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Veröffentlicht am 19.11.2020

Spannende Unterhaltung

Ohne Schuld
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Wenn es um solide und spannende Unterhaltung geht, ist Charlotte Link für mich immer eine sichere Wahl. Ihr neuester Roman bildet da keine Ausnahme. „Ohne Schuld“ ist – nach „Die Betrogene“ und „Die Suche“ ...

Wenn es um solide und spannende Unterhaltung geht, ist Charlotte Link für mich immer eine sichere Wahl. Ihr neuester Roman bildet da keine Ausnahme. „Ohne Schuld“ ist – nach „Die Betrogene“ und „Die Suche“ – der nunmehr dritte Band mit der verschlossenen Detective Sergeant Kate Linville und dem zerrissenen DCI Caleb Hale.

Kate hat Scotland Yard und London den Rücken gekehrt, um künftig mit Caleb als neuem Chef in Scarborough zu arbeiten. Doch ihr Start gestaltet sich gänzlich anders als geplant. Auf einer Zugfahrt wird Kate unvermittelt Zeugin eines Anschlags auf eine Mitreisende: Ein junger Mann schießt auf die unscheinbare Frau – gezielt und ohne jeden Zweifel mit der Absicht, sie zu töten. Kate kann die Frau retten, der Täter entkommt indes. Nur wenig später wird ein weiterer Anschlag auf eine äußerst beliebte junge Lehrerin verübt. Sie steht in keinerlei Verbindung zu der Frau aus dem Zug, doch die Waffe, mit der auf sie geschossen wird, ist dieselbe … der Täter auch? Kates nahezu untrüglicher Instinkt ist geweckt und sie beginnt zu ermitteln – wenngleich unter gänzlich anderen Umständen, als sie dachte.

Ein lange zurückliegendes Verbrechen, das plötzlich an die Oberfläche drängt: Charlotte Link versteht es auch in diesem Roman vortrefflich, zwei Zeitebenen miteinander zu verweben und langsam eine Tragödie zu entrollen, deren gesamtes Ausmaß sich erst zum Ende hin offenbart. „Ohne Schuld“ ist ein Kriminalroman, an dem nicht nur eingefleischte Charlotte-Link-Fans ihre Freude haben dürften.

Auch wenn es sich bereits um den dritten Band der Kate-Linville-Romane handelt, ist das Buch auch ohne Kenntnisse der vorherigen Ereignisse sehr gut lesbar. Es wird zwar gelegentlich Rekurs auf die Vergangenheit genommen, allerdings nur sehr punktuell und ohne jeden Spoiler.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

berückend und rätselhaft

Andrin
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Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, ...

Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, die zu schreiben ihr aufgetragen wurde, stockt; sie findet einfach keinen Zugang, weder zu dem Leben, noch zu der Person des literarisch zu Porträtierenden. Ihr Verleger hat die Idee: Susanne soll sich in sein Appartement in Italien zurückziehen: Ruhe, Entspannung, Blick aufs Meer – dann fließt auch wieder die Kreativität. Statt in Italien strandet Susanne indes in Voglweh, einem verborgenen, ja, verfallenen Bergdorf. Die einzigen zwei Bewohner der winzigen Siedlung, der ältere, überaus vielseitig begabte Andrin und seine Frau Uta, nehmen Susanne mit offenen Armen auf. Und was zunächst als kurzer Aufenthalt gedacht ist, dauert an und an und an. Ja, die verlassene Siedlung, die ewig drohenden Steinlawinen, das warmherzige Ehepaar und die grotesk üppige Vegetation werfen bei ihr Fragen auf – doch Susanne schiebt sie beiseite. Je mehr Zeit sie in Voglweh verbringt, umso mehr verliert sie sich bereitwillig in dem gleichmäßigen Rhythmus aus körperlicher Arbeit, fantastischem Essen, wohltuender Gesellschaft und tiefem Schlaf … doch wie lange kann dieses entrückte Leben realistischerweise andauern?

