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Veröffentlicht am 12.03.2023

Meisterhafter Thriller über die Dekadenz und Gräueltaten der Nazis

Die marmornen Träume
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In seinem historischen Thriller begleiten wir drei Protagonisten durchs Dritte Reich kurz vor Kriegsbeginn. Simon Kraus, ein brillanter Psychotherapeut und Traumforscher, genießt alle Annehmlichkeiten, ...

In seinem historischen Thriller begleiten wir drei Protagonisten durchs Dritte Reich kurz vor Kriegsbeginn. Simon Kraus, ein brillanter Psychotherapeut und Traumforscher, genießt alle Annehmlichkeiten, die er kriegen kann. Er hat keine Skrupel, sich in einer Wohnung von enteigneten Juden mondän einzurichten. Ein Gigolo, der sich mit seinen Patientinnen einlässt, die allesamt die Ehefrauen hochrangiger Nazis sind. Und genau damit erpresst er sie.
Franz Beewen, Hauptsturmführer bei der Gestapo, ein Schläger, zerfressen von Hass, will um jeden Preis an die Kriegsfront, muss aber die Morde einiger Frauen aufklären, die grausam verstümmelt wurden. Ausgerechnet die Frauen, mit denen Kraus ein Verhältnis hatte. Alle hatten von dem Marmormann geträumt.
Minna von Hassel, die Leiterin der psychiatrischen Anstalt in Brangbo, in der Beewens Vater dahinvegetiert. Sie muss mit ansehen, wie ihre Klinik abgefackelt wird, weils sich die Deutschen aller Geisteskranken entledigen wollen.
Zusammen versuchen die drei, den Mörder ausfindig zu machen und geraten immer tiefer in die Maschinerie der Nazis. Im Laufe der Geschichte erleben sie, dass ihr vermeintlich sicheres Leben am seidenen Faden hängt.

Wer Grangé liest, weiß, dass man sich auf gewisse Längen einstellen muss. Er geht immer wieder ins Detail, auch bei seinen grausamen Morden. Ein paar Kürzungen hätten hier aber sicher nicht geschadet. Dafür hat er mit seinen Figuren umso mehr geglänzt, die zu Beginn reichlich unsympathisch sind, sich im Laufe der Geschichte aber immer mehr dem Leser von ihrer wahren, verletzlichen Seite zeigen. Mit Berlin als Schauplatz stürzt Grangé die Leser mitten ins Herz des Nationalsozialismus und zeichnet einige schaurige Szenen.

Er vermag es, die Stimmung, die zu Kriegsbeginn herrschte, gut einzufangen. Ob nun die grausamen Taten, die abartige Ideologie der Nazis oder die verbreitete Meinung, der Krieg sei eh bald vorbei. Zum Beispiel die Damen der hochrangigen Nazis, die jeden Nachmittag ausgelassen im Adlon feiern und sich einen Dreck scheren, was um sie herum passiert.
Grangé erspart uns keine Einzelheiten, wenn es um den Umgang mit Roma, Geisteskranken, Homosexuellen oder Juden – also den sogenannten Untermenschen – geht. Immer wieder untermauert er die fiktiven Handlungen mit historischen Fakten. Nach und nach offenbart sich die Tiefe der Geschichte ebenso wie die Ängste der Protagonisten, die sich hinter deren Fassade verstecken.

Im Gegensatz zu seinen anderen Thrillern fehlte mir der mystische Moment, der für Grangé so typisch ist. Aufgrund des historischen Hintergrunds kann ich mir aber vorstellen, dass das Buch auch die Leser erreichen wird, die Grangé noch nicht kennen.

Zum Teil habe ich auch mit der Übersetzung gehadert, die nicht immer flüssig zu lesen war. Ich brauchte lange, bis ich mich darauf einstellen konnte. Ungebräuchliche Fremdwörter, ein paar niveaulose Ausdrücke, die nicht ganz zu der Figur passte, machten das ganze etwas sperrig. Doch irgendwann war der Sog der Geschichte so groß, dass ich drüber hinwegsehen konnte. Es war fast wie eine Spirale, die mich immer tiefer ins Dunkel der damaligen Zeit zog.

