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Veröffentlicht am 11.07.2019

buchgewordenes Popcornkino

Sieben Jahre später
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Dass Nikki und Sebastian überhaupt geheiratet haben, grenzt an ein Wunder, so unterschiedlich, wie die beiden sind: sie, die unangepasste, extrovertierte Künstlerin, er, der konservative Geigenbauer. Als ...

Dass Nikki und Sebastian überhaupt geheiratet haben, grenzt an ein Wunder, so unterschiedlich, wie die beiden sind: sie, die unangepasste, extrovertierte Künstlerin, er, der konservative Geigenbauer. Als ihre gemeinsamen Kinder, das Zwillingspärchen Camille und Jeremy, acht Jahre alt sind, trennt sich das ungleiche Paar. Camille bleibt bei ihrem Vater in Manhattan und führt ein überbehütetes Leben mit Geigenstunden und Privatschule, Jeremy zieht mit der Mutter in ein abgeranztes Loft nach Brooklyn, er darf sich - und auch sonst alles - ausprobieren, ganz im Sinne seiner freigeistigen Mutter. Sieben Jahre lang beschränkt sich der Kontakt der Eltern auf das Allernötigste. Doch dann verschwindet Jeremy und seine Eltern müssen sich notgedrungen zusammenraufen und überdies feststellen, dass sie offensichtlich kaum etwas über den gemeinsamen Sohn wissen. Apropos wissen: Was weiß Camille, die Zwillingsschwester? Woher kommt das Kokain in Jeremys Zimmer? Wer ist der Tote in der versifften Kneipe, in die sie eine erste Spur führt? Und dann ist da noch Nikkis neuer Freund, der Polizist Santos, der unbedingt „helfen“ möchte ... Was folgt, ist eine halsbrecherische Tour de Force, die das entzweite (?) Paar erst quer durch New York, dann nach Paris und schließlich nach Rio de Janeiro führt, ihrem vermissten Sohn auf der Spur.

„Sieben Jahre später“ von Guillaume Musso zu lesen, ist, als würde man einen Hollywood-Action-Film mit den obligatorischen Romance-Elementen anschauen. Buchgewordenes Popcornkino sozusagen. Nicht besonders tiefschürfend, die Figuren sind mehr Typ als Charakter und das Ende, zumindest was Nikki und Sebastian angeht, vorhersehbar. Aaaaber: es muss ja auch nicht immer weiß Gott wie anspruchsvoll sein. Denn der Roman ist zweifelsohne spannend, hält an einigen Stellen überraschende Wendungen bereit und hat so manche interessante Nebenfigur und natürlich ausgesprochen feine Schauplätze. Alles in allem ein Buch, das man an einem Sommernachmittag flugs weglesen kann und dabei solide unterhalten wird, ohne sein Gehirn allzu sehr anstrengen zu müssen.

Veröffentlicht am 11.07.2019

spannende Unterhaltung

Das Schweigemädchen
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Stella erlebt den schlimmsten Alptraum einer Mutter: ein Moment der Unaufmerksamkeit, und ihre kleine Tochter Alice ist verschwunden. Die Kleine muss ertrunken sein, ist sich die Polizei bald sicher, doch ...

Stella erlebt den schlimmsten Alptraum einer Mutter: ein Moment der Unaufmerksamkeit, und ihre kleine Tochter Alice ist verschwunden. Die Kleine muss ertrunken sein, ist sich die Polizei bald sicher, doch Stella mag das nicht glauben. Zwanzig Jahre später hat sie den Verlust noch immer nicht verwunden, doch ihr Leben wieder im Griff. Sie ist Psychologin, lebt in einem schönen Haus, ist verheiratet, ihr Sohn Milo macht das Glück eigentlich perfekt. Eigentlich. Denn Stella hält noch immer die Augen nach ihrer Tochter auf, sucht sie in jedem Gesicht in einer Menschenmenge, kann und will sich nicht damit abfinden, dass Alice tot sein soll. Da betritt eines Tages Isabelle ihre Praxis, sucht einen Therapieplatz, Stella sei ihr empfohlen worden. Isabelle? Nein, Stella ist sich sicher, dass ihre vermisste und für tot erklärte Tochter vor ihr steht. Doch niemand will ihr glauben und Stella riskiert alles - ihre Ehe, ihre Familie, ihre professionelle Reputation und schließlich ihren Verstand, um ihre Vermutung zu bestätigen.

