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Veröffentlicht am 07.10.2021

Solide Unterhaltung

Wer das Feuer entfacht - Keine Tat ist je vergessen
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Ein brutal ermordeter junger Mann auf einem Hausboot.
Eine junge Frau, die selbiges sichtlich verstört verlässt.
Eine verbitterte Bootsnachbarin, die jedwedes Geschehen akribisch beäugt.

Und eine auffallend ...

Ein brutal ermordeter junger Mann auf einem Hausboot.
Eine junge Frau, die selbiges sichtlich verstört verlässt.
Eine verbitterte Bootsnachbarin, die jedwedes Geschehen akribisch beäugt.

Und eine auffallend teilnahmslos wirkende Tante.
Das sind die Hauptfiguren in Paula Hawkins‘ frisch erschienenem Roman „Wer das Feuer entfacht“. Für die Polizei steht schnell fest, wer die Schuldige ist: Laura, die junge Frau, die die Nacht mit dem Mordopfer verbracht hat. Laura, die Unzuverlässige, die Sprunghafte, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt und Schwierigkeiten förmlich anzieht – und die ohne jeden Zweifel etwas verschweigt. Doch so einfach ist die Gemengelage dann doch nicht, denn nur wenige Monate vor dem Mord ist die Mutter des Getöteten bei einem Treppensturz ums Leben gekommen – ein Zufall? Und ist Schwester, die Tante des Toten, wirklich „nur“ eine trauernde Hinterbliebene? Und erst diese etwas verschrobene Frau vom Hausboot nebenan: tatsächlich eine Unbeteiligte, allenfalls eine mehr oder weniger zuverlässige Zeugin, die ein Einsiedlerinnendasein führt und mit allen und allem nichts zu tun hat? Eines jedenfalls steht fest: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Nach ihrem grandiosen Bestseller „Girl on the Train“ und dem aus meiner Sicht deutlich schwächeren „Into the Water“ hat Paula Hawkins mit „Wer das Feuer entfacht“ (Deutsch von Christoph Göhler) einen Spannungsroman geschrieben, der in erster Linie von seinen ebenso unterschiedlichen wie undurchsichtigen Frauenfiguren lebt. Seite um Seite, Kapitel um Kapitel enthüllen sich unvermutete Hintergründe und Verbindungen, dramatische und traumatische Vergangenheitserlebnisse, die die Frauen in einem immer etwas anderen Licht erscheinen lassen. Mein Fazit: ein solider Krimi, der dankenswerterweise auf Schwarz-weiß-Malerei verzichtet und mit überraschend tiefgründigen Figuren aufwartet. Perfekt für ein verregnetes Herbstwochenende auf der Couch.

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Atmosphärisch, spannend, horizonterweiternd

Eis. Kalt. Tot.
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Also, so hat Jesper sich seinen Start in Kopenhagen nicht vorgestellt, wahrlich nicht. Es ist arschkalt, die Großstadt unübersichtlich, die neu bezogene Wohnung karg und der Warmwasserboiler kaputt. Seine ...

Also, so hat Jesper sich seinen Start in Kopenhagen nicht vorgestellt, wahrlich nicht. Es ist arschkalt, die Großstadt unübersichtlich, die neu bezogene Wohnung karg und der Warmwasserboiler kaputt. Seine Kolleginnen und Kollegen bei der Kopenhagener Mordkommission reagieren gelinde gesagt verhalten auf den Neuen aus der Provinz, und dann wird er zu einem Mordfall hinzugezogen, der so rätselhaft wie bestialisch ist: Der verstümmelte Leichnam ist einem sogenannten Tupilak nachempfunden, einer chimärenartigen Sagengestalt der grönländischen Mythologie. Gemeinsam mit der faszinierenden Super-Recognizerin Marit und der kratzbürstigen Ermittlungsleiterin Kirsten versucht Jesper, den Mord aufzuklären, der indes nicht der einzige seiner Art bleiben soll. Und der schier ungeahnte Dimensionen erahnen lässt – Dimensionen, die sich als geradezu lebensgefährlich erweisen.

Anne Nørdbys Thriller „Eis. Kalt. Tot“ bietet nicht nur beste und vor allem spannende Unterhaltung, sondern überdies einen echten Erkenntnisgewinn. Wer – wie ich – bislang nicht den Hauch einer Ahnung von der faszinierenden Mythologie der Inuit hatte, wird – ebenfalls wie ich – am Ende der Lektüre seinen Wissenshorizont erweitert haben. Was mir ebenso gut gefallen hat, sind die Atmosphäre sowie die Figurenzeichnung: Das eisig kalte Kopenhagen dringt durch jede Zeile und lässt unabhängig von der tatsächlichen Temperatur bibbern und frösteln. Die Figuren sind auf angenehme Art sperrig und facettenreich. Sie wollen nicht „gefallen“, sie sind nicht eindimensional. Und sie sind – auch das ist hervorzuheben – im Erzählkontext quasi gleichwertig: Es gibt nicht „die eine“ Hauptfigur, die von Nebenfiguren flankiert wird. Vielmehr gibt Anne Nørdby jedem und jeder Einzelnen Raum, lässt sie gleichsam auf der Bühne mal in den Vorder-, dann wieder in den Hintergrund treten.

