Profilbild von dr_y_schauch

dr_y_schauch

Lesejury Profi
offline

dr_y_schauch ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dr_y_schauch über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.12.2020

eine gruselig realitätsnahe Dystopie

Die F*ck-it-Liste
0

Nein, bei Frank Brill läuft es alles andere als gut: Der Ruhestand bekommt dem ehemaligen Zeitungsredakteur nicht im Geringsten. Von zwei seiner Ehefrauen ist er geschieden, die dritte ist tot, und seine ...

Nein, bei Frank Brill läuft es alles andere als gut: Der Ruhestand bekommt dem ehemaligen Zeitungsredakteur nicht im Geringsten. Von zwei seiner Ehefrauen ist er geschieden, die dritte ist tot, und seine beiden Kinder hat er auch verloren. Überdies erhält er die niederschmetternde Diagnose, er habe Krebs im Endstadium. Was nun? Nach jedem Strohhalm greifen, alle medizinischen Möglichkeiten ausnutzen, um sein Leben so lange wie möglich zu verlängern? Verzweifeln, resignieren und gar nichts tun? Frank entscheidet sich für eine dritte Option: Er erstellt eine „Fck-it-Liste“ mit alle jenen, die er direkt oder indirekt für sein desaströses Leben verantwortlich macht. Und diese fünf Personen wird er nun aufsuchen, eine nach der anderen, und Rache üben.
Frank macht sich auf zu einem todbringenden Roadtrip quer durch die USA – und die Schilderungen dieser Nation sind es, die aus meiner Sicht den größten, eigentlichen Reiz dieses Romans ausmachen. Wir befinden uns nämlich in sehr naher Zukunft; Donald Trump hat zwei Amtszeiten hinter sich gebracht (und blickt dankt seiner vierten Gattin, der achtundzwanzigjährigen Chrystal neuen Vaterfreuden entgegen), nun regiert Ivanka als neue Präsidentin, die von ihrem Vater bereits rechtzeitig als Madam Vice President installiert wurde, um dann nahtlos die Regentschaft zu übernehmen. Fast unnötig zu erwähnen, dass eine ihrer ersten Amtshandlungen in einer Generalamnestie für ihren Dad bestand. Jetzt ist sie nicht nur Präsidentin, sondern auch eine geschäftstüchtige Modedesignerin, deren Entwürfe problemlos über die Website des Weißen Hauses bezogen werden können. Die Polizeigewalt kennt kaum noch Grenzen, der Rassismus grassiert noch arger und die NRA sorgt für ihre Bürger
innen, indem Waffen noch leichter zu besorgen sind als jemals zuvor. Dabei wird er unwissentlich von dem stiernackigen Polizisten Chops verfolgt, der zwar ein ausgemachter Hinterwäldler ist, aber einer mit Prinzipien. Und dazu gehört, Frank zu fassen. Um jeden Preis.

Laut Klappentext ist der Roman „einerseits politische Satire, andererseits ein gnadenloser Thriller“, beide Genres sind zweifellos nicht von der Hand zu weisen. Und doch greifen sie für mich zu kurz, denn „Die F*ck-it-Liste“ ist weit mehr als das. Das Buch schildert gleichzeitig eine Art Dystopie, der allerdings das „Puh, wie gut, dass es in Wirklichkeit anders ist“-Erleichterungsmoment fehlt. John Niven schildert sprachlich gewohnt spitz, klug und süffisant (aus dem Englischen von Stephan Glietsch) ein Amerika, das zwar in einer dystopischen Zukunft liegt, das andererseits aber nur allzu nah an dem ist, was alles hätte kommen können (und was noch längst nicht überwunden ist). Mich überlief während der Lektüre so manches Mal eine Gänsehaut und nur allzu oft blieb mir das ironische Lachen im Hals stecken. Trotzdem oder gerade deswegen eine sehr lohnenswerte Lektüre!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.12.2020

Herrlich rotzig

Die juten Sitten - Goldene Zwanziger. Dreckige Wahrheiten
0

Berlin, 1927. Die achtjährige Hedi wächst bei ihrer Großmutter Minna auf. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn – ja, wenn Minna nicht ein etwas heruntergekommenes Bordell nebst angeschmuddelter Schankstube ...