Die Geschichte wird von verschiedenen Figuren aus der Ich-Perspektive erzählt, und trotz der dadurch geschaffenen Unmittelbarkeit bleiben die Motive der Figuren an vielen Stellen undurchsichtig und rätselhaft, auch wenn zunächst vieles eindeutig scheint - und zwar eindeutig im eigentlichen Wortsinn, also ‚nur eine Deutung zulassend‘. Diese vermeintliche Eindeutigkeit ging für mich am Anfang der Lektüre sogar so weit, dass ich mich insgeheim fragte, woher denn jetzt wohl noch die Spannung kommen solle ... (es war ja alles, nun ja, „eindeutig“). Doch kann ich so viel verraten, ohne zu spoilern: Nur, weil etwas eindeutig zu sein scheint, muss es das noch lange nicht sein ... Und je weiter ich las, umso mehr stellte ich in Frage, umso begieriger war ich darauf, endlich zu erfahren, ob und wie alles miteinander zusammenhängt, wer „die Gute“ und wer „die Böse“ ist, ob und was Stella sich einbildet, was Wirklichkeit ist und was Wahn. Das Ende des Romans habe ich schließlich in fast fieberhafter Hast gelesen, weil es so spannend, so fesselnd war.

Mein Fazit: Leseempfehlung für jede*n, der/die (psychologische) Thriller schätzt.

Veröffentlicht am 11.07.2019

Erschütternd, bewegend, lesenswert

Das Mädchen auf dem Eisfeld
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Als die Protagonistin neun Jahre alt ist, wird sie von einem fremden Mann im Treppenhaus ihres Elternhauses missbraucht. Sie vertraut sich ihren Eltern an, sie erstatten Anzeige, ihr Leben geht weiter. ...

Als die Protagonistin neun Jahre alt ist, wird sie von einem fremden Mann im Treppenhaus ihres Elternhauses missbraucht. Sie vertraut sich ihren Eltern an, sie erstatten Anzeige, ihr Leben geht weiter. Scheinbar unbeschwert. Jahrelang. Sie geht jahrelang zur Therapie, das schon, doch gleichzeitig ist die extrovertiert, studiert Schauspiel, ist der Mittelpunkt jeder Gesellschaft, lacht, quasselt, tanzt, flirtet. Das traumatische Erlebnis hat keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Scheinbar. Denn in ihrem Inneren sitzen Quallen, die mit ihren Tentakeln nach ihr greifen, sie umfangen, festhalten, ihr den Atem rauben. Und da ist dieser Ort, auch in ihrem Inneren. Dort steht sie, „klein und verloren und frierend, in einer immensen weißen Wüste, wartet. Diesen Ort nennt sie ‚mein Mädchen auf dem Eisfeld‘, ahnt aber nicht, dass das Mädchen noch lange dort ausharren muss“.

Erst über zwanzig Jahre später wird der Täter gefasst und vor Gericht gestellt. Sie erkennt, dass sie bei weitem nicht die Erste und erst recht nicht die Einzige ist, die ihm zum Opfer fiel. Sie erkennt nach und nach - die Erinnerung will sich erst viele, viele Jahre später einstellen, langsam, bruchstückhaft, ein Mosaik der Angst -, dass der vermeintliche Missbrauch eine Vergewaltigung war. Sie erkennt, dass sie nicht alleine ist. Und sie erkennt, dass Heilung möglich ist. Allen Umständen zum Trotz.

Adélaïde Bon schildert das, was sie selbst als Kind erlebt hat, mit einer Kraft, die mir schier den Atem raubt. Die Abspaltung, die Dissoziation, die ein solches Trauma nach sich zieht, drücken sich unmissverständlich und unmittelbar in der wechselnden Erzählperspektive aus. Da ist zunächst von der namenlosen „sie“ die Rede, dann tritt, ganz zaghaft und vereinzelt, „Adélaïde“ namentlich in den Vordergrund, und schlief, anfänglich vereinzelt, dann immer häufiger, „ich“. Die Sprache ist klar und sachlich, zugleich berührend und poetisch.

