben nicht nur eine Aneinanderreihung von harmonischen Grillpartys, sie ist auch geprägt von den Hinterlassenschaften der Anderen sowie Rasenmäherlärm und Kindergeschrei. Etwas überspitzt zu Papier gebracht, entsteht ein witzig turbulentes Werk, das ein stetes Schmunzeln bei den Leser*innen erzeugt. Die gehobene Sprache aus den Gedanken von Eva Caradec spiegelt ihren Bildungsgrad und ein stückweit Überheblichkeit wider. Trotzdem ist sie angenehm zu lesen, so dass dem Lesevergnügen nichts im Weg steht.

Insgesamt ist „Privateigentum“ ein Augenöffner für alle naiven Möchtegern-Hausbesitzer, quasi ein Aufklärungsbuch. Es hängt so viel mehr daran als nur die immensen Kosten. So charmant aufbereitet wie hier, lässt sich so ein Lebenswunsch bereitwillig noch einmal überdenken.

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