Um so mehr war ich begeistert von den zahlreichen Wendungen, die die Geschichte nahm. Auf den letzten 100 Seiten hat Grangé mich dann nicht mehr vom Haken gelassen und mich mit seiner Auflösung einmal mehr überrascht.

Grangé zählt zu Recht zu den größten Thrillerautoren Frankreichs und ist von den Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Ein Autor, dem eindeutig mehr Aufmerksamkeit in Deutschland geschenkt werden sollte.

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Mühlheide vs. Kasachstan

Sibir
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Leilas Vater erkrankt langsam an Demenz und kann sich nur noch an wenig erinnern. Jetzt ist es an ihr, seine und ihre Geschichte aufzuschreiben.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie ...

Leilas Vater erkrankt langsam an Demenz und kann sich nur noch an wenig erinnern. Jetzt ist es an ihr, seine und ihre Geschichte aufzuschreiben.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie aus dem Wartheland nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wird. Unterwegs stirbt nicht nur sein kleiner Bruder, auch seine Mutter verschwindet spurlos während eines Schneesturms. Das Dorf Nowa Karlowka, in dem sie sich nicht mit anderen Deutschen treffen dürfen, ihre Sprache nicht mehr sprechen dürfen, ist ein zusammengewürfelter Haufen verschiedener Nationen, die in der Steppe ums Überleben kämpfen. Immer wieder flieht Josef zu seinem Freund Tachawi, der in einem kasachischen Dorf lebt. Um seine Sprache nicht zu vergessen, sammelt er Wörter auf kleinen Tontafeln, deutsche, russische und kasachische.
Auf der 2. Handlungsebene folgen wir Leila 1990/91, wo ihre Familie mit anderen Aussiedlern am Stadtrand lebt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion strömen weitere deutsche Aussiedler in ihren Ort, die sich bevorzugt bei den Ambachers einfinden. Josef fühlt sich von seiner Vergangenheit eingeholt und Leila steht zwischen den Welten und versucht zu vermitteln.

Die Autorin hat mich emotional erreicht mit den vielen kleinen Szenen in Kasachstan, die mir zeigten, was Josef für ein Kind war, wie groß die Entbehrungen und der Hunger waren. Als zum Beispiel Josef auf der Zugfahrt Strohsterne bastelt, sie hinauswirft, um später den Heimweg wieder zu finden. Welches Unrecht die Sowjets auch den Kasachen angetan haben, dass man schon für Kleinigkeiten in einem gefürchteten Gulag landen konnte. Hier hatte ich tatsächlich das Gefühl, Erlebtes lebendig erzählt zu bekommen. Was wäre das für eine großartige Geschichte geworden.

Vertreibung, Gefangenschaft, Rückkehr in ein Deutschland, das aber keine Heimat ist. Die gesellschaftliche Problematik, wenn Aussiedler lieber unter sich bleiben, die Ausgrenzung von den »Normalos«, wie Leila es nennt. Da wir aber die 2. Zeitebene aus Leilas kindlicher Ich-Perspektive mit zu vielen Alltäglichkeiten erleben, hat mich die Autorin nicht ganz erreichen können. Für mich war Josef die interessantere Figur, die aber unter Leilas Schilderungen unterging. Da wir von beiden auch jeweils nur ein Jahr erleben, hinterließ bei mir den Eindruck einer unvollendeten Skizze. Josefs Kindheitsschilderung wird zudem mitten im Kapitel abgebrochen mit einem kurzen Abschnitt, dass aufgrund der Verhandlungen von Adenauer und Chruschtschow die deutschen Gefangenen das Land nun verlasse dürfen.