Man muss dieses Buch mit einer Warnung versehen: Es sickert einem ins Bewusstsein. Setzt sich dort fest. Hinterlässt Spuren. Denn Adélaïde Bon lenkt ihren Blick von ihrer persönlichen Geschichte nach außen:

„[...] in den meisten Fällen gibt es bei sexuellem Missbrauch weder menschenfressende Ungeheuer noch Zauberfeen. Die meisten pädokriminellen Straftäter sind ganz reizende Menschen. Verwandte, gute Freunde, Nachbarn, Lehrer, unsere Idole, unsere Elite. Sie sind überzeugend in ihrer Rolle als aufrichtige Männer, ideale Mütter, hart arbeitende Fachleute. In Frankreich, wo etwa jedes fünfte Kind sexuelle Gewalt erlebt, wird nur wenigen von ihnen zugehört und noch seltener werden die Täter vor Gericht gestellt. Seit Jahrhunderten sind Vergewaltigungskultur, männliche Vorherrschaft und Kindesmisshandlung Teil unserer Gesellschaft. Wie viele geschlagene Kinder, wie viele von Angehörigen sexuell missbrauchte Kinder gibt es wohl unter unseren Vorfahren? Wie viele Mädchen wurden zwangsverheiratet, wie viele Frauen Abend für Abend unter dem Deckmantel der ehelichen Pflicht vergewaltigt? Wie viele Ehemänner, wie viele Väter haben sich das Recht herausgenommen, Handgreiflichkeiten als Mittel zum Stressabbau einzusetzen? Die ganze Menschheit ist ein Kind der Vergewaltigung, ein auf dem Eisfeld frierendes, wartendes Kind.“ (S. 146f.)

"Das Mädchen auf dem Eisfeld" ist ein intensives, erschütterndes, wichtiges, bemerkenswertes Buch. Unbedingt lesenswert.

Veröffentlicht am 11.07.2019

Berührend, traurig, schön!

Ein wenig Glück
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Ein Bahnübergang in Buenos Aires. Die Schranke ist unten, das Warnlicht blinkt. Doch kein Zug weit und breit. Die Schranke gilt schon seit längerem als defekt, und nach einigen Minuten vergeblichen Wartens ...

Ein Bahnübergang in Buenos Aires. Die Schranke ist unten, das Warnlicht blinkt. Doch kein Zug weit und breit. Die Schranke gilt schon seit längerem als defekt, und nach einigen Minuten vergeblichen Wartens umrundet der Fahrer des ersten Autos in der Warteschlange die Schranke, fährt über die Gleise. Weiterhin kein Zug. Der Fahrer des zweiten Wagens tut es ihm nach. Und noch immer kein Zug. Im dritten Auto sitzt Marilé mit ihrem sechsjährigen Sohn Federico und seinem Schulkameraden, sie will mit den Kindern ins Kino. Sie sind spät dran, also umkreist auch sie die Schranke, fährt auf die Gleise. Da kommt der Zug … Zwanzig Jahre später kehrt Marilé aus beruflichen Gründen nach Buenos Aires zurück. Sie heißt jetzt Mary Lohan und lebt in Boston, niemand erkennt sie. Niemand bis auf einen jungen Lehrer an der Schule, die Mary zertifizieren soll: Federico.

"Ein wenig Glück" ist ein sehr berührendes Buch – und das liegt vor allem daran, dass die erschütternden, zu Tränen rührenden Ereignisse von der Ich-Erzählerin so gar nicht rührselig geschildert werden. Denn gerade Marys Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit sich selbst und ihrer eigenen Schuld gegenüber, ihre fast lakonische Art, die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse zu schildern, entwickeln eine Eindringlichkeit, der ich mich nicht entziehen konnte, und so manches Mal hat es mir während der Lektüre die Kehle zugeschnürt und die Tränen in die Augen getrieben. Unbedingte Leseempfehlung – allerdings müsste man dieses Buch aus meiner Sicht mit einem Extra-Warnhinweis für Mütter von (kleinen) Söhnen versehen: Wenn Mary von ihrem Sohn erzählt, von ihrer Liebe zu ihm und den Gründen, ihn dennoch zu verlassen – das ist so herzzerreißend! Ich hatte während des Lesens dauernd Wunsch, meinen Sohn zu berühren und festzuhalten, mich seiner Gegenwart zu vergewissern, so nah ging mir die Geschichte.

Veröffentlicht am 11.07.2019

Fesselnd, beklemmend - mit gewöhnungsbedürftiger Sprache

Raum
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Rezension: Emma Donoghue: Raum
Der kleine Jack liebt seine Ma über alles. Schließlich ist sie alles, was er hat – und das buchstäblich, denn Jack und Ma leben in „Raum“, einem 12 Quadratmeter großen, ...

