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Veröffentlicht am 11.06.2023

Ein Porträt aus Einsamkeit und flüchtigem Glück

Schmales Land
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Ein Roman, der es vermag, wie ein Gemälde Licht und Schatten eines Sommers, einer Ehe und einer außergewöhnlichen Freundschaft einzufangen – ein Gemälde aus Worten. Ein Porträt aus Einsamkeit und flüchtigem ...

Ein Roman, der es vermag, wie ein Gemälde Licht und Schatten eines Sommers, einer Ehe und einer außergewöhnlichen Freundschaft einzufangen – ein Gemälde aus Worten. Ein Porträt aus Einsamkeit und flüchtigem Glück.

1950 Michael, ein Waisenjunge aus Deutschland, wird von seinen Adoptiveltern in New York im Sommer nach Cape Cod geschickt. Er soll ein paar unbeschwerte Wochen bei Mrs Kaplan, der Adoptivvermittlerin verbringen und ihrem Enkel Richie Gesellschaft leisten. Noch immer verstört und traumatisiert von seinen Kriegserlebnissen zieht er sich lieber zurück, statt mit dem etwa gleichaltrigen Ritchie zu spielen. Auch er hat seinen Vater im Krieg verloren und nur noch Umgang mit Erwachsenen, was seiner Mutter Sorgen bereitet.

Dann lernt Michael Mrs Aitch kennen. Die Hoppers, die im Roman nach den Initialen nur Mr und Mrs Aitch genannt werden, reiben sich aneinander auf. Er findet nicht mehr die richtige Inspiration, sie ist seit Jahren frustriert, im Schatten ihres erfolgreichen Mannes zu stehen. Während er oft stundenlang auf der Suche nach Motiven ist, und unter seiner schwindenden Kreativität leidet, wird sie von der Leere und Einsamkeit erdrückt. Sie treibt ihn an, streitet und lässt ihren Unmut an anderen Menschen aus.

Zwischen Mrs Aitch und Michael entspinnt sich eine zarte Freundschaft, woraus beide Momente des Glücks schöpfen und ihrer Einsamkeit entfliehen.

Hickey hat hier keinen klassischen Künstlerroman geschrieben, sondern sich nur einer Phase Hoppers bedient, die geprägt ist von einer Schaffenskrise und einer kritischen Ehesituation. Außerdem wird multiperspektivisch erzählt, so dass Michaels Situation gleichrangig präsent ist. So viel zur Einordnung.
Man sollte hier aber auch kein leichtes Sommerbuch erwarten, weil die Geschichte durchaus etwas düsteres, belastendes hat. Neid, Unzufriedenheit und die Auswirkungen des Krieges sind stets spürbar, auch wenn die Kaplans sich mit einer groß inszenierten Party von all dem ablenken wollen. Das Fehlen der Männer ist allgegenwärtig. In ihrer Verlorenheit gehen Michael, Richie und Mrs Aitch unterschiedliche Wege, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das hat Hickey hier hervorragend eingefangen und lässt die 50er mit ihrer bildlichen Sprache lebendig werden.

Letztlich bin ich mir nicht ganz sicher, worauf Hickey in ihrem Roman den Fokus legte. Es ist zum einen ein Porträt einer schwierigen Phase in der Ehe der Hoppers, wobei es mir vorkam, dass Edward sehr ruhig am Rand stand. Zum anderen ist es ein Versuch, die Nachkriegszeit der Amerikaner zu zeigen, die zu der Zeit bereits wieder in Korea einmarschieren, aber die alten Verluste noch nicht verarbeitet haben. Das alles sind aber Überlegungen, die ich erst im Nachhinein angestellt habe, weil ich mir das Ende etwas klarer und stärker gewünscht hätte. Trotzdem kann ich das Buch wärmstens empfehlen, weil mich die Charaktere doch sehr berührt und noch eine ganze Weile beschäftig haben.

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Veröffentlicht am 08.06.2023

Ein dunkles Zeitalter wird wieder lebendig

Gestern, im Jahr 634
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»Der Wagen ruckt, schüttelt sie, nimmt Fahrt auf. Lasst mich nicht hier mit Pest und Teufeln! Nehmt mich um Gottes Willen mit!, schreit Montana, Ermengundis sieht sie laufen, das Kleid mit beiden Händen ...

