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Veröffentlicht am 20.03.2024

Zeit, Zeitreisen und totale Überwachung

Das andere Tal
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Vor der 16-jährigen, schüchternen Odile liegen große Veränderungen, sie muss sich im letzten Schuljahr für einen Beruf entscheiden. Auf den ersten Blick gleicht Odiles Welt unserer, doch das Tal, in dem ...

Vor der 16-jährigen, schüchternen Odile liegen große Veränderungen, sie muss sich im letzten Schuljahr für einen Beruf entscheiden. Auf den ersten Blick gleicht Odiles Welt unserer, doch das Tal, in dem sie lebt, gibt es hinter den Bergen im Osten und Westen noch ein Mal, nur leben dort die gleichen Menschen 20 Jahre in der Vergangenheit oder in der Zukunft.
Odiles Welt gerät an dem Tag durcheinander, als sie in den maskierten Besuchern aus einem anderen Tal die Eltern ihres besten Freundes Edme erkennt, und nun weiß, dass ihm etwas zustoßen wird. Doch die Regeln sind kompliziert und streng in ihrer Welt und ziehen oft harte Strafen nach sich. Erst nach und nach lernt sie verstehen, was die Konsequenzen sind, denn auf den Wunsch ihrer Mutter hin, hat sie sich beim Conseil beworben, einer Art Gremium, das zum einen die Menschen überwacht, aber auch Anträge bearbeitet, wenn man Angehörige nach deren Tod noch einmal sehen möchte. Odiles Aussichten auf den Job sind gut. Was die Zukunft aber für sie wirklich bereit hält, erfahren wir im 2. Teil, 20 Jahre später.

Es ist ein interessantes Prämisse, der sich Howard in seinem Debüt widmet. Was wäre, wenn du in der Zukunft ein schlimmes Ereignis ungeschehen machen könntest? Würdest du es tun? Auch wenn du weißt, dass es verboten ist und weitreichende Veränderungen für alle nach sich zieht?
Immer wieder ein beliebtes Thema bei AutorInnen und Filmschaffenden. Und wahrscheinlich hat sich das auch jeder von uns schon mal gefragt. Mit seinen Gedankenspielen konnte er mich tatsächlich einfangen, sind es nicht zuletzt auch ethische und moralische Fragen, wenn man im Sinne einer Gemeinschaft handeln und entscheiden muss. Mich hat das Buch tatsächlich noch eine ganze Weile beschäftigt.

Aber unterm Strich fällt es mir schwer, das Buch eindeutig zu beurteilen. Bei Schreibstil, fand ich, war noch Luft nach oben, auch mit den Figuren konnte ich nicht so wirklich warm werden. Selbst Odile blieb mir als Ich-Erzählerin unnahbar. Zu Beginn des 2. Teils wurde es auch recht zäh, dass ich beinahe die Lust verloren hätte. Aber dafür konnte er mit einem schlüssigen und rasanten Ende punkten. Und auch wenn ich mich selten daran störe, so haben mich die fehlenden Anführungszeichen in den Dialogen diesmal beim Lesen erheblich beeinträchtigt.

Was aber sehr gelungen war und mich wesentlich mehr begeistert hat, ist die Darstellung einer Welt unter permanenter Überwachung. Eingeschränkte Entscheidungsmöglichkeiten, wenig Raum für Individualität und persönliche Freiheit; strenge Vorschriften, Bespitzelung und Manipulation. Nach dem Motto – sei Teil des Systems, dann hast du eine Chance, sonst bist du ein Fall fürs Abstellgleis. Fühlte sich für mich sehr nach DDR 2.0 an. Gerade im 2. Teil wurde die Atmosphäre bedrückend und trostlos.
Schlussendlich bleibe ich leider zwiegespalten zurück.

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Veröffentlicht am 18.03.2024

Mord im winterlichen Venedig

Die Medici-Morde
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Ausgerechnet zu Carnevale zieht man eine Leiche im Dogenkostüm aus einem Kanal in Venedig. Wo doch Kommissarin Valentina Fabbri behauptet:
»Die einzigen Morde, die wir hier kennen, sind die in den lächerlichen, ...