Rezension: Emma Donoghue: Raum
Der kleine Jack liebt seine Ma über alles. Schließlich ist sie alles, was er hat – und das buchstäblich, denn Jack und Ma leben in „Raum“, einem 12 Quadratmeter großen, schalldichten und ausbruchsicheren Zimmer, das alles beherbergt, was die beiden zum Leben brauchen: Möbel. Küchengeräte. Die Toilette. Und ganz wichtig: einen Fernseher. Jack liebt es fernzusehen, dort sind seine ‚Freunde‘, die Figuren der Cartoons, die Jack so gern anschaut. Natürlich weiß Jack, dass das, was er im Fernsehen sieht, nicht ‚in echt‘ ist. ‚In echt‘ sind nur er, Ma und ‚Raum‘. Und ‚Old Nick‘, der beinahe jede Nacht zu Ma kommt und „macht, dass das Bett quietscht“, während Jack sich im Schrank verstecken muss. Kurz nach Jacks fünftem Geburtstag eröffnet Ma ihm, dass es eine Welt außerhalb von ‚Raum‘ gibt, in der all das existiert, was Jack aus dem Fernsehen kennt: „Wälder und Dschungel auch und Wüsten und Straßen und Wolkenkratzer und Autos“. Doch erst nachdem Old Nick ihnen für einige Tage zur Bestrafung den Strom abstellt und Ma wieder einmal die Gefahr, in der sie und ihr Sohn schweben, bewusstwird, fasst sie einen waghalsigen Fluchtplan …

Das Buch ist, anders als die Inhaltsangabe vermuten lässt, kein Thriller, sondern vielschichtiger, es ist Kammerspiel und Entwicklungsroman, Familiendrama und Psychogramm, denn die Handlung endet nicht etwa mit der Flucht, sondern beschreibt das Leben von Mutter und Kind auch nach der traumatischen Gefangenschaft. Und beide Teile haben mich in ihren Bann gezogen: Da sind einerseits die Enge von ‚Raum‘, die Einförmigkeit des Alltags, die Angst der beiden vor ‚Old Nick‘, die Unentrinnbarkeit – aber auch die Liebe der Mutter zu ihrem Sohn und ihre unglaubliche Kreativität, mit der sie versucht, Jack das eingeschränkte Leben in der Gefangenschaft so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Und da ist andererseits die Rückkehr der Mutter bzw. der Eintritt des Jungen in die Freiheit. Vor allem für Jack ist die Welt außerhalb von ‚Raum‘ ein einziges Jamais-vu-Erlebnis: Alles ist laut und hell und grell und einfach zu viel. Er weiß für sein Alter unglaublich viel, scheitert aber an Selbstverständlichkeiten wie Treppen steigen (in Raum gab es keine Treppen, seinen Beinen ist diese Bewegung fremd) oder in Schuhen zu gehen (in Raum gab es auch keine Schuhe – wozu auch?). Und so weiß er diese Freiheit zunächst nicht zu genießen, im Gegenteil: Er sehnt sich zurück an den Ort, der für ihn sein ganzes bisheriges Leben lang seine einzige Welt, sein Zuhause war.

Jack ist der Dreh- und Angelpunkt der Handlung, alle
Geschehnisse werden aus seiner Perspektive beschrieben – und das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche des Romans. Die Sprache ist die eines Fünfjährigen (bzw. die Sprache, die die Autorin einem Fünfjährigen zudenkt) und das ist insbesondere im ersten Teil des Romans irritierend. Von den kleinen grammatischen Schnitzern, die Jack unterlaufen, und den bisweilen extrem kindlichen Formulierungen einmal abgesehen, hat Jack die Angewohnheit, Appellativa wie Eigennamen zu verwenden, z. B.:

„Ich springe auf Schaukestuhl, damit ich aus Kästchen auf Regal eine Stecknadel holen kann.“

„Jeden Morgen haben wir tausend Sachen zu erledigen, zum Beispiel Pflanze Wasser zu geben, und zwar in Becken, damit nichts verschüttet. Dann stellen wir ihn wieder auf seiner Untertasse auf Kommode.“

Dadurch werden die Gebrauchsgegenstände und Möbel scheinbar personifiziert, und wenngleich ich mir die Motivation dahinter vorstellen kann, sind die fehlenden Artikel doch sehr gewöhnungsbedürftig. Ich hatte mich nach einigen Seiten in diese besondere Sprache hineingehört und wusste sie irgendwann sogar als Stilmittel zu schätzen, doch könnte ich mir vorstellen, dass manch eine*r davon vollkommen genervt ist. (In der zweiten Hälfte des Romans legt es sich übrigens zunehmend, da mehr Figuren in die Handlung eintreten und folglich abwechslungsreichere Dialoge wiedergegeben werden.) Deshalb: ja, große Leseempfehlung, aber lest das Buch bitte unbedingt an und schaut, ob ihr euch mit Jacks speziellem Sprachduktus anfreunden könnt.