»Der Wagen ruckt, schüttelt sie, nimmt Fahrt auf. Lasst mich nicht hier mit Pest und Teufeln! Nehmt mich um Gottes Willen mit!, schreit Montana, Ermengundis sieht sie laufen, das Kleid mit beiden Händen angehoben, die straken Beine entblößt bis zu den Schenkeln, rennt sie hinter ihnen her. Wir schicken einen Arzt!, ruft Oda zu ihr hin und dreht sich um, So wir einen finden, murmelt sie. Mit einem Klagelaut, ähnlich dem Brüllen eier Kuh, die nach verlorenen Kälbern schreit, bleibt Montana stehen – im Schatten eines Hauses, das vorgestern verlassen wurde. Montana wird die Letzte sein, die in dieser Straße lebt, wenn ihre Mutter stirbt.« S.15

Einer der außergewöhnlichsten historischen Romane, den ich je gelesen habe. Die Autorin hat sich eine spannende Zeit ausgesucht, über die es nur wenige Aufzeichnungen gibt, das 7. Jahrhundert, die Herrschaftszeit der Merowinger. Ein dunkles Zeitalter, die Römer sind Vergangenheit, die Germanen erstarkten, Karl der Große ist noch Zukunft. In ihrem fiktiven Roman, der zwischen Metz, Trier, Verdun und Frankfurt spielt, verwebt sie gekonnt reale Fakten.
634 – Der Diakon Adalgisel Grimo diktiert sein Testament, das älteste Dokument des frühen Mittelalters, das nur noch in einer Abschrift aus dem 10. Jhd. erhalten ist. Die Autorin erzählt ausgehend vom Jahr 600 die spannende Geschichte um die Familie Grimos. Als Kind muss er mit seiner Tante Oda und seiner Schwester Ermengundis vor der Pest in die Königsstadt Metz fliehen. Da sie privilegierten Verhältnissen entstammen, genießen sie eine klösterliche Ausbildung. In vielen kleinen Episoden erfahren wir von der brutalen, harten Zeit, die geprägt war von Kriegen, Königsmorden und der Vorherrschaft der Christen. Noch herrscht viel Aberglaube in den Köpfen der Menschen, die alten Götter existieren neben dem christlichen Glauben.

»Der Herr-Gott kann sich nicht um alles kümmern, sagt sie, glaubt mir, Ermengundis, man muss die bitten, die zuständig sind.« S.184

Während Grimo als Diakon seine Berufung findet, hadert seine Schwester zunehmend mit diesem Leben und wünscht sich sehnlichst ein Kind und einen Mann. Obwohl auch sie Diakonin ist und nur an den einen Gott glaubt, findet sie es nicht verwerflich, diesen Wunsch an die alten Götter zu richten.
Im Zeitraffer zeichnet die Autorin nun das Leben der Kinder bis 698 nach, eine Zeit, in der auch die Alamannen ins Geschehen eingreifen. Das führt sie schließlich zu einem Kindergrab, das heute im Frankfurter Dom zu finden ist.

Das Beeindruckendste an dem Roman ist sicher Kemmerzells Sprache, die im ersten Moment ungewohnt erscheint. Sie schafft eine perfekte Symbiose aus unauffälliger moderner Sprache und altertümlichen Begriffen, die sich mit all den wunderbaren Bildern zu einem wahren Echtzeiterlebnis zusammenfügt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, denn gerade für Frauen war das Leben hart. Tod, Vergewaltigung, Hunger und Krankheiten haben den Alltag bestimmt.

Im Anhang finden wir einen Merowiger-Stammbaum, Listen von historischen Personen und ein ausführliches Glossar, das mir beim Lesen sehr hilfreich war. Auch habe ich immer wieder gegoogelt, weil ich unbedingt mehr über manche Figuren erfahren wollte. Das Buch hat wirklich meine Neugier entfacht.
Ich spreche hier eine eindeutige Empfehlung aus für alle, die sich nicht nur geschichtlich interessieren, sondern auch eine Vorliebe für Sprache haben und rate daher, erst die Leseprobe zu lesen. Ich bin jedenfalls restlos begeistert.

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Veröffentlicht am 06.06.2023

Wie weit ist man bereit zu gehen für die, die man liebt?

Dunkelzeit
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1985 – Das Wochenende, an dem die Jagdsaison für Hirsche im ländlichen Nebraska beginnt. (Deer Saison, Originaltitel) Auch Hal geht mit seinen Freunden jagen, kommt aber mit einer Beule in seinem Pick-Up ...