Ein gelungener Thriller, den ich sehr gern weiterempfehle! (Wobei ich anregen möchte, mit der Lektüre vielleicht bis zum Winter zu warten. Dann dürfte der atmosphärische Effekt noch deutlicher zutage treten.)

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Zart und berührend, poetisch und komisch

I get a bird
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Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse ...

Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse siebelstellige Nummer anruft, Janas Agenda. Wie kann jemand seine Agenda, dieses „Sammelbuch aller Nachlässigkeiten und Ideen“, in einer Telefonzelle vergessen?! Aufgrund eines unvorhergesehenen Vorkommnisses schickt er Jana die Agenda erst Monate später – für Jana indes zu spät – zu.
Aus diesem gewissenhaften Akt eines ehrlichen Finders entspinnt sich eine Korrespondenz, ja: Brieffreundschaft zwischen den beiden Fremden, die schon nach kurzer Zeit gar nicht mehr so fremd sind. Die Distanz und das Medium erlauben Jana und Johan einen Raum, in dem beide – jede/r auf seine Art versehrt – sich auf ungeahnte Weise öffnen und ihre Geschichte erzählen können.

„Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen! Jede Familie wird von ihren Geschichten, Legenden zusammengehalten, wie ein Mauerwerk vom Efeu, auch wenn es im Innern völlig marode ist […].“ (Pos. 454)

Zwei Jahre lang schrieben sich Anne von Canal und Heikko Deutschmann in den Rollen der Jana und des Johan. Die einzige initiale Absprache war der Anfang: Er findet etwas, was sie verloren hat. Dabei herausgekommen ist ein zarter und berührender, poetischer und bisweilen auch komischer Briefroman zweier Menschen, die ihre Verletzungen teils sichtbar, teils unsichtbar tragen und ertragen, die sich irgendwie am Leben abschinden und strampeln, ohne die Hoffnung zu verlieren oder gar unterzugehen. Eine Art „Gut gegen Nordwind“ für Erwachsene. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Eine faszinierende Grundidee, eine sehr mäßige Umsetzung

Die verschwundenen Studentinnen
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Die Psychotherapeutin Mariana hat den Tod ihres Mannes noch nicht verwunden, als ihr schon neue Sorgen ins Haus stehen: Eine Kommilitonin ihrer Nichte Zoe ist ermordet worden, möglicherweise schwebt auch ...

Die Psychotherapeutin Mariana hat den Tod ihres Mannes noch nicht verwunden, als ihr schon neue Sorgen ins Haus stehen: Eine Kommilitonin ihrer Nichte Zoe ist ermordet worden, möglicherweise schwebt auch Zoe in Gefahr. Mariana eilt nach Cambridge, um ihr beizustehen – und nach dem Mörder zu suchen. Denn es soll nicht bei diesem einen Todesfall bleiben. Bald schon weckt der rätselhafte Literaturprofessor Edward Fosca Marianas Interesse, oder vielmehr: ihr Misstrauen. Denn alle toten Studentinnen waren in seinem Seminar, standen ihm, wie man sagt, recht nahe. Sollte er einen antiken Kult wiederbelebt haben, der Menschenopfer fordert? Mariana setzt alles daran, die Morde aufzuklären, um Zoe zu beschützen. Und bringt sich dabei selbst in höchste Gefahr.

Ach, er klang so vielversprechend, dieser Roman: ein atmosphärischer Schauplatz, ein enigmatischer Kult, eine gebrochene Hauptfigur, die eine Mission verfolgt. Und tatsächlich hat das seine Momente, vor allem bei den literarischen Anspielungen, die ich mit großem Genuss gelesen habe. Doch leider, leider erschöpft sich die Qualität dieses „Psychothrillers“ – der bedauerlicherweise weder in Sachen „Psycho“ noch in Sachen „Thriller“ seine Genrebezeichnung verdient – darin. Die Sprache ist eher schlicht, an vielen Stellen geradezu unbeholfen und wird dem akademischen Ambiente nicht ansatzweise gerecht. Besonders lästig war in diesem Kontext der inflationäre Gebrauch von Parenthesen; hier hätte ein etwas intensiveres Lektorat dem Text sicherlich gutgetan. Doch auch die Story und ihre Protagonistin wollten mich nicht überzeugen: Die Geschichte verliert sich, insbesondere am Anfang, in allzu vielen Details (Marianas Kindheits- und Jugendgeschichte), die man sehr gut hätte straffen können, um nicht zu sagen: müssen. Und auch Mariana selbst ist, ich kann es nicht einfach sagen, eine entsetzliche Nervensäge. Weder sind ihre Verdächtigungen, Thesen und Schlussfolgerungen nachvollziehbar, noch vermag sie als Psychologin zu überzeugen, im Gegenteil. Alles in allem war es für mich eine enttäuschende Lektüre. Deshalb: leider keine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 30.08.2021

Ein literarisches Highlight

2001
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„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)

Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit ...

„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)

Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit hier, hier im Tal, einem kleinen Touristenort, der außerhalb der Saison in Trostlosigkeit versinkt. Erst recht, seit die Milchfabrik geschlossen wurde, in der die Väter ihre vermeintlich sicheren Arbeitsplätze an die Söhne vererbten. Und umso mehr, wenn man wie die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Julia, das „asoziale Verliererkind ohne Eltern“, in der örtlichen Hauptschule zur „Restmüll“-Klasse gehört (dort landet man, „wenn man kein Italienisch kann und schlecht im Sichbewegen ist“, und dort muss man letztlich „nichts Besonderes mehr leisten, außer existieren, aber auch das ist manchmal schwer“).
Dass Julia nicht verzweifelt, liegt vor allem an ihrem älteren Bruder und ihrer „Crew“. Hier hält man zusammen, hier frühstückt man gemeinsam an der Straßenecke die letzte Zigarette vor dem Unterricht, hier sind alle gleich – zumindest bis zu diesem fatalen Abschlussjahr und jenem überzogenen Geschichtsprojekt, das weniger der Bildung der Klasse, als vielmehr der Profilierung des ambitionierten Lehrers dient. Plötzlich scheint ein Immer-weiter-So nicht mehr möglich zu sein – auch wenn Julia das nicht wahrhaben will …

Man könnte „2001“, den frisch bei Hanser Berlin erschienen Roman von Angela Lehner, als Porträt einer nicht ganz so fernen Vergangenheit und als Schilderung einer weitestgehend perspektivlosen Dorfjugend betrachten. Dann würde man aus „2001“ vermutlich eine alles in allem harmlose, wenn nicht sogar belanglose, dennoch durchaus unterhaltsame Geschichte mit einer schnoddrigen, vielleicht auch nervigen Protagonistin herauslesen. Könnte man.

Man kann sich aber auch – und dazu möchte ich bei der Lektüre unbedingt raten – auf ebendiese Protagonistin einlassen, ihr zuhören, zwischen ihren Zeilen lesen, ihren Beobachtungen folgen. Und man liest die herzzerreißende Geschichte einer nahezu chancenlosen Heranwachsenden, die sich durchs Leben und den Alltag schlägt, ohne zu merken, dass sie sich durchschlägt – sie kennt es ja nicht anders. Die schon früh gelernt hat, dass man mit seinen Ressourcen haushalten muss, „und am besten haushalten kann man eben mit Bolognese und Emmentalerbrot“. Die ihre Schuhe trägt, bis sie buchstäblich auseinanderfallen – aber, ja nun, so geht es ja nicht nur ihr. Die ihren Bruder über alles liebt und nicht verstehen kann, warum der sich letztlich selbst mehr lieben muss als sie, um nicht unterzugehen im Tal. Die durchaus große Träume hat, auch wenn man ihr sagt, dass der Fame nicht ihr Weg sei und sie in der Realität ankommen müsse. Und die neben allen Alltagshindernissen wie jeder Teenie über Teenie-Kram nachdenkt wie zum Beispiel den ersten Kuss.

Angela Lehner schildert ihre Protagonistin und deren Lebensumstände so eindringlich und subtil, dass sich mir so manches Mal das Herz vor Mitgefühl zusammenzog. Sie erklärt und erläutert nicht, sondern lässt ihre Ich-Erzählerin beobachten und erzählen. Dabei sind es die scheinbaren Nebensächlichkeiten, wie beiläufig hingeworfen, die das Teenagerleben in diesem Milieu auf beinahe unheimliche Art lebendig werden lassen: Ein Rezept an der Kühlschranktür. Blutflecken auf den Socken. Ein hastig angerührter Fertig-Cappuccino auf dem Couchtisch. TV-Geräusche aus dem Wohnzimmer.

Angela Lehner hat mich mit ihrem Erstlingsroman „Vater unser“ schon begeistert (der Protagonistin Eva wollte ich Suppe kochen); mit „2001“ hat sie sich in meinen Augen noch gesteigert. Und Julia würde ich nicht nur bekochen, ich würde sie adoptieren.

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