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Veröffentlicht am 23.09.2020

Eine herzergreifende Geschichte mit großen Denkanstößen

Zugvögel
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Es ist eine dystopieartige und zugleich erschreckende Welt, in der die Protagonistin Franny, eine junge Frau mit „Selkie-Blut“ und „einem Kompass im Herzen, der nicht auf den wirklichen Nordpol, sondern ...

Es ist eine dystopieartige und zugleich erschreckende Welt, in der die Protagonistin Franny, eine junge Frau mit „Selkie-Blut“ und „einem Kompass im Herzen, der nicht auf den wirklichen Nordpol, sondern aufs Meer ausgerichtet ist“, lebt. Alle wildlebenden Tiere sind weitestgehend ausgestorben, die Meere nahezu leergefischt, kein Vogel zieht seine Bahnen am Himmel. In dieser beklemmenden Wirklichkeit verfolgt Franny einen, wie sie es nennt, unmöglichen, einen närrischen Traum: Sie will die letzten drei Küstenseeschwalben auf ihrem Zug von Grönland in die Antarktis begleiten. Es gelingt ihr, Ennis, den Kapitän eines Fischkutters (ausgerechnet!) zu überzeugen, sie in seine Crew aufzunehmen und mit ihr an den Südpol zu reisen – was die übrigen Crewmitglieder nicht gerade mit Begeisterung erfüllt. Einzig die Hoffnung, dass die Küstenseeschwalben das Fischerboot zu bislang unbekannten Fischgründen, die Hoffnung auf den „goldenen Fang“ lässt sie Franny zähneknirschend in ihrer Mitte akzeptieren.
Was die Besatzung indes nicht weiß und was sich auch den Leser*innen erst nach und nach offenbart, ist, dass Franny eine äußerst bewegte Lebensgeschichte aufweist, dass sie nicht so ganz das ist, was sie zu sein scheint – und dass sie mit der Reise der Zugvögel auch eine ganz persönliche Mission verfolgt.

Selten hat mich Roman so in seinen Bann gezogen wie „Zugvögel“. Das Buch erinnert in mancherlei Hinsicht an Delia Owens „Der Gesang der Flusskrebse“: eine nicht alltägliche, sehr spezielle Frauenfigur mit einer ebenso wenig alltäglichen Lebensgeschichte, ein sehr naturbezogenes Setting, eine sehr berührende, eindringliche Sprache – das haben beide Romane gemeinsam. Und doch ist „Zugvögel“ bei aller Ähnlichkeit eine einzigartige und einzigartig erzählte Geschichte, der es gelingt, den Finger in die Wunde zu legen (Was tun wir nur unserem Planeten an?), ohne ihn dabei zu erheben, ohne aufdringlich missionieren zu wollen. „Zugvögel“ ist eine herzergreifende Geschichte mit großen Denkanstößen und aus meiner Sicht ein wahres Lesehighlight. Ach ja: Für das Ende empfehle ich, vorsichtshalber Taschentücher bereitzuhalten.

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Veröffentlicht am 08.09.2020

Solide (Krimi-)Unterhaltung

Abgrund
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Wenn es um gut erzählte, spannende (Krimi-)Unterhaltung geht, ist Yrsa Sigurdardóttir für mich immer eine sichere Bank. Ich mag ihre Krimireihe um Þóra Guðmundsdóttir ebenso sehr wie ihre Island-Krimis, ...

Wenn es um gut erzählte, spannende (Krimi-)Unterhaltung geht, ist Yrsa Sigurdardóttir für mich immer eine sichere Bank. Ich mag ihre Krimireihe um Þóra Guðmundsdóttir ebenso sehr wie ihre Island-Krimis, die keiner Reihe zuzuordnen sind. Sie hat ein Talent für lebensnahe Figuren, verblüffende Auflösungen und natürlich für ganz viel „Island-Feeling“.

„Abgrund“ (aus dem Isländischen von Tina Flecken), der vierte Band der Krimireihe um den Kommissar Huldar und die Psychologin Freyia, bildet da keine Ausnahme. Im aktuellen Fall gibt ein merkwürdiger Todesfall der Kripo Reykjavik Rätsel auf. Der vermögende Investmentbanker Helgi wird erhängt in einem Lavafeld – ehedem eine Hinrichtungsstätte – aufgefunden. In seiner Brust steckt ein Zimmermannsnagel, der eine leider abgerissene Nachricht fixierte. Zur gleichen Zeit wird Freyia zu einem Notfall gerufen. In einer Luxuswohnung in einem exklusiven Wohnhaus wird ein kleiner Junge gefunden. Wie er dorthin gelangt ist, weiß er nicht, wo seine Eltern sind, auch nicht. Das Brisanteste ist jedoch die Wohnung: sie gehört dem toten Helgi …

„Abgrund“ ist sicherlich kein spannungsgeladener Pageturner wie etwa die Thriller von Sebastian Fitzek, dessen Lektüre seine LeserInnen atemlos von Cliffhanger zu Cliffhanger treibt. Yrsa Sigurdardóttir lässt sich Zeit, die Geschichte, die hinter dem mysteriösen Mordfall und das noch mysteriösere Auffinden des kleinen Jungen aufzurollen und auszuerzählen. Der Spannungsbogen ist eher subtil, gleichwohl stetig. Und die Hintergründe der Tat sowie die Auflösung sind in der Tat verblüffend.

Fazit: „Abgrund“ ist ein solider, unterhaltsamer Krimi, perfekt für einen Sonntag auf der Couch.

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Veröffentlicht am 04.09.2020

ein surreale Reise (ohne Rückfahrschein)

Ein Tag zu lang
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Was passiert eigentlich in und mit den vielen Urlaubsorten, wenn wir TouristInnen wieder weg sind? Gehören sie dann wieder den Einheimischen? Was machen sie dort, wenn wir nicht mehr da sind? Ist das Leben ...

Was passiert eigentlich in und mit den vielen Urlaubsorten, wenn wir TouristInnen wieder weg sind? Gehören sie dann wieder den Einheimischen? Was machen sie dort, wenn wir nicht mehr da sind? Ist das Leben ein anderes als in der Hochsaison? Wäre es nicht spannend, einfach mal länger zu bleiben und zu schauen, was passiert?

Nun, wenn man der Geschichte glaubt, die Marie NDiaye in „Ein Tag zu lang“ (aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer) erzählt, sollte man Ansinnen dieser Art tunlichst unterlassen. Der Protagonist Herman, Lehrer aus Paris, verpasst die pünktliche Abreise aus seinem Ferienort in der französischen Provinz. Anstatt sich wie üblich am 31. August auf den Rückweg zu begeben, bleibt er einen Tag zu lang – seine Frau und sein Sohn sind verschwunden, eine Heimreise ohne die beiden ist selbstverständlich undenkbar. Ein Tag zu lang – und das Wetter ändert sich schlagartig. Ein Tag zu lang – und der vertraut gewordene Ferienort ist Herman gänzlich fremd. Ein Tag zu lang – und seine Mitmenschen scheinen wie ausgewechselt. Ein Tag zu lang – und die Welt ist eine andere.

„Ein Tag zu lang“ ist eine buchstäblich fantastische Reise hinter die Kulissen und Fassaden der Ferientraumwelt: teils grotesk, teils surreal, maximal lesenswert.

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Veröffentlicht am 02.09.2020

Eine bezaubernde Reise in faszinierende Landschaften

Nachts im Wald
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Ich glaube, jeder Mensch hat eine Landschaft, der er sich in irgendeiner Weise besonders verbunden fühlt. Für die einen sind es die Berge, für andere das Meer. Bei mir ist es eindeutig der Wald. Wald – ...