1985 – Das Wochenende, an dem die Jagdsaison für Hirsche im ländlichen Nebraska beginnt. (Deer Saison, Originaltitel) Auch Hal geht mit seinen Freunden jagen, kommt aber mit einer Beule in seinem Pick-Up zurück und einer toten Hirschkuh, für die er keine Jagderlaubnis hatte.
Es ist auch das Konfirmationswochenende von Milo, dessen Schwester in der letzten Nacht anscheinend nicht nach Hause gekommen ist. Noch sind alle der Meinung, dass sie bald wieder auftauchen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich mit ihren Freunden betrunken hätte. Als sie nach zwei Tage immer noch nicht zurück ist, ist man im Dorf einhellig der Meinung, Hal hat sie getötet.
Hal ist geistig beeinträchtigt und oft Zielscheibe der Bewohner von Gunthrum. Alma und Clyle haben Hal vor einiger Zeit auf ihrer Farm angestellt und sorgen dafür, dass Hal ein relativ selbstbestimmtes Leben führen kann. Jetzt, wo er von allen öffentlich verurteilt wird, versucht Alma ihn nach Kräften zu verteidigen. Sie weiß, dass er nicht immer die Folgen seines Handelns abschätzen kann, aber sie kann sich nicht vorstellen, dass Hal etwas mit dem Verbrechen zu tun hat. Oder doch? Woher stammte die Beule an seinem Pick-up und das ganze Blut in seiner Wohnung?

Wir verfolgen die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ist Alma, die Schulbusfahrerin, die mit den Wechseljahren zu kämpfen hat, mürrisch ist und sich vom Leben betrogen fühlt. Weil ihre Ehe mit Clyle kinderlos blieb, kümmert sie sich um Hal wie um einen eigenen Sohn. Sie würde ihn mit ihrem Leben beschützen. Clyle hat derweil mit seiner Farm zu kämpfen, der Schweinestall ist sein Rückzugsort, wenn Alma ihm mal wieder auf die Nerven geht.

Und da wäre noch Milo, der aufgeweckte 12-Jährige, dem seit Jahren nichts in seinem Elternhaus entgeht, weil er nur zugern die Erwachsenen belauscht. Jetzt, wo seine Schwester verschwunden ist, reimt er sich das merkwürdige Verhalten der Erwachsenen zusammen und stellt Fragen.

Das Buch ist alles andere als ein gewöhnlicher Krimi, ich würde es auch eher als soziales Drama beschreiben, eine charakterbasierte Gesellschaftsstudie. Der Fall der vermissten Peggy steht nicht im Fokus und wir folgen auch keinen direkten Ermittlungen. Flanagan hat hier hervorragende Charaktere geschaffen. Wir bekommen tiefe Einblicke, wie es ist, in diesem Dorf ein Außenseiter zu sein. Alma lebt inzwischen 14 Jahre hier, obwohl sie nur für eine Saison ihrem Mann zuliebe herkam, ihren Job als Sozialarbeiterin aufgegeben hat und eigentlich zu gern ein Teil des Ortes zu sein. Doch der Frust in ihr ist über die Jahre übermächtig geworden und Hal scheint nun der einzige Fixpunkt neben ihren verdrängten Eheproblemen zu sein. Auch Milo ist auf seine Art anders. Er kann sich nahezu unsichtbar machen und interessiert sich mehr für die Probleme der Erwachsenen als für seine Freunde. Und bei Hal kann man sich nie sicher sein, wozu er fähig ist.
Wenn sich nach und nach alle Puzzlestücke zusammenfügen, bekommt man das komplette Bild einer komplizierten Beziehung der Bewohner von Gunthrum, ein Ort, den es wohl zu jeder Zeit überall gibt. Was das Buch somit auch zeitlos macht.

Außerdem mochte ich Flanagans Schreibstil, der voller wunderbarer zitierfähiger Sätze ist, dass ich manche Passagen zwei Mal gelesen habe.
Ich empfehle das Buch gern allen, die nicht auf vordergründige Spannung aus sind, sich dafür lieber von tiefgründigen Figuren begeistern lassen.

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Veröffentlicht am 05.06.2023

Unfassbar gut!

Gleich unter der Haut
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»Und was wünscht du dir vom Leben?«, frage ich.
»Weiß nicht. Tot sein vielleicht«, antwortet sie, und ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser. S.88

Es gibt Bücher, da weiß ich nach nur wenigen Absätzen, ...