Sprachlich war es gut lesbar, so dass ich mich gut unterhalten fühlte. Sicher hat die Autorin auch gut recherchiert und einige biografische Details in die Geschichte einfließen lassen, was zu vermuten ist, wenn man sich ihre Vita ansieht. Alles in allem ein Buch, das bestimmt viele Leser:innen begeistern wird. Für mein Gefühl hätten beide Geschichten als eigenständiges Buch eine tiefere Wirkung gehabt. Hier ist viel Potenzial auf der Strecke geblieben, viel nur an der Oberfläche.

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Ein traugig schönes Debüt

Der Inselmann
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»Es ist so kalt, dass selbst der Wind fror.« S. 7

Ich mag es, wenn erste Sätze ein Versprechen abgeben, das sie bis zur letzten Seite einhalten, sich übertreffen, sich hinterfragen, mich einhüllen, mich ...

»Es ist so kalt, dass selbst der Wind fror.« S. 7

Ich mag es, wenn erste Sätze ein Versprechen abgeben, das sie bis zur letzten Seite einhalten, sich übertreffen, sich hinterfragen, mich einhüllen, mich leiten, mich entschleunigen und berühren.

Hans ist ein stiller Junge, frierend und geduldig harrt er am Ufer aus, wartet mit seinen Eltern auf den Kahn, der sie auf eine einsame Insel bringen soll. Mit ihren wenigen Habseligkeiten wollen sie weg aus der Stadt. Eine Art Flucht vor dem Leben, den Menschen und der Wirklichkeit, eine Flucht nach innen. Und Hans weiß, dass nun alles besser wird. Das neue Leben ist hart und entbehrungsreich, doch Hans ist glücklich. Er fühlt sich als König der Insel, über die er oft stundenlang streift. Zapfen, Scherben und Blätter sind seine Schätze. Hier kann er sein, der er ist.
Doch das unbekümmerte Leben endet, als die Schulbehörde ihn von der Insel holen lässt. Kurz darauf landet er auf der »Burg«, einem Heim für schwererziehbare Kinder.

Von seinem Direktor heißt es:
»Er sprach mit hoher, rauer Stimme, es klang wie ein Draht, der gegen einen Balken schnarrt. Seine Augen waren ausgeschnitten aus einer Zeitung voller schlechter Nachrichten.« S. 111

Was ihn durchhalten lässt, ist sein Wunsch, auf seine Insel zurückkehren zu können. Doch seine Odyssee hat gerade erst begonnen.

Was für ein Buch!
Reduziert auf das Wesentliche und doch emotional so tiefgehend und aufwühlend. Hans’ Geschichte ist von Beginn an drückend, sagt er doch, dass er seine Eltern mehr liebe als sie ihn. Als Leser möchte man ihn in den Arm nehmen, wenn seine Mitschüler ihn mobben, seine Eltern in Sprachlosigkeit versinken.

Hans zeigt immer wieder Stärke, Empathie und trotzt schon fast dem Leben, das es nicht immer gut mit ihm meint. Aber nicht nur Hans’ Schicksal hat mich berührt, sondern auch Gieselmanns Worte – poetisch, bildhaft, leise, zärtlich und voller Melancholie, bisweilen philosophisch. Immer wieder habe ich Pausen eingelegt, um einen Satz oder einen Abschnitt ein zweites Mal zu lesen, oder ein drittes, ein viertes Mal. Auf der letzten Seite hatte ich das Bedürfnis, das Buch nochmals von vorn zu beginnen.

»Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, in ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?« S. 23

Zeitlich wird das Buch Ende der 60er Jahre zugeordnet, örtlich aber nur »in einem entlegenen Ort Deutschlands«. Darüber lässt sich insofern spekulieren, dass das Individuum und die Freiheit des Einzelnen sich einer Gesellschaftskonformität unterzuordnen haben. Auf jeden Fall schafft die intensive Atmosphäre viel Raum für eigene Gedanken. Mit seinem Debüt hat Gieselmann einen literarischen Fußabdruck hinterlassen.

Am Ende blieb ein Moment der Stille, der Nachdenklichkeit. Haben wir nicht alle manchmal den Wunsch nach Einsamkeit, nach einer Flucht aus der Realität?