Berlin, 1927. Die achtjährige Hedi wächst bei ihrer Großmutter Minna auf. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn – ja, wenn Minna nicht ein etwas heruntergekommenes Bordell nebst angeschmuddelter Schankstube betriebe. Und so weiß die Achtjährige schon in ihrem zarten Alter richtig Bescheid: über das, was in den Stuben von Colette, der schönsten Hure Berlins, die von Paris träumt, und von Natalia, der russischstämmigen Domina so läuft. Über Kupplergesetze und Schnaps. Über das berüchtigte „Frühstückselixier“, das den Kopf so herrlich wattig macht. Über Strichjungen und Gigolos. Es ist wahrlich nicht die passendste Welt für ein Kind – aber es ist Hedis Welt, und die will sie unter keinen Umständen missen.
Los Angeles, 1954. Aus der kleinen Hedi ist eine berühmte Hollywood-Schauspielerin geworden: wunderschön, begehrt, gefeiert – und im Knast. Der unwiderlegbare Vorwurf lautet Mord. Hedi beschließt, dem braven, ein wenig unbedarften Journalisten Noah Goldenblatt ihre Geschichte zu erzählen und warum sie letztlich nicht anders enden konnte.

„Die juten Sitten“ von Anna Basener ist ein im allerbesten Sinne rotziger, wunderbar schamloser Roman über einen Mikrokosmos im Berlin der – vermeintlich – goldenen Zwanzigerjahre. Wo Volker Kutscher gar nicht erst hin- und „Babylon Berlin“ letztlich ein wenig verschämt wegsieht, darauf hält Anna Basener den Fokus mit aller Schärfe: optisch, plastisch, sprachlich. Hier wird nicht lange drum herumgeredet, hier wird das Kind – oder vielmehr der Körperteil und der Akt – unmissverständlich beim Namen genannt. Das ist bisweilen krass, zweifelsohne frivol, doch vor allem erfrischend deutlich und überaus unterhaltsam. Eine große Leseempfehlung für alle, die sich in die Zwanzigerjahre flüchten wollen und keine Berührungsängste haben.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.11.2020

Frostige Spannung

Frostgrab
0

Zehn Jahre ist es her, dass die Ich-Erzählerin Milla ihre früheren Freunde zum letzten Mal gesehen hat. Damals waren sie ebenso talentierte wie vielversprechende Snowboarder: jung, ehrgeizig, auf dem Weg ...

Zehn Jahre ist es her, dass die Ich-Erzählerin Milla ihre früheren Freunde zum letzten Mal gesehen hat. Damals waren sie ebenso talentierte wie vielversprechende Snowboarder: jung, ehrgeizig, auf dem Weg zu sportlichem Weltruhm. Doch ihr Überschwang nahm seinerzeit ein jähes Ende, als eine von ihnen spurlos verschwand.
Jetzt sehen sie sich zum ersten Mal seitdem wieder: in einer einsam gelegenen Lodge auf einem Gipfel in den französischen Alpen. Was zunächst wie eine vorsichtige Wiederannäherung, ein zwangloses Wiedersehen scheint, entpuppt sich schnell als tödliches Psychospiel. Ihre Handys verschwinden plötzlich, die Seilbahn steht still, es ist frostig kalt und sie sind auf sich alleingestellt. Bald schon verdächtigt jeder jeden: Wem kann Milla trauen? Wer trachtet ihr und den anderen nach dem Leben? Und wer weiß, was damals, vor zehn Jahren, wirklich geschehen ist?

„Frostgrab“ (übersetzt von Jürgen Bürger), das Romandebüt der ehemaligen Profi-Snowboarderin Allie Reynolds, ist ein eiskaltes Kammerspiel, das sehr schnell Spannung aufbaut. Die Story wird auf zwei Zeitebenen erzählt, wobei die Ereignisse der Vergangenheit denen der Gegenwart in nichts nachstehen. Insbesondere Snowboarder*innen dürften an den Beschreibungen der Wettkämpfe und des Trainings ihre Freude haben, doch auch ich als bekennende Nicht-Wintersportlerin habe mich hervorragend darauf einlassen können – um ehrlich zu sein, habe ich mir einige der erwähnten Sprünge und Loops sogar auf YouTube angesehen. Was mich allerdings ein wenig enttäuscht hat, ist das Ende, das mir persönlich dann doch etwas zu schnell „abgehandelt“ wurde. Nichtsdestotrotz ist „Frostgrab“ ein frostig-kalter und durchgängig spannender Thriller, den ich durchaus empfehlen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.11.2020

Spannende Unterhaltung

Ohne Schuld
0

Wenn es um solide und spannende Unterhaltung geht, ist Charlotte Link für mich immer eine sichere Wahl. Ihr neuester Roman bildet da keine Ausnahme. „Ohne Schuld“ ist – nach „Die Betrogene“ und „Die Suche“ ...

Wenn es um solide und spannende Unterhaltung geht, ist Charlotte Link für mich immer eine sichere Wahl. Ihr neuester Roman bildet da keine Ausnahme. „Ohne Schuld“ ist – nach „Die Betrogene“ und „Die Suche“ – der nunmehr dritte Band mit der verschlossenen Detective Sergeant Kate Linville und dem zerrissenen DCI Caleb Hale.