„Andrin“ ist ein faszinierender Roman, der wie ein Vexierbild mit der Realität und dem Alltag, wie wir sie kennen, spielt. Während der Lektüre fühlte ich mich vielfach an Marlen Haushofers „Die Wand“, Raphaela Edelbauers „Das flüssige Land“ und zum Teil auch an Ewald Arenz‘ „Alte Sorten“ erinnert. Doch trotz – oder gerade wegen – dieser Reminiszenzen, entfaltet „Andrin“ ein ganz eigenes, gefangennehmendes Erzähluniversum: Ein weitestgehend autarkes Leben fernab des hektischen Alltäglichen, das ausschließlich den eigenen und den Naturgesetzen folgt und in einer beinahe realitätsenthobenen, naturverbundenen Parallelwelt stattfindet – was Susanne erlebt, war für mich als Leserin zugleich irritierend und enigmatisch, bestrickend und verheißungsvoll.

Mein einziger – allerdings, wie ich einräumen muss, sehr, sehr subjektiver – Kritikpunkt ist der an einigen Stellen etwas zu umgangssprachliche und ein wenig flapsige Erzählstil. Doch das ist ausschließlich meinem persönlichen Geschmack geschuldet, denn er passt, das muss ich betonen, durchaus zu der recht burschikosen Ich- Erzählerin und tut der Erzählung keinerlei Abbruch.

Ich habe diesen Roman ausgesprochen gern gelesen und
empfehle ihn ebenso ausgesprochen gerne weiter.

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Veröffentlicht am 05.11.2020

gewohnt liebenswert-kauzig

Funkenmord (Kluftinger-Krimis 11)
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Nachdem mir der Ausflug des Autorenduos Klüpfel/Kobr ins Thrillerfach ja leider nicht so gut gefallen hat, bin ich umso glücklicher, dass die beiden sich wieder ihrem eigentlichen Genre gewidmet und dem ...

Nachdem mir der Ausflug des Autorenduos Klüpfel/Kobr ins Thrillerfach ja leider nicht so gut gefallen hat, bin ich umso glücklicher, dass die beiden sich wieder ihrem eigentlichen Genre gewidmet und dem kauzig-liebenswerten Klufti einen neuen Fall auf den Lodenjanker-bewehrten Leib geschrieben haben. Und was soll ich sagen? Ich mag ihn – den neuen Roman, den neuen Fall und natürlich auch den Kommissar Kluftinger.

Dieses Mal ist Klufti arg gebeutelt. Der letzte Fall steckt ihm noch immer in den Knochen, die Taufe des Enkelchens steht an, seine Chefin muss den Stuhl räumen und Kluftinger interims ihre Rolle einnehmen (was ihn zu seinem eigenen Chef macht – der Himmel steh uns bei). Zu allem Überfluss ist seine Erika gerade sehr, sehr schlecht zurecht und leider nicht in der Lage, ihm die quasi überlebensnotwendigen Kässpatzen zuzubereiten. Des Weiteren wären da noch ein eigenwilliger Hund aus dem Tierheim und eine patente, allerdings so ganz anders gestrickte neue Kollegin, die ordentlich frischen Wind in Kluftis Team bringt. Ach ja, einen Fall gibt es natürlich auch. Und zwar nicht irgendeinen, sondern einen waschechten Cold Case, an dessen „Aufklärung“ Kluftinger vor dreißig Jahren selbst beteiligt war … oder hat man seinerzeit doch nicht den wahren Täter gefasst?

Klufti stiefelt in gewohnt herzerwärmend-knurriger Weise durch den Fall und sein Leben, lässt kein Fettnäpfchen aus – und beweist doch einmal mehr, dass er am Ende des Tages ein instinktsicherer Kriminalist ist. Wie alle Kluftinger-Romane ist auch dieser gespickt mit urkomischen Situationen, originellen Einfällen und ganz vielen „Nee, Klufti, bitte mach das jetzt nicht“-Momenten. Ich sag nur: Thermomix …

Fazit: Wer die Kluftinger-Krimis kennt und mag, wird ganz gewiss auch an „Funkenmord“ seine Freude haben. Wer sie noch nicht kennt, sollte ihre Lektüre auf jeden Fall einmal in Erwägung ziehen. (Ich grinse gerade allein bei dem Gedanken an das Buch …)

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Veröffentlicht am 05.11.2020

Eindringlich erzählt und beklemmend, aber mit gelegentlichen Längen. Triggerwarung!