Ich glaube, jeder Mensch hat eine Landschaft, der er sich in irgendeiner Weise besonders verbunden fühlt. Für die einen sind es die Berge, für andere das Meer. Bei mir ist es eindeutig der Wald. Wald – das ist für mich ein Ort der Ruhe, ein Ort des Friedens. Der Ort, an dem ich durchatmen kann, an dem ich den Alltag, bisweilen auch die Welt vergesse. Wann immer ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht – ein, zwei Stunden im Wald, und ich bin klarer, bewusster, zufriedener: Wenn ich aus dem Wald komme, bin ich eine andere als die, die in ihn hineingegangen ist.
Etwas ganz Besonderes ist der Wald – da wird mir jeder „Waldmensch“ zustimmen – in der Nacht. Die Geräusche sind andere. Das (schwindende oder fehlende) Licht sowieso. Nachts im Wald scheint alles möglich, alles denkbar zu sein. Gruselig? Vielleicht auch, ja. Aber auch sehr, sehr inspirierend, wenn man sich darauf einlässt.

Der neueste Bildband des renommierten Landschaftsfotografen Kilian Schönberg widmet sich eben dieser faszinierenden Landschaft. Die verträumten, beeindruckenden, betörenden Fotos mit Titeln wie „Gespensterwald an der Ostsee“ oder „Nebelfall“ sind nicht nur wunderschön anzusehen, sie rühren an etwas, das tief verborgen scheint. Die Bilder werden flankiert von sehr persönlichen Texten Schönbergers zur Entstehung der Fotos, zu den damit verbundenen Gedanken und Gefühlen.

Der Wald als Ort der Abenteuer, der Wald als Ort der Sehnsucht, vielleicht auch als Landschaft der Seele – wem dieses Gefühl nicht fremd ist, der wird an „Nachts im Wald“ mindestens ebenso große Freude haben wie ich.

P. S. Aufgrund seines handlichen Formats (ca. 17 x 19 cm) ist dieses Buch auch als Urlaubsbegleiter (Waldwandern?) geeignet.

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Veröffentlicht am 31.08.2020

Ein atmosphärischer Krimi, perfekt für einen Herbstabend auf der Couch

Die Tinktur des Todes
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Edinburgh, Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Medizinstudent Will Raven kann sein Glück kaum fassen: Er hat eine Stelle als „Famulus“, als Assistent des renommierten Arztes Dr. Simpson erhalten – Kost und ...

Edinburgh, Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Medizinstudent Will Raven kann sein Glück kaum fassen: Er hat eine Stelle als „Famulus“, als Assistent des renommierten Arztes Dr. Simpson erhalten – Kost und Logis inklusive. Damit kann er nicht nur seinem heruntergekommenen Zimmer entkommen, sondern auch den Häschern eines nicht für seine Zimperlichkeit bekannten Unterweltbosses, dem Will eine Menge Geld schuldet. In dem lebendigen, unkonventionellen Haushalt der Simpsons, zu dem erstaunlich viele Mitglieder zählen, lernt Will nicht nur eine ihm bis dato fremde – und bisweilen etwas kuriose – Lebensweise kennen (Versuche mit neuartigen Betäubungsmitteln unternimmt man gerne mal an sich selbst), sondern auch das kecke und kluge Hausmädchen Sarah.
Sein neues Leben wird indes von einer ebenso brutalen wie rätselhaften Mordserie an jungen Frauen überschattet; eines der Opfer kannte Will sehr, sehr gut und er setzt alles daran, den Mörder dingfest zu machen. Unversehens befindet Will sich in einem Strudel aus privaten Mordermittlungen, medizinischem Studium, beruflicher Rivalität, Verfolgung und – ja, auch erwachender Gefühle und der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

„Die Tinktur des Todes“ ist ein spannender, unglaublich atmosphärischer Roman, der das viktorianische Zeitalter mit all seinen Facetten wiederauferstehen lässt. Die lebendige Figurenzeichnung, der Hintergrund aus rasant fortschreitender medizinischer Forschung einerseits und der an Jack the Ripper erinnernden Mordserie andererseits machen die Lektüre zu einem großen Vergnügen. Das perfekte Buch für einen Herbstabend auf der Couch!

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