»Und was wünscht du dir vom Leben?«, frage ich.
»Weiß nicht. Tot sein vielleicht«, antwortet sie, und ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser. S.88

Es gibt Bücher, da weiß ich nach nur wenigen Absätzen, dass sie mich ganz tief in meinem Inneren treffen werden. Ich schalte runter in den ersten Gang, lese keine Sätze, sondern lese jedes einzelne Wort, weil es genau an der Stelle steht, wo es hingehört. Und dieses Buch hat mich in meinen Sessel gepresst, hat von mir verlangt, jedes einzelne Wort zu spüren.
Ein schonungsloser Angriff auf meine Seele. Ich musste mich entscheiden, lasse ich es zu, dass mich die Geschichte berührt, oder schütze ich mich? Immer wieder legte ich das Buch weg, musste durchatmen, musste mich erden. Wollte ich wirklich wissen, wie es weitergeht? Nie lag ein Buch so schwer in meiner Hand. Was bitte ist das für ein grandioses Debüt?!

Das Buch spielt im Winter in Konstanz und wer diese einheitsgrauen Tage am See kennt, weiß, was das mit einem machen kann. Wir lernen Niklas kennen, der in der Trauer um seine Eltern feststeckt und sich um seine demenzkranke Oma kümmert. Seine Last, seine Überforderung, seine Einsamkeit waren von Beginn an spürbar. In einer nebelverhangenen Nacht lernt er Lou kennen und verliebt sich in sie. Auch Lou kämpft mit ihren Dämonen, ihren Erinnerungen, die sie aber mit Niklas nicht teilen möchte. Zwei einsame, verletze Seelen, traumatisiert, in sich selbst gefangen. Können sie sich Halt geben? Niklas Schwester, die ihre Trauer unter Essstörungen begräbt, warnt ihn, dass Lou ihm nicht guttut.

Die moderne griechische Tragödie: die Suche nach dem Sinn des Lebens, die allgegenwärtige Todessehnsucht, Ausweglosigkeit, die auf eine unausweichliche Katastrophe zusteuert. Berthe Obermanns packt hier alles rein, Missbrauch, Selbstverletzung, nicht bewältigte Trauer, Verlust, Trauma, etc. Viel. Zu viel, dass man Niklas und Lou gern etwas davon abnehmen möchte.

Das Buch hat mich an schwere Zeiten in meinem Leben erinnert und noch jetzt beim Schreiben der Rezension habe ich einen Kloß im Hals und einen Knoten im Magen. Ja, das Buch ist schwere Kost und sicher nicht für jeden geeignet. Aber genauso fühlt es sich an, wenn die Welle über einem zusammenbricht. Wenn man sich zu jemanden hingezogen fühlt, aber immer wieder die Flucht ergreift, wenn Erinnerungen unaushaltbar sind, dass man die Flucht vor sich selbst ergreift.
Die Autorin hat hier sehr lebensnahe, tiefe ProtagonistInnen geschaffen, denen ich jedes Wort, jeden Gedanken abgenommen habe, deren Leid und Verzweiflung mich zutiefst berührt und zu Tränen gerührt haben. Sprachlich war das Buch aufs Wesentliche reduziert, was die Geschichte genaustens reflektiert hat, absolut perfekt. Ich habe lange nichts so gelungenes gelesen, kann es eigentlich kaum glauben, dass es ein Debüt ist. Muss ich noch sagen, dass ich dieses Highlight jedem ans Herz lege, der sich der Thematik gewachsen sieht?

Liebe Berthe Obermanns, ich ziehe meinen Hut vor dir, das war ganz großes Kino. Das Buch ist jetzt voller Post-Its, denn mit deinen Worten hast du mir aus der Seele geschrieben, Worte, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Vielen Dank dafür, auch wenn ich jetzt wahrscheinlich nie mehr unbefangen über die Rheinbrücke laufen kann. Denn:

»… manchmal, in bestimmten Momenten, wünschte ich, mein Kopf würde auch eine Auswahl treffen, aussortieren, einen festen Kokon um all die Gedanken und Erinnerungen spinnen, die ich nicht haben möchte, sie darin festzurren, ihnen jede Bewegungsmöglichkeit nehmen. Aber er tut es nicht, mein Kopf, so sehr ich mich auch bemühe, er vergisst nicht.« S.77

Und noch ein Zitat, das für immer bleibt:
„Wenn es am Ende keine Erinnerungen gibt oder nur schlechte, gab es kein Leben.“ S.64

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Veröffentlicht am 01.06.2023

Das Sterben einer Stadt

Mohawk
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»Der Pool, dessen Wasser mittlerweile abgelassen wurde, ist ein klaffender Betonschlund … ein paar trockene Blätter treiben raschelnd in der Nähe des Abflusses. Er sieht ihnen bei ihrem Tanz zu und wie ...