Kate hat Scotland Yard und London den Rücken gekehrt, um künftig mit Caleb als neuem Chef in Scarborough zu arbeiten. Doch ihr Start gestaltet sich gänzlich anders als geplant. Auf einer Zugfahrt wird Kate unvermittelt Zeugin eines Anschlags auf eine Mitreisende: Ein junger Mann schießt auf die unscheinbare Frau – gezielt und ohne jeden Zweifel mit der Absicht, sie zu töten. Kate kann die Frau retten, der Täter entkommt indes. Nur wenig später wird ein weiterer Anschlag auf eine äußerst beliebte junge Lehrerin verübt. Sie steht in keinerlei Verbindung zu der Frau aus dem Zug, doch die Waffe, mit der auf sie geschossen wird, ist dieselbe … der Täter auch? Kates nahezu untrüglicher Instinkt ist geweckt und sie beginnt zu ermitteln – wenngleich unter gänzlich anderen Umständen, als sie dachte.

Ein lange zurückliegendes Verbrechen, das plötzlich an die Oberfläche drängt: Charlotte Link versteht es auch in diesem Roman vortrefflich, zwei Zeitebenen miteinander zu verweben und langsam eine Tragödie zu entrollen, deren gesamtes Ausmaß sich erst zum Ende hin offenbart. „Ohne Schuld“ ist ein Kriminalroman, an dem nicht nur eingefleischte Charlotte-Link-Fans ihre Freude haben dürften.

Auch wenn es sich bereits um den dritten Band der Kate-Linville-Romane handelt, ist das Buch auch ohne Kenntnisse der vorherigen Ereignisse sehr gut lesbar. Es wird zwar gelegentlich Rekurs auf die Vergangenheit genommen, allerdings nur sehr punktuell und ohne jeden Spoiler.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.11.2020

berückend und rätselhaft

Andrin
0

Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, ...

Es ist eine kapitale Schaffenskrise, die die Protagonistin und Ich-Erzählerin Susanne, ihres Zeichens Schriftstellerin und Ghostwriterin, gerade heimsucht: Die Arbeit an der Biografie des Großindustriellen, die zu schreiben ihr aufgetragen wurde, stockt; sie findet einfach keinen Zugang, weder zu dem Leben, noch zu der Person des literarisch zu Porträtierenden. Ihr Verleger hat die Idee: Susanne soll sich in sein Appartement in Italien zurückziehen: Ruhe, Entspannung, Blick aufs Meer – dann fließt auch wieder die Kreativität. Statt in Italien strandet Susanne indes in Voglweh, einem verborgenen, ja, verfallenen Bergdorf. Die einzigen zwei Bewohner der winzigen Siedlung, der ältere, überaus vielseitig begabte Andrin und seine Frau Uta, nehmen Susanne mit offenen Armen auf. Und was zunächst als kurzer Aufenthalt gedacht ist, dauert an und an und an. Ja, die verlassene Siedlung, die ewig drohenden Steinlawinen, das warmherzige Ehepaar und die grotesk üppige Vegetation werfen bei ihr Fragen auf – doch Susanne schiebt sie beiseite. Je mehr Zeit sie in Voglweh verbringt, umso mehr verliert sie sich bereitwillig in dem gleichmäßigen Rhythmus aus körperlicher Arbeit, fantastischem Essen, wohltuender Gesellschaft und tiefem Schlaf … doch wie lange kann dieses entrückte Leben realistischerweise andauern?

„Andrin“ ist ein faszinierender Roman, der wie ein Vexierbild mit der Realität und dem Alltag, wie wir sie kennen, spielt. Während der Lektüre fühlte ich mich vielfach an Marlen Haushofers „Die Wand“, Raphaela Edelbauers „Das flüssige Land“ und zum Teil auch an Ewald Arenz‘ „Alte Sorten“ erinnert. Doch trotz – oder gerade wegen – dieser Reminiszenzen, entfaltet „Andrin“ ein ganz eigenes, gefangennehmendes Erzähluniversum: Ein weitestgehend autarkes Leben fernab des hektischen Alltäglichen, das ausschließlich den eigenen und den Naturgesetzen folgt und in einer beinahe realitätsenthobenen, naturverbundenen Parallelwelt stattfindet – was Susanne erlebt, war für mich als Leserin zugleich irritierend und enigmatisch, bestrickend und verheißungsvoll.

Mein einziger – allerdings, wie ich einräumen muss, sehr, sehr subjektiver – Kritikpunkt ist der an einigen Stellen etwas zu umgangssprachliche und ein wenig flapsige Erzählstil. Doch das ist ausschließlich meinem persönlichen Geschmack geschuldet, denn er passt, das muss ich betonen, durchaus zu der recht burschikosen Ich- Erzählerin und tut der Erzählung keinerlei Abbruch.

Ich habe diesen Roman ausgesprochen gern gelesen und
empfehle ihn ebenso ausgesprochen gerne weiter.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere