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Veröffentlicht am 09.09.2021

Zart und berührend, poetisch und komisch

I get a bird
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Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse ...

Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse siebelstellige Nummer anruft, Janas Agenda. Wie kann jemand seine Agenda, dieses „Sammelbuch aller Nachlässigkeiten und Ideen“, in einer Telefonzelle vergessen?! Aufgrund eines unvorhergesehenen Vorkommnisses schickt er Jana die Agenda erst Monate später – für Jana indes zu spät – zu.
Aus diesem gewissenhaften Akt eines ehrlichen Finders entspinnt sich eine Korrespondenz, ja: Brieffreundschaft zwischen den beiden Fremden, die schon nach kurzer Zeit gar nicht mehr so fremd sind. Die Distanz und das Medium erlauben Jana und Johan einen Raum, in dem beide – jede/r auf seine Art versehrt – sich auf ungeahnte Weise öffnen und ihre Geschichte erzählen können.

„Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen! Jede Familie wird von ihren Geschichten, Legenden zusammengehalten, wie ein Mauerwerk vom Efeu, auch wenn es im Innern völlig marode ist […].“ (Pos. 454)

Zwei Jahre lang schrieben sich Anne von Canal und Heikko Deutschmann in den Rollen der Jana und des Johan. Die einzige initiale Absprache war der Anfang: Er findet etwas, was sie verloren hat. Dabei herausgekommen ist ein zarter und berührender, poetischer und bisweilen auch komischer Briefroman zweier Menschen, die ihre Verletzungen teils sichtbar, teils unsichtbar tragen und ertragen, die sich irgendwie am Leben abschinden und strampeln, ohne die Hoffnung zu verlieren oder gar unterzugehen. Eine Art „Gut gegen Nordwind“ für Erwachsene. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Eine faszinierende Grundidee, eine sehr mäßige Umsetzung

Die verschwundenen Studentinnen
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Die Psychotherapeutin Mariana hat den Tod ihres Mannes noch nicht verwunden, als ihr schon neue Sorgen ins Haus stehen: Eine Kommilitonin ihrer Nichte Zoe ist ermordet worden, möglicherweise schwebt auch ...

Die Psychotherapeutin Mariana hat den Tod ihres Mannes noch nicht verwunden, als ihr schon neue Sorgen ins Haus stehen: Eine Kommilitonin ihrer Nichte Zoe ist ermordet worden, möglicherweise schwebt auch Zoe in Gefahr. Mariana eilt nach Cambridge, um ihr beizustehen – und nach dem Mörder zu suchen. Denn es soll nicht bei diesem einen Todesfall bleiben. Bald schon weckt der rätselhafte Literaturprofessor Edward Fosca Marianas Interesse, oder vielmehr: ihr Misstrauen. Denn alle toten Studentinnen waren in seinem Seminar, standen ihm, wie man sagt, recht nahe. Sollte er einen antiken Kult wiederbelebt haben, der Menschenopfer fordert? Mariana setzt alles daran, die Morde aufzuklären, um Zoe zu beschützen. Und bringt sich dabei selbst in höchste Gefahr.

Ach, er klang so vielversprechend, dieser Roman: ein atmosphärischer Schauplatz, ein enigmatischer Kult, eine gebrochene Hauptfigur, die eine Mission verfolgt. Und tatsächlich hat das seine Momente, vor allem bei den literarischen Anspielungen, die ich mit großem Genuss gelesen habe. Doch leider, leider erschöpft sich die Qualität dieses „Psychothrillers“ – der bedauerlicherweise weder in Sachen „Psycho“ noch in Sachen „Thriller“ seine Genrebezeichnung verdient – darin. Die Sprache ist eher schlicht, an vielen Stellen geradezu unbeholfen und wird dem akademischen Ambiente nicht ansatzweise gerecht. Besonders lästig war in diesem Kontext der inflationäre Gebrauch von Parenthesen; hier hätte ein etwas intensiveres Lektorat dem Text sicherlich gutgetan. Doch auch die Story und ihre Protagonistin wollten mich nicht überzeugen: Die Geschichte verliert sich, insbesondere am Anfang, in allzu vielen Details (Marianas Kindheits- und Jugendgeschichte), die man sehr gut hätte straffen können, um nicht zu sagen: müssen. Und auch Mariana selbst ist, ich kann es nicht einfach sagen, eine entsetzliche Nervensäge. Weder sind ihre Verdächtigungen, Thesen und Schlussfolgerungen nachvollziehbar, noch vermag sie als Psychologin zu überzeugen, im Gegenteil. Alles in allem war es für mich eine enttäuschende Lektüre. Deshalb: leider keine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 30.08.2021

Ein literarisches Highlight

2001
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„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)

Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit ...

„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)

Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit hier, hier im Tal, einem kleinen Touristenort, der außerhalb der Saison in Trostlosigkeit versinkt. Erst recht, seit die Milchfabrik geschlossen wurde, in der die Väter ihre vermeintlich sicheren Arbeitsplätze an die Söhne vererbten. Und umso mehr, wenn man wie die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Julia, das „asoziale Verliererkind ohne Eltern“, in der örtlichen Hauptschule zur „Restmüll“-Klasse gehört (dort landet man, „wenn man kein Italienisch kann und schlecht im Sichbewegen ist“, und dort muss man letztlich „nichts Besonderes mehr leisten, außer existieren, aber auch das ist manchmal schwer“).
Dass Julia nicht verzweifelt, liegt vor allem an ihrem älteren Bruder und ihrer „Crew“. Hier hält man zusammen, hier frühstückt man gemeinsam an der Straßenecke die letzte Zigarette vor dem Unterricht, hier sind alle gleich – zumindest bis zu diesem fatalen Abschlussjahr und jenem überzogenen Geschichtsprojekt, das weniger der Bildung der Klasse, als vielmehr der Profilierung des ambitionierten Lehrers dient. Plötzlich scheint ein Immer-weiter-So nicht mehr möglich zu sein – auch wenn Julia das nicht wahrhaben will …

Man könnte „2001“, den frisch bei Hanser Berlin erschienen Roman von Angela Lehner, als Porträt einer nicht ganz so fernen Vergangenheit und als Schilderung einer weitestgehend perspektivlosen Dorfjugend betrachten. Dann würde man aus „2001“ vermutlich eine alles in allem harmlose, wenn nicht sogar belanglose, dennoch durchaus unterhaltsame Geschichte mit einer schnoddrigen, vielleicht auch nervigen Protagonistin herauslesen. Könnte man.

Man kann sich aber auch – und dazu möchte ich bei der Lektüre unbedingt raten – auf ebendiese Protagonistin einlassen, ihr zuhören, zwischen ihren Zeilen lesen, ihren Beobachtungen folgen. Und man liest die herzzerreißende Geschichte einer nahezu chancenlosen Heranwachsenden, die sich durchs Leben und den Alltag schlägt, ohne zu merken, dass sie sich durchschlägt – sie kennt es ja nicht anders. Die schon früh gelernt hat, dass man mit seinen Ressourcen haushalten muss, „und am besten haushalten kann man eben mit Bolognese und Emmentalerbrot“. Die ihre Schuhe trägt, bis sie buchstäblich auseinanderfallen – aber, ja nun, so geht es ja nicht nur ihr. Die ihren Bruder über alles liebt und nicht verstehen kann, warum der sich letztlich selbst mehr lieben muss als sie, um nicht unterzugehen im Tal. Die durchaus große Träume hat, auch wenn man ihr sagt, dass der Fame nicht ihr Weg sei und sie in der Realität ankommen müsse. Und die neben allen Alltagshindernissen wie jeder Teenie über Teenie-Kram nachdenkt wie zum Beispiel den ersten Kuss.

Angela Lehner schildert ihre Protagonistin und deren Lebensumstände so eindringlich und subtil, dass sich mir so manches Mal das Herz vor Mitgefühl zusammenzog. Sie erklärt und erläutert nicht, sondern lässt ihre Ich-Erzählerin beobachten und erzählen. Dabei sind es die scheinbaren Nebensächlichkeiten, wie beiläufig hingeworfen, die das Teenagerleben in diesem Milieu auf beinahe unheimliche Art lebendig werden lassen: Ein Rezept an der Kühlschranktür. Blutflecken auf den Socken. Ein hastig angerührter Fertig-Cappuccino auf dem Couchtisch. TV-Geräusche aus dem Wohnzimmer.

Angela Lehner hat mich mit ihrem Erstlingsroman „Vater unser“ schon begeistert (der Protagonistin Eva wollte ich Suppe kochen); mit „2001“ hat sie sich in meinen Augen noch gesteigert. Und Julia würde ich nicht nur bekochen, ich würde sie adoptieren.

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Veröffentlicht am 18.08.2021

Durchaus spannend, aber irgendwie "unfertig"

Kaltes Land
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Sabine Yao, Rechtsmedizinerin der Berliner BKA-Einheit „Extremdelikte“, wird unversehens mit einem Fall konfrontiert, der sie in ihrem Innersten erschüttert: Ihre seit Tagen vermisste Tante wurde in der ...