Meine dunkle Vanessa
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Vanessa ist gerade fünfzehn, als ihr Englischlehrer ein gesteigertes – um nicht zu sagen: ungesundes – Interesse an ihr entwickelt. Anfänglich ist das einsame Mädchen geschmeichelt, ja, geradezu betört ...

Vanessa ist gerade fünfzehn, als ihr Englischlehrer ein gesteigertes – um nicht zu sagen: ungesundes – Interesse an ihr entwickelt. Anfänglich ist das einsame Mädchen geschmeichelt, ja, geradezu betört von der Aufmerksamkeit, die Jacob Strane ihr entgegenbringt. Das hübsche Mädchen, das viel liest und Gedichte schreibt, hat als einzige Stipendiatin keinen leichten Stand an ihrer exklusiven Privatschule, und seit sie sich mit ihrer einzigen Freundin entzweit hat, ist sie noch einsamer. Jacob gibt ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. „Liebeleien zwischen Lehrern und Schülerinnen“ kämen an der Browick School durchaus vor, beteuert er, er selbst sei aber – selbstverständlich – in dieser Hinsicht „ein unbeschriebenes Blatt“. Und ebenso selbstverständlich ist es nicht Vanessas Jugend, die ihn anzieht, bewahre! Auch zwanzig Jahre später ist Vanessa sich sicher: „Was er vor allem liebte, war mein Verstand.“ Ihre phänomenale „emotionale Intelligenz“. Sie sei seine „Seelenverwandte“ – was für ein Pech für ihn, dass sie erst fünfzehn ist!

Von der vermeintlichen Bewunderung und der Vanessa so wohltuenden Aufmerksamkeit ist es nur noch ein winziger Schritt bis zur ersten sexuellen Handlung. Ein Übergriff, eine Vergewaltigung, der noch weitere folgen sollen. Doch Vanessa kommt nicht von ihm los: Welche Folgen hätte es, wenn sie sein Verhalten anzeigte? Und ist es überhaupt eine Anzeige wert, wenn sie doch, wie sie nicht müde wird, sich einzureden, „freiwillig“ mitmacht? Wenn es doch eindeutig Liebe sein muss, die sie und Jacob verbindet?
Zwanzig Jahre später steht Vanessa noch immer mit ihrem Lehrer in Kontakt. Und auch wenn ihr gelegentlich der Gedanke kommt, dass das, was sich zwischen ihrem Lehrer und ihr abgespielt hat, Missbrauch war, kann sie dieser Tatsache nicht ins Gesicht blicken – und das nicht, wie ihr bewusstwird, um Strane zu schützen, sondern auch sich selbst:
„Denn obwohl ich mitunter den Begriff ‚Missbrauch‘ verwende, um gewisse Dinge zu beschreiben, die mit mir angestellt wurden, nimmt das Wort, wenn es ein anderer ausspricht, einen so hässlichen, absoluten Klang an. Es schluckt alles, was geschehen ist. Schluckt mich und die vielen Gelegenheiten, als ich es selbst wollte, darum gebettelt habe.“ (S. 67 f.)
Zwanzig Jahre später steckt sie noch immer fest in den teils verschwommenen Erinnerungen an ihre Zeit als Fünfzehnjährige, ist verhaftet in ihrem tiefen inneren Widerstand gegen die Vorstellung, vergewaltigt worden zu sein, denn:

„Ich bin kein Opfer, weil ich das nie sein wollte, und wenn ich es nicht sein will, dann bin ich es auch nicht. So einfach ist das. Was eine Vergewaltigung von Sex unterscheidet, ist der eigene Bewusstseinszustand. Wer es selbst will, kann nicht vergewaltigt werden, oder?“ (S. 325, Hervorhebung im Original)
Doch jetzt, zwanzig Jahre später, haben sich die äußeren Umstände geändert: Jacob Strane wurde von einer ehemaligen Schülerin angezeigt, ihr sexuelle Gewalt angetan zu haben. Die Story schlägt hohe Wellen, geht durch alle Medien. Und langsam, sehr langsam, beginnt Vanessa zu erkennen, dass sie sich diesem düsteren, ihr gesamtes weiteres Leben überschattenden Erlebnis zu stellen.