Ausgerechnet zu Carnevale zieht man eine Leiche im Dogenkostüm aus einem Kanal in Venedig. Wo doch Kommissarin Valentina Fabbri behauptet:
»Die einzigen Morde, die wir hier kennen, sind die in den lächerlichen, von Ausländern verfassten Krimis. Im realen Leben ist das undenkbar.« S.8
Bei dem Toten handelt es sich um Marmaduke Godolphin, einem bekannten, alten englischen Historiker, der in den letzten Jahren als populistischer Medienstar durchs Fernsehen tingelte, wobei er sich weniger der historischen Fakten bediente und eher eine Show abzog. Seinen zweifelhaften Ruhm nutzte er, um Frauen zum Sex zu nötigen und bei jeder Gelegenheit seine Freunde bloßzustellen und zu demütigen. Ein widerwärtiger Typ durch und durch.
Fabbri mangelt es nicht an Verdächtigen, allesamt Freunde und Familie Godolphins, doch sie möchte die Sache bis zum Abend erledigt haben. Dafür spannt sie Arnold Clover ein, einen pensionierten britischen Archivar, der seit kurzem in Venedig lebt. Gemeinsam mit seinem Freund Luca Volpetti wurden sie von Godolphin bezahlt, um zwei Dokumente im Nachlass eines Antiquars zu finden, von denen er behauptete, sie würden einschlagen wie eine Bombe – und natürlich seine inzwischen eingeschlafene TV-Karriere wieder ankurbeln. Der Inhalt ist tatsächlich schockierend, ausgerechnet einer der berühmtesten Renaissancekünstler soll in zwei Medici-Morde verwickelt sein. Muss man die Geschichte nun umschreiben? Clover, der knapp bei Kasse ist, nimmt den Auftrag an, bleibt aber skeptisch. Nun soll er der Kommissarin Bericht erstatten, was in den Tagen vor dem Mord vorgefallen ist.

Der Krimi ist eine gute Mischung zwischen Mystery und Whodunnit bei dem die Rätselfreunde sicher auf ihre Kosten kommen.

Hewson führt uns in seinem Krimi, der der Auftakt zu einer neuen Reihe ist, durch das winterliche Venedig zur Zeit des Carnevale. Gemeinsam mit dem Erzähler Clover durchstreifen wir zahllose Gassen, machen Halt in Bars abseits des Touristenrummels, genießen die italienische Küche und werfen einen Blick auf unzählige Kunstwerke. Das hat leider besonders in der Mitte zu einigen Längen geführt und war mir persönlich etwas zu viel. Aber das mag Geschmacksache sein.
Zweifellos spürt man Hewsons Liebe zu Venedig und dessen Geschichte, das hat er mir bereits letztes Jahr in »Garten der Engel« bewiesen. Und dass Venedig immer gut ist für Geheimnisse, wissen wir nicht erst seit Donna Leon. Hewson schafft es, historische Fakten mit Fiktion gut und spannend zu mischen, dass ich mich manchmal gefragt habe, was davon nun tatsächlich der Wahrheit entspricht.
Man mag sich hier aber bitte nicht an Dan Brown erinnert fühlen, denn dazu fehlte es hier trotz guter Recherche an einer tieferen Verbindung zu dem eigentlichen Mordfall, was ich etwas schade fand.
Gepunktet hat er bei mir vor allem mit den sympathischen und vielschichtigen Charakteren. Ich hatte durchaus Verständnis dafür, dass man einen Mann wie Godolphin am liebsten um die Ecke gebracht hätte.
Alles in allem ein solider, gut konstruierter Krimi für Rätselfreunde mit einigen guten Wendungen, einer Menge Fakten über Venedigs Geschichte und einem überraschenden Ende. Und die paar Längen halten mich nicht davon ab, mich auf den nächsten Fall und ein Wiedersehen mit Arnold Clover zu freuen.

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Veröffentlicht am 14.03.2024

Identitatssuche - eine Welt zwischen Deutschland und Kamrun

Issa
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In ihrem autofiktionalen Debüt erzählt die Frankfurter Autorin die Geschichte der schwangeren Issa, die sich auf dem Flug nach Kamerun befindet. Nicht ganz freiwillig kehrt sie in ihr Geburtsland zurück, ...

