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Veröffentlicht am 16.07.2024

Eine Liebe gegen alle Widrigkeiten

Bevor wir uns vergessen
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Was, wenn eigentlich alles dagegenspricht, und es am Ende aber doch gelingt?

»Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen ...

Was, wenn eigentlich alles dagegenspricht, und es am Ende aber doch gelingt?

»Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen Hülle, die uns irreführt?« S.47

Habt ihr euch mal gefragt, wie es ist, ein Leben lang miteinander verheiratet zu sein, trotz aller Dramen, Enttäuschungen und Krisen? Schaut man gelegentlich zurück, was war eigentlich der Auslöser? Geht nicht jedem Ereignis ein anderes voraus?

Da sitzen sie nun, Alice und Jules, beide fast neunzig, in Paris im Jardin du Luxembourg. Gebrechlich, müde, versunken in ihrer eigenen Welt, in der sie bereits vieles vergessen haben. Eine jahrzehntelange Ehe liegt hinter ihnen, die Éliette Abécassis uns im Rückwärtsgang erzählt. Wir streifen vorbei an Momenten der Geschichte – der 11. September 2001, der Fall der Berliner Mauer, die Wahl von Francois Mitterrand, Mai 1968, der Algerienkrieg – die zu einem Echo des Zustands ihrer Ehe werden. Es sind nicht nur Momente des Glücks und der Zufriedenheit, es sind sechzig Jahre Auf und Ab, Träume und Enttäuschungen, Ideale und Zweifel, Ehebruch und Verrat.

Und doch ist die Liebe da, mit jedem Wort, in jeder Zeile. Wir graben uns rückwärts durch die Zeit, um am Ende einen Schatz zu heben – die Liebe, die unter all den Unwägbarkeiten verborgen liegt. Aber vielleicht war sie ja doch immer da? Nur sieht man sie nicht gleich auf den ersten Blick. Verschüttet vom Alltagstrott, von den Launen pubertierender Kinder, von der Erschöpfung zermürbender Routine und sexueller Unlust.

»Wie haben wir das nur gemacht?, denkt er. Trotz unserer gemeinsamer Herzen, trotz unserer Verirrungen, unserer Ausflüchte, unserer Leidenschaftlichkeit und unserer Schwächen, unserer kleinen Dramen und unserer großen Treulosigkeit. Wie haben wir es geschafft, uns in schwierigen Situationen zu ertragen und nach so vielen Jahren nicht voreinander zu fliehen?« S.46

Abécassis beweist ein weiteres Mal, wie präzise sie Beziehungen ausleuchten kann. Auf nur 173 Seiten spürt sie all die Momente auf, die dagegensprechen, dass die Liebe Bestand haben wird. Sie legt die Finger in die Wunden, zeigt die tiefen Narben. Bittersüß, zart und gewaltig zugleich. Die Kraft der Geschichte liegt in ihrer Banalität, ihrer Gewöhnlichkeit, in dem, was wir alle kennen. Die Liebe als Abenteuer in einer Zeit, wo man sich allzu schnell dazu hinreißen lässt, wegen Kleinigkeiten aufzugeben, hinzuschmeißen. Das Leben stellt uns täglich auf die Probe, wir machen Fehler, aber wir können auch verzeihen.

»Wir haben unser Leben gelebt, und wir werden es gemeinsam beenden, wenn unsere Freunde nicht mehr unsere Freunde sind, wenn unsere Kinder uns verlassen haben, um ihr eigenes Leben zu leben, und wenn wir allein zurückgeblieben sind. Vielleicht lässt uns unser Gedächtnis im Stich. Vielleicht verlieren wir unsere Sehkraft und unser Gehör, ebenso wie unsere Erinnerungen. Wir werden mit der Zeit immer verwirrter und können nicht mehr aufstehen, ohne hinzufallen. Und dann werden wir uns noch einmal kennenlernen wie am ersten Tag, als wir zusammen auf einer Bank im Jardin du Luxembourg saßen, vor fast fünfzig Jahren. Und ich werde glücklich sein, mein Leben mit dir verbracht zu haben, wie ein Mann, der liebt und der geliebt wurde.« S.60

Ich klappe das Buch zu, denke nach, lass Abécassis’ Worte wirken. Was bleibt nach dieser Geschichte? Die Erkenntnis, dass man im Augenblick leben soll, dass das Leben vergeht wie ein Wimpernschlag in der Zeit, dass nur eins zählt – die Liebe.
Ich blättere zurück, lese noch einmal, wie am Anfang alles endet, und denke mir: was, wenn alles dagegenspricht, und es am Ende doch gelingt!

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Veröffentlicht am 25.06.2024

Nachdenkliches Gedankenexperiment

Das Spiel des Tauchers
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Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive ...

Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive Zukunft, die nach unermesslichen Flüchtlingsströmen eine neue Form des Zusammenlebens angenommen hat.

Es gibt nur noch zwei Gruppen von Menschen – Pats und Quads. Pats sind die eigentlichen Staatsbürger, die befugt sind Gasmasken und Gaskartuschen zu tragen. Die das Recht haben, Quads – wann und wo immer sie ihnen begegnen – zu töten, ohne Konsequenzen. Als Gefängnisse nicht mehr ausreichten, schuf man bewachte Quadranten, in denen die Quads – die Geflüchteten – frei leben dürfen. Allerdings sind das rechtsfreie Räume – für jeden, der sich dort aufhält. Quads werden nach ihrer Ankunft markiert, ihnen wird eine rote Mütze auf die Wange tätowiert und der rechte Daumen abgeschlagen. Irgendwie muss man sie ja auseinanderhalten. Wie diese Welt funktioniert, erfahren wir von einem Lehrer, zu dessen Schülerinnen auch Lethe und Lois gehören. Mit ihnen wird er später noch einen Zoo besuchen. Allerdings gibt es dort nur noch einen altersschwachen Hasen, denn in der zukünftigen Welt sind bis auf Insekten alle Tiere ausgestorben.

Das Buch gliedert sich in 3 Abschnitte, die eigentlich 4 Kurzgeschichten sind, an losen Fäden miteinander verbunden. Während sich die erste Geschichte »Ogias-Tag« wirklich verstörend liest, bricht sie vor dem eigentlichen Ereignis ab, dem Tag, an dem alle Schulden verfallen, aber auch Verbindlichkeiten wie ein Arbeitsverhältnis oder eine Ehe. Jesse lässt auch die beiden folgenden Geschichten in der Luft hängen. Was mich zunächst unbefriedigt zurückgelassen hat, entwickelte sich in den folgenden Tagen zu interessanten Gedankenspielen.

Balls Idee fußt auf den Auswüchsen der aktuellen Flüchtlingspolitik der USA, dem Abhandenkommen von Empathie und Moral; auf Ausgrenzung und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.
Der Verfall der Moral gipfelt im Buch in einer neuen Definition von Gewalt, die genau betrachtet nun keine Gewalt mehr ist. Wie sehr sich die indoktrinierten Moralvorstellungen und Gleichgültigkeit bereits in den Kindern etabliert haben, zeigt Ball in drei der Geschichten. Lethe (ein Synonym der griechischen Mythologie für den Fluss des Vergessens der Vergangenheit?) ist schon fast gelangweilt von dem Vortrag ihres Lehrers und interessiert sich nicht für die ausgestorbenen Tiere. Oder das Spektakel einer Kinder-Infantin, die über Schuld und Unschuld entscheiden darf. Es symbolisiert quasi die Rechtlosigkeit der Quads, die als wiederkehrendes kulturelles Ereignis öffentlich ad absurdem zur Schau gestellt wird.
Oder auch in der titelgebenden Geschichte, die einem Initiationsritual gleicht und durch die Gleichgültigkeit der Kinder mit dem Tod eines Jungen endet.
Ball inszeniert hier an drei Charakteren die Entmenschlichung durch die fehlende Moral. Das ist nicht nur brutal, sondern auch wirklich traurig und schmerzhaft zugleich.
Erst die letzte Geschichte, der Brief einer Frau, die einen Quad getötet hat, beginnt die vorherrschende Gesinnung infrage zu stellen.

»Ein solcher Mann ist nicht wegen etwas gestorben, das er tat, sondern weil er war, wer er ist.« S.233

»Entweder ist es falsch, dass es sich nur um Gewalt handelt, wenn sich gleich gegen gleich wendet, oder es ist falsch anzunehmen, dass sie uns nicht gleichen. Es ist mir egal, was es ist; ich bin davon überzeugt, das eines von beiden wahr ist.« S. 242

Ein absolut unbequemes, radikales Buch, das aber von Seite 1 an von einer enormen unterschwelligen Spannung profitiert, dass man förmlich mitgerissen wird. Nicht zuletzt auch von dem Kniff, dass der auktoriale Erzähler uns hin und wieder direkt anspricht und uns somit an unsere Verantwortung, unseren Egoismus, unsere Gier erinnert.
Im Literarischen vielleicht etwas experimentell, auf das man sich einlassen muss, das aber einen tiefen Nachhall hinterlässt. Trotzdem hätte mich sehr interessiert, was an diesem ominösen Ogia-Tag passiert ist.

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Veröffentlicht am 23.05.2024

Unaufgeregt, leise aber intensiv

Was ich zurückließ
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»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung ...