„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell (aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer) ist ein eindringlich erzählter Roman, dessen Protagonistin und Ich-Erzählerin ebenso plastisch wie drastisch ihre Geschichte erzählt. Es ist eine Geschichte sexueller Gewalt und psychischer Abhängigkeit – und gleichzeitig eine Geschichte innerer Widerstände und widersprüchlicher Gefühle, sich diesen erschütternden Erfahrungen zu stellen. Wie strategisch und perfide Jacob Strane vorgeht, um Vanessa gefügig zu machen und an sich zu binden, wie geschmeichelt das junge Mädchen anfänglich – und fatalerweise trotz ihres Unbehagens, Widerwillens und Ekels auch weiterhin – von seiner Aufmerksamkeit und dem eigenen vermeintlichen Sonderstatus ist, ist fulminant erzählt und erschütternd zu lesen.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass einige Aspekte etwas zu sehr ausgestaltet werden: dass Vanessa als Erwachsene ihr Leben nicht wirklich in den Griff bekommt, dass sie unfähig ist, längerfristige Bindungen einzugehen, dass sie ihr Talent vergeudet, dass sie zögert und hadert, ob auch sie ihre Erfahrungen öffentlich machen soll – all das hätte für meinen persönlichen Geschmack durchaus etwas straffer erzählt werden dürfen. Doch diese gelegentlichen Längen tun der Eindringlichkeit des Erzählten keinen Abbruch. Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung, allerdings mit ausdrücklicher Triggerwarnung.

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Veröffentlicht am 25.09.2020

Erschreckend, erhellend und maximal lesenswert

Unziemliches Verhalten
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Die in der Verlagsinfo zu diesem Buch erwähnte allseits herrschende Misogynie fand ich, bevor ich zu lesen begann, zugegebenermaßen sehr übertrieben. Wie falsch ich mit meiner Grundannahme lag, wurde mir ...

Die in der Verlagsinfo zu diesem Buch erwähnte allseits herrschende Misogynie fand ich, bevor ich zu lesen begann, zugegebenermaßen sehr übertrieben. Wie falsch ich mit meiner Grundannahme lag, wurde mir indes sehr schnell klar. Ja, es war eine Atmosphäre der Misogynie, und diese Atmosphäre ist noch immer da. Vielleicht nicht mehr ganz so stark, vielleicht mit mehr Achtsamkeit und einem stärker geschärften Bewusstsein betrachtet – aber zweifellos nicht verschwunden.

Anhand ihrer Lebensgeschichte und der Geschichte ihrer Selbstfindung und -entfaltung als Autorin entwirft Rebecca Solnit ein gesellschaftliches Panorama tiefverwurzelter und erschreckend selbstverständlicher Frauenfeindlichkeit, derer man sich auch heute im Alltag kaum bewusstwird und die doch alle Frauen betrifft. Gewalt gegen Frauen begegnet uns in Filmen, „in denen ein in all seinen grässlichen Einzelheiten dargestellter Mord an einer schönen Frau ein gängiges Motiv war, um die Handlung voranzutreiben, oder ein weiblicher Leichnam als ästhetisches Objekt galt“ (Pos. 611 ff.). Sie begegnet uns in der Werbung, in der Literatur, in der Mythologie, ohne je hinterfragt worden zu sein. Warum diese Misogynie so lange so unerwähnt blieb, erklärt Rebecca Solnit mit dem Fehlen einer Stimme, die darauf hinweist, bzw. mit dem Nicht-Erkennen dieses Fehlens, denn „manchmal fehlt etwas so grundsätzlich, dass selbst das Wissen um sein Fehlen fehlt.“

Rebecca Solnits Buch ist maximal lesenswert: Es ist erschreckend, erhellend, erkenntnisreich. Ich habe mir selten zu einem Buch so viele Notizen gemacht, habe selten ein Buch so oft aus der Hand gelegt, um über das Gelesene nachzudenken, habe mich selten so sehr an der pointierten Sprache (Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum) Buches erfreut und – auch das will ich an dieser Stelle unbedingt betonen! – ich habe selten ein so exzellent lektoriertes Buch gelesen.

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