»Der Pool, dessen Wasser mittlerweile abgelassen wurde, ist ein klaffender Betonschlund … ein paar trockene Blätter treiben raschelnd in der Nähe des Abflusses. Er sieht ihnen bei ihrem Tanz zu und wie sie an den türkisen Längsseiten des Pools entlangstreichen, ehe sie wieder zurückgleiten, um auf einen neuen Windstoß zu warten.« S.160

So ungefähr fühlt sich das Leben 1967 in Mohawk, der kleinen Stadt im Norden des Bundesstaates New York an. Bröckelnde Fassaden der mühsam vom Mund abgesparten Häuser, geschlossene Gerbereien, die einst nur wenig Wohlstand aber viele Träume in die Kleinstadt brachten. Man sieht den anderen mit neidischen oder bemitleidenden Blicken zu, gefangen im eigenen Unvermögen, ihr zu entkommen. Ein halbherziges Aufbäumen, dann lässt man sich wieder treiben – mit der Eintönigkeit, mit der Zeit, mit dem vorbestimmten Schicksal. Bis erneut ein Windstoß alles für einen Moment durcheinanderbringt.

Russo hat mich mit seiner Art zu erzählen von Anfang an begeistert, voller Witz und bitterer Ironie. Kein Wunder, wenn er einem Atemzug mit Irving genannt hat. Mit viel Liebe zum Detail entwickelt er ein kluges Gesellschaftsporträt einer Kleinstadt, die langsam verfällt. Das bisschen Aufschwung zahlen sie heute mit einer erhöhten Krebsrate. Doch die Menschen haben sich arrangiert, will man aus dem Alltag ausbrechen, geht man zum Glückspiel oder ein paar Drinks in Harrys Grill.

„Dann borgte er sich von Harry einen Fünfziger und gesellte sich zu der Spielrunde im oberen Stock. Die anderen Spieler waren ausschließlich Familienväter, die genug von ihren Familien hatten und vom Anblick der Truthahnkarkasse offenbar furchtbar deprimiert waren.“ S.177

Eine der zentralen Figuren ist Mather Grouse, der rechtschaffene, ehrliche Familienvater, der nie trank, wettete oder spielte. Auch hielt er sich aus den krummen Machenschaften in der Fabrik raus. Daher wird er über die Jahre zum Außenseiter.

„Warum verkündeten sie bei jeder Gelegenheit, Mohawk sei die Hauptstadt der Lederindustrie, und ermutigten neue Arbeiter, sich hier anzusiedeln, wo doch alle wüssten, dass auch so schon nicht genug Arbeit für alle da sei? Diese Leute fliesten ihre Pools mit dem Schweiß und der Arbeitsmoral von Männern wie Marther Grouse.“ S.241

Doch Marther hat Träume für seine Tochter Anne und ermutigt sie früh, mit ihrem Leben etwas Besseres anzustellen. Anne jedoch ist zurückgekehrt mit ihrem Sohn Randall, kümmert sich um ihren schwerkranken Vater, kann aber in den Augen ihrer Mutter Mrs Grouse nichts richtig machen. Mrs Grouse und ihre alte zänkische Schwester Milly sind für mich zwei hervorragende, kauzige Figuren, wenig sympathisch aber herrlich gezeichnet.
Dann wären da noch … ach was, das überlassen wir lieber Russo, seine Figuren vorzustellen. Denn das macht er wirklich bravourös. Ich habe sie alle vor Augen gehabt, sie geliebt, gehasst, Verständnis entwickelt oder mit ihnen mitgelitten. Ihre Frustration und Resignation war stets greifbar, lebt doch keiner das Leben, das er sich erträumt hat. Was bis zum Ende bleibt, ist die Hoffnung, es möge alles gutgehen.

Mohawk ist hauptsächlich ein Roman über die beiden Familie Grouse und Gaffney über drei Generationen und sechs Jahre hinweg. Die leise Spannung entsteht allein dadurch, dass Russo uns die Verbindungen der Charaktere untereinander erst nach und nach aufdeckt. Mohawk ist voll von liebenswerten Versagern, die sich durchs Leben treiben lassen. Und aus dem leichten Windhauch wird am Ende ein ausgewachsener Orkan, der die ständig schwelende Fehde eskalieren lässt.
Russo bedient sich dem etwas antiquierten allwissenden Erzählers, was ich für sehr gelungen empfand. Obwohl die Geschichte zwischen 69 und 71 spielt, gibt es nur wenige zeitlich einzuordnende Detail, was das Buch somit zu einem zeitlosen Lesevergnügen werden lässt.

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