Sabine Yao, Rechtsmedizinerin der Berliner BKA-Einheit „Extremdelikte“, wird unversehens mit einem Fall konfrontiert, der sie in ihrem Innersten erschüttert: Ihre seit Tagen vermisste Tante wurde in der Nähe von Kiel tot aufgefunden, offenkundig wurde sie ermordet. Sabine reist sofort in ihre alte Heimat, und dank der Beziehungen ihres Chefs bekommt sie die Gelegenheit, sich über die Ermittlungsergebnisse zu informieren. Doch das reicht Sabine nicht – sie will den Fall aufklären. Und sie hat auch schon eine Spur …

Dass der habilitierte Rechtsmediziner Michael Tsokos auch fesselnde Bücher schreiben kann, hat er bereits mehr als einmal unter Beweis gestellt. Und auch „Kaltes Land“ bietet spannende Unterhaltung, wobei für mich vor allem die Verwendung des Fachvokabulars nicht nur faszinierend, sondern durchaus auch lehrreich war (merke: Löcher in einer Bluse nennt man „Stoffedefekte“, bestimmte Spuren heißen „Residuen“). Allerdings bleibt nach meinem Empfinden die Figurenzeichnung etwas auf der Strecke – die Figuren sind in ihrem Wesen, ihrem Charakter, ihren Empfindungen und Handlungen nicht soooo komplex – und auch das Ende kam etwas abrupt, was dem Roman etwas „Unfertiges“ verleiht.

Fazit: Ein durchaus solider Thriller, wenngleich bei Weitem nicht Tsokos‘ bester.

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Veröffentlicht am 13.07.2021

Konnte mich leider weder inhaltlich noch sprachlich überzeugen

Sturmvögel
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Es ist ein entbehrungs- und herausforderungsreiches, aber auch ereignisreiches Leben, auf das die sechsundachtzigjährige Emmy zurückblicken kann. Geboren und aufgewachsen auf Amrum, ist ihre Kindheit nicht ...

Es ist ein entbehrungs- und herausforderungsreiches, aber auch ereignisreiches Leben, auf das die sechsundachtzigjährige Emmy zurückblicken kann. Geboren und aufgewachsen auf Amrum, ist ihre Kindheit nicht nur von den Gezeiten geprägt, sondern auch von der wiederkehrenden Not und der gestrengen Großmutter Alma. In den Zwanzigerjahren verschlägt es sie ins pulsierende Berlin, wo sie sich als Dienstmädchen verdingt und den vornehmen Hauke kennenlernt. Ihre Ehe ist nicht ganz so, wie Emmy sich eine lebenslange Liebe vorstellt, doch der Zweite Weltkrieg, die drei gemeinsamen Kinder und das Schicksal selbst lassen eine Trennung nicht zu – auch nicht, als Emmy ihrer wahren großen Liebe begegnet.
Als jetzt, im Jahr 1994, ihre erwachsenen Kinder im Keller auf rätselhafte Akten stoßen, die vermuten lassen, dass Emmy weitaus vermögender ist, als ihr bescheidenes Rentnerinnendasein preisgibt, muss Emmy sich noch einmal Herausforderungen stellen – und das tut sie, die Willensstarke und Unbeirrbare, anders, als ihre es sich in ihren kühnsten Träumen ausmalen …

„Sturmvögel“ verfügt im Grunde über viele gute Zutaten für eine fesselnde Lektüre: eine starke, freigeistige weibliche Hauptfigur, familiäre Verwicklungen, zwei verschiedene Zeitebenen und einen vielschichtigen historischen Hintergrund. Das und die Tatsache, dass die Verfasserin Manuela Golz sich – wie wundervoll! – vom Leben ihrer eigenen Großmutter hat inspirieren lassen, machen es mir umso schwerer zu sagen, dass der Roman leider nicht meine Erwartungen erfüllen konnte. Ich war fest gewillt, ihn zu mögen – doch der Funke wollte einfach nicht überspringen. Und das lag hauptsächlich an der sprachlichen und inhaltlichen Aufbereitung dieser an sich vielversprechenden Grundidee:

Auf der Vergangenheitsebene passiert verhältnismäßig viel auf verhältnismäßig wenig Seiten, was nicht nur zu Lasten des Ort- und Zeitkolorits, sondern auch der Handlungs- und Figurenzeichnung geht. Dadurch bleibt die Handlung bedauerlicherweise allzu oberflächlich, die Figuren wirken blass, eindimensional und wenig greifbar. Vielleicht hätte man der Geschichte einfach mehr Raum geben müssen, um sich hinreichend entfalten zu können. Auch sprachlich vermochte „Sturmvögel“ mich nicht ganz zu überzeugen, da hätte ich mir ein etwas umfassenderes Lektorat gewünscht. Der Erzählstil ist oftmals flapsig und unterkomplex, die Sprache stilistisch uninspiriert, die Aussagen bisweilen schaurig banal.

Deshalb kann ich persönlich leider keine Empfehlung aussprechen.

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