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Thriller -Kriegepos - Liebesgeschichte

Fünf Winter
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Wäre Joe McGrady an dem Tag Ende November 1941 nicht ans Telefon gegangen, wäre sicher alles ganz anders gekommen. Diese Überlegung wird McGrady noch viele Jahre durch den Kopf gehen.
Als Detectiv beim ...

Wäre Joe McGrady an dem Tag Ende November 1941 nicht ans Telefon gegangen, wäre sicher alles ganz anders gekommen. Diese Überlegung wird McGrady noch viele Jahre durch den Kopf gehen.
Als Detectiv beim Honolulu PD muss bei seinem ersten Mordfall den Tod zweier junger Menschen aufklären. McGrady ist ein Militärveteran, kein Einheimischer und somit der Außenseiter im Department und muss sich seine Anerkennung erst verdienen. Doch der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem Toten um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte Kimmel handelt. Wer jedoch die tote Japanerin ist, die ebenfalls schwer misshandelt wurde, weiß niemand.
Schnell ist man einem gewissen John Smith auf der Spur, der auf seiner Flucht nach Hongkong weiter Leichen zurücklässt. Der Fall soll eingestellt werden, doch Kimmel macht Druck, sodass McGrady Smith nach reist. McGrady hofft, bis Weihnachten wieder bei seiner Freundin Molly zu sein, die er aufrichtig liebt. Doch der Eingriff Japans in den 2. Weltkrieg mit dem Angriff auf Pearl Harbor macht seine Pläne zunichte. In Hongkong wird er zunächst wegen einer angeblichen Vergewaltigung verhaftet. Während er in seiner Zelle schmort, übernehmen die Japaner Hongkong. Als angeblicher Spion wird er nach Japan gebracht. Takahashi Kansei, ein Diplomat, der gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, verhilft ihm zur Flucht. Ihm und seiner Tochter Suchi hat er es zu verdanken, dass er überlebt und nach Honolulu zurückkehren kann. Allerdings muss er dort die Suche nach dem Mörder als Privatdetektiv fortsetzen.

Fünf Winter ist ein klassischer Roman noir mit einem prototypischen hartgesottenen Helden. McGrady ist zynisch, aber prinzipientreu und ehrgeizig genug, um einen Fall fünf Jahre lang zu verfolgen. Es ist schwer, Joe McGrady nicht zu mögen.

MacGradys Suche nach dem Mörder wird sich, wie der Titel schon sagt, über den gesamten Verlauf des Krieges hinziehen. Der Krimis entwickelt sich somit zu einem Kriegsepos.
Trotz vieler detaillierter Beschreibungen langweilt Kestrel uns nicht mit historischen Fakten, sondern stellt die einzelnen Figuren, deren Motivation zum Handeln und Schicksale in den Vordergrund verbunden mit der traumatischen Auswirkungen des Krieges. Er zeichnet kein Schwarz-Weiß-Bild, sondern zeigt, dass alle Seiten schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Auch seine Charaktere sind tiefgezeichnet und sorgen für einige Überraschungen.

Etwas skeptisch war ich, dass sich hier verschiedene Genre verbinden sollten – ein Thriller, Kriegsporträt und Liebesgeschichte. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ihm das meisterlich gelungen ist, ein komplexes, niveauvolles Hard-boiled-Epos zu kreieren, dem selbst Stephen King und Dennis Lehan Respekt zollen.
Die eingewobene melancholische, bittersüße Lovestory, die wir bis zum Ende verfolgen, gleitet nie ins Kitschige ab.

Es ist eine Geschichte von Mut und Einsamkeit, von Liebe und den dramatischen Auswirkungen eines Krieges. »Five Decembers« wurde 2022 mit dem Edgar Award für den besten Krimi des Jahres ausgezeichnet.

Einen kleinen Kritikpunkt habe ich allerdings. Die Übersetzung hält sich in manchen Teilen sehr an den englischen Satzaufbau, was das Leseerlebnis etwas störte. Das ist aber sicher mein persönliches Empfinden.

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