In ihrem autofiktionalen Debüt erzählt die Frankfurter Autorin die Geschichte der schwangeren Issa, die sich auf dem Flug nach Kamerun befindet. Nicht ganz freiwillig kehrt sie in ihr Geburtsland zurück, denn sie hat von einer gelben Schlange geträumt, ein schlechtes Omen, wie ihre Mutter meint. Und nun soll Issa sämtliche Rituale durchlaufen, damit sie ein gesundes Kind zu Welt bringt. Ganz ungelegen kommt das Issa nicht, denn sie braucht dringend etwas Abstand zu ihrem Leben und ihrer Beziehung. Scheinbar wissen es ja alle besser, was für sie gut ist: Ihr weißer Freund will sie sofort heiraten, ihre Mutter ist für eine Abtreibung und ihr Vater fühlt sich zu jung, um Opa zu werden. Begleitet von einer gehörigen Portion Skepsis, lässt sie sich von ihren Omas und Tanten durch die Rituale führen, begibt sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und ihrer eigenen Identität. Fühlt sie sich doch immer irgendwie zwischen den Welten – in Deutschland zu Schwarz, in Kamerun zu deutsch.

Wir springen von 2006 ins Jahr 1903 zurück zu Issas Ahnin Enanga. Es ist die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft. Enanga ist Wilhelm schutzlos ausgeliefert und wird mit 12 von ihm schwanger, was sowohl für sie als auch für ihre Mutter dramatische Konsequenzen hat. Auf diesem Erzählstrang folgen wir den Frauen der Familie, ihrem Kampf für Selbstbestimmung und gegen ihre strukturelle Rolle.

Die Themen auf den 304 Seiten sind vielfältig: Rassismus, Kolonialismus, Patriarchat, Polygamie, Zwangsehe, Gewalt an Frauen, Kindersterblichkeit. Das verlangt einem beim Lesen schon einiges ab.

Doch Mahn schafft hier einen mühelosen Spagat zu Issas Kapiteln, die oft humorvoll und mit erfrischender Leichtigkeit geschrieben sind. Eine meiner Lieblingsszenen ist, als ihr Onkel ihr auf dem Markt verbietet zu sprechen, denn dann würden ihm die Händler mit Sicherheit den dreifachen Preis abknöpfen. Was natürlich wieder zeigt, dass sie auch hier eine Fremde ist – die wohlhabende Deutsche, eine Bushfalla.

Ich hatte beim Lesen das Gefühl, immer mehr von den Zusammenhängen und Auswirkungen zu verstehen, die Entscheidungen und Handlungsweisen der Frauen nachvollziehen zu können. Manchmal brauchte es ihrerseits eine Menge Mut. Bei aller Gewalt und allem Leid, das ihnen widerfahren ist, haben sie immer wieder Kraft im Zusammenhalt gefunden.
Ich finde, Mahn hat hier einen sehr guten Blick auf die Historie aus rein weiblicher Sicht geworfen. Davon kann es nicht genug geben. Auch die kamerunische Kultur, die tief verwurzelte Spiritualität fand ich sehr interessant und aufschlussreich. Ein durchweg gelungenes Buch, das mich sehr berührt hat.

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Veröffentlicht am 12.03.2024

Die Geister der Vergangenheit

Der Retter
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1995 havariert vor den Nordseeinseln bei einem Sturm der Seeschlepper Pollux, zwei Seenotrettungsschiffe aus den Niederlanden und Deutschland können die Besatzung retten, nur der Kapitän Jacob Peiser bleibt ...

1995 havariert vor den Nordseeinseln bei einem Sturm der Seeschlepper Pollux, zwei Seenotrettungsschiffe aus den Niederlanden und Deutschland können die Besatzung retten, nur der Kapitän Jacob Peiser bleibt verschwunden. Bis heute, 2016, als in England die Überreste eines Skeletts mit einer Rettungsweste der Pollux gefunden wird. Die Identität des Toten zu bestimmen, überlässt Kommissar Liewe Cupido seinem neuen Partner Xander Rimbach und nutzt die Zeit lieber, um weiter über den Tod seines Vaters zu recherchieren, der vor vielen Jahren auf seinem Fischkutter über Bord ging und ertrank.
Doch Xander ist ein unbeholfener Frischling, der das schon bei seinem Vorstellungsgespräch unter Beweis stellt, indem er eine Kiste Wein vom süddeutschen Weingut seines Vaters mitbringt. Aber er ist ehrgeizig und versucht, auf Norderney die damaligen Besatzungsmitglieder des deutschen Rettungsschiffs ausfindig zu machen, stößt aber auf eine Mauer des Schweigens. Unbedarft wie er ist, weiß er nicht, wie die Inselbewohner ticken und ahnt nicht, dass er einem 40 Jahre alten Geheimnis auf der Spur ist. Als er dann auch noch mit einer Vergiftung im Krankenhaus landet, weiß Cupido, dass er eingreifen muss. Cupido, selbst in einer Fischerfamilie auf Texel großgeworden, kennt die Regeln: Was an Bord geschieht, bleibt an Bord. Und er kennt die Schwachstellen seines Gegners – der aber umgekehrt auch.

Es ist der 3. Teil um den eigensinnigen, wortkargen Kommissar, den alle den Holländer nennen (Teil 1 fehlt mir immer noch). Auch wenn er aufgrund seiner eigenbrötlerischen Art – schließlich taucht er gern mit seiner Hündin Vos im Büro auf, wenn er denn mal auftaucht – seinem Chef ein Dorn im Auge ist, hat er ein gutes Gespür für seine Landsleute, sowohl in den Niederlanden als auch in Cuxhaven. Er löst die Fälle auf seine Weise, am liebsten im Alleingang.

Doch die Dämonen aus seiner Vergangenheit lassen ihn nicht los, deshalb gönnt er sich keine Pause. Die Einzige, die erkennt, wie schlimm es wirklich um ihn steht und allmählich zu ihm durchdringen kann, ist Miriam, seine Nachbarin, die in seiner Abwesenheit auf Vos aufpasst.

Deens Bücher sind atmosphärisch dicht und beim Lesen weht einem eine steife Prise Wattenmeer um die Nase. Er ist nicht nur in seiner Recherche brillant, sondern auch ein richtig guter Erzähler, der mich als Leserin nicht mehr vom Haken gelassen hat. Er versteht seine Figuren mit viel Empathie zu zeichnen, streut auch etwas kühlen, trockenen Humor ein, der einen innerlich schmunzeln lässt. Was mir in Der Taucher bereits sehr gefallen hat, findet sich noch ausgefeilter wieder. Auch der Plot und die Erzählstruktur sind raffinierter.
Seine Krimis kommen sehr leise daher, und nicht umsonst Roman auf dem Cover, aber er erzeugt eine unterschwellige, ansteigende Spannung, wenn er uns immer mehr in die Vergangenheit der Charaktere blicken lässt, die er bis in alle Tiefen auszuloten weiß.
Schweigen und Schuld werden zu den Kernthemen im Buch. Man spürt beim Lesen regelrecht, warum die alten Seeleute nicht über die Vergangenheit reden wollen oder können, warum sie nicht als Helden gefeiert werden möchten. Trägt doch so mancher von ihnen ein düsteres Geheimnis in sich. Denn es gibt immer welche, die sie nicht retten konnten und nun als Geister in Köpfen herumspuken. Stellt sich da nicht die Frage, ob man hätte etwas anders machen können, ob man vielleicht doch Schuld hat. Auch Cupido fragt sich das nach all den Jahren, als er damals mit 16 seinen Vater verlor. Deen gibt dessen Geschichte nur bruchstückhaft preis. Ich bin also gespannt, ob sich Cupido im nächsten Buch endlich von seien Dämonen befreien kann.

Mich hat das Buch absolut begeistert – sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Cupido ist mir noch mehr ans Herz gewachsen und ich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen mit Xander, dem süddeutschen Dösbaddel.
Im Schutzumschlag befindet sich übrigens eine Karte der Nordseeküste, die sehr hilfreich ist, um beim Inselhopping nicht vom Kurs abzukommen.

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Veröffentlicht am 28.02.2024

Der Untergang Venedigs im Namen des Profits?

Acqua alta
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Mit einem düsteren Ereignis greift Autissier der Zukunft voraus – 2021 ist Venedig von einer Flutwelle zerstört worden.
Guido Malegatti hat das Unglück schwer verletzt überlebt und fährt Monate später ...

Mit einem düsteren Ereignis greift Autissier der Zukunft voraus – 2021 ist Venedig von einer Flutwelle zerstört worden.
Guido Malegatti hat das Unglück schwer verletzt überlebt und fährt Monate später mit einem Boot durch die zerstörte, menschenleere Stadt, vorbei an eingestürzten Palazzi, zertrümmerten Gondeln, die Seitenkanäle verstopfen, und einem Haufen Schrott, der einst der stolze Dogenpalast war. Er ist auf der Suche nach seiner Tochter, die seit dem Unglück verschwunden ist.
Zwei Jahre zuvor. Die Familie Malegatti liebt Venedig, jeder auf seine Weise. Guido, Sohn armer Bauern, hat es aus eigener Kraft geschafft, er ist erfolgreicher Bauunternehmer und Wirtschaftsrat im Stadtrat, hat Macht, Einfluss und Geld. Um die Brücken, Denkmäler und Kanäle instandzuhalten, will er noch mehr Touristen anlocken, noch mehr Mietwohnungen in Airbnbs umwandeln. Seine Frau Maria Alba entstammt der venezianischen Aristokratie, Venedig ist ihre einzige wahre Liebe und sie scheint teilnahmslos in der glanzvollen Vergangenheit verhaftet, ohne sich für die Nöte der Stadt zu interessieren. Ganz anders ihre Tochter Léa. Während des Architekturstudiums erkennt die Fragilität ihrer Stadt, die jedes Jahr um mehrere Millimeter sinkt. Sie erkennt aber auch, dass falsche politische Entscheidungen und fragwürdige Baumaßnahmen den Untergang beschleunigen. Als Umweltaktivistin macht sie auf die Probleme aufmerksam, will etwas verändern und überwirft sich mit ihrem Vater.

Autissier zeigt uns anhand vieler Fakten, wie schlimm es tatsächlich um die altersschwache, stolze Serenissima steht. Die Malgattis sind hier nur stellvertretend für die typischen Positionen, die wir Menschen im fortschreitenden Klimawandel einnehmen. Dass ihre Figuren dadurch sehr stereotyp geraten und Klischees bedienen, ist sicher der Kürze des Romans geschuldet.

Problematisch hingegen fand ich das Frauenbild, das sie zeichnet, ohne es zu reflektieren. Ich haderte auch immer wieder mit dem angestaubten auktorialen Erzähler. Was das Buch aber absolut lesenswert macht, sind die erschreckenden Fakten. Dieses einmalige sensible Ökosystem der Lagune, das Jahrhunderte lang funktionierte und nun in rasender Geschwindigkeit zerstört wird. Ob nun durch das umstrittene Flutsperrwerk MO.S.E., die verheerenden Folgen der Kreuzfahrtschiffe oder der schädliche Massentourismus und das damit anwachsende Müllproblem. Das alles beschleunigt den unausweichlichen Untergang Venedigs. Berechnungen von Wissenschaftlern zeigen, dass bereits Ende des Jahrhunderts die Stadt unter Wasser stehen wird. Das fühlt sich an, wie einem Menschen beim Sterben zuzuschauen.

Manche Bücher müssen literarisch nicht perfekt sein, können aber eine unvergessliche, berührende Wirkung haben – wenn man bereit ist, der Wahrheit endlich ins Auge zu blicken. Acqua Alta ist so ein Buch. Es schockiert, rüttelt wach, macht traurig, wütend und nachdenklich. Auch wenn sich Autissier jeder Wertung enthält, kommt man als Leser nicht umhin, mit sich zu ringen, will man anteilnahmslos zusehen, weiterhin Teil des schädlichen Massentourismus sein oder Teil der Lösung werden.
Ich habe viel recherchiert und einige Dokus dazu angeschaut. Mir war nicht bewusst, wie es um Venedig steht. Und es macht mich traurig, wie wir Menschen sehenden Auges die Stadt systematisch und wider besseren Wissens zerstören, statt sie für zukünftige Generationen zu bewahren.
Und das nächste Acqua Alta wird kommen – sehr bald sogar.

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