»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13

In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung in Dinslaken auf, das Verhältnis zu den Eltern ist herzlich, sie ermöglichen ihm alles, was in ihrer Macht steht. In einzelnen Episoden entsteht in mir ein klares Bild seiner Kindheit: ein gemeinsames Essen im Möbelhaus, weil man Werbecoupons hat, ein Blick auf das Preisschild, das entscheidet, ob man ein Teil gut finden kann. Allmählich mischen sich die Sichtweisen anderer ein, ein Mitschüler, der Otts Wohngegend als assi bezeichnet, offener Spott für Deichmannschuhe.
Er lernt schmerzhaft, was es heißt, anders zu sein, als ungenügend betrachtet zu werden, und erfährt Ausgrenzung. Scham, Verleugnung, Anpassung führen zunehmend zu Orientierungslosigkeit, Entfremdung und dem unbedingten Willen, dieses Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Was folgt, ist ein Weg des Scheiterns, des immer wieder Neuorientierens, eine Suche nach sich selbst, die noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig analysiert er, wie es zum Bruch mit seinen Eltern kam, gesteht seine Mitschuld ein und sucht eine Aussöhnung.

»Erst später sollte ich erkennen, dass die Beziehung, die ich zu euch habe, ein Spiegelbild der Beziehung ist, die ich zu mir selbst habe.« S.122

Auf gerade mal 125 Seiten gelingt es Ott, all das in leise Worte zu fassen, die trotzdem einer Detonation gleichkommen. Die beim Lesen betroffen machen, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnern. Die unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gerade in einer Zeit, wo der Ton in unserer Gesellschaft wieder rauer wird, braucht es diese Art von Klassenliteratur. Die Medien sind durchtränkt von der Darstellung von Idealen, die eine Welt vorgaukeln, die erstrebenswert sein soll. Die berühmte Möhre vor der Nase.

Ott nennt es gesellschaftliche Gewalt. Es sind die Wertvorstellungen einer anderen Schicht, die für allgemeingültig erklärt werden, Privilegien, die die Arbeiterklasse nicht hat, Geld, Status, Beziehungen. Ott jammert nicht, wenn er neben seinem Studium mehr arbeiten muss, als er letztlich im Hörsaal sitzen kann. Es geht aber um die Abbildung von Realität, das Nichtleugnen von Klassenunterschieden.

Nach der Lektüre standen bei mir noch immer viele Fragezeichen im Kopf. Was ist Klassenliteratur? Wodurch kennzeichnet sich autosoziobiografisches Schreiben? Begriffe, die ich nicht kannte. Nach stundenlanger Recherche war ich schlauer und las das Buch gleich ein zweites Mal – mein Blick war wesentlich schärfer. Nun fiel mir auch auf, wie on-Point seine Sätze sind, wie viel Verletzlichkeit dahintersteckt, wie schonungslos seine Selbstreflexion ist. Wie viel Mut es bedarf, seine unverblümten Gedanken der Ablehnung zu gestehen.

Aber kann man seine Klasse hinter sich lassen? Gibt es ein Ankommen oder auch ein Dazwischen?

»Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber mittlerweile schäme ich mich dafür, euch verleugnet zu haben. Ich schäme mich für meine Scham.« S.99

Ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr berührt hat.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Familienchronik und Kriegsdrama

Saturnin
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»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, ...

»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, kauft aber stattdessen ständig Ohrstöpsel und tröstet sich mit Süßigkeiten. Sein Traum, Profisportler im Gewichtheben zu werden, ist längst geplatzt. Fast widerwillig kehrt er in sein Heimatdorf zurück, als seine Mutter Hania ihn anruft, dass sein Großvater Tadeusz verschwunden sei.

Małecki entblättert die Geschichte der Familie Markiewicz, über der ein bedrückendes Schweigen liegt, das jeder für sich mit etwas auszufüllen gelernt hat. Die Mutter mit Wörtern, der Großvater mit Arbeit und der kleine Saturnin mit Träumen und Selbstzweifeln.
Vieles in seinem Leben bleibt Saturnin lange ein Rätsel, woher sein bescheuerter Name kommt, wieso sein Vater in den entscheidenden Momenten abwesend ist. Er hadert mit seinen Sommersprossen, mit seiner Unfähigkeit, Frauen anzusprechen, mit seinem Hang, sich ständig zu überfressen.
Hania weiß das Schweigen zu füllen und klebt Wörter um sich, durch die sich Saturnin auf der Suche nach der eigentlichen Information hindurchwühlen muss.
Seine Mutter leide an »Satzlosigkeit, an fehlenden Punkten und anderen Satzzeichen«.

»Sie überschüttet mich mit Wörtern, und es ist unmöglich, diejenigen herauszufischen, die sie wirklich sagen will, denn sie sind mit dem ganzen Rest vermischt, mit all den Ausstopfwörtern, die ihr, seit sie denken kann, dazu dienen, sämtliche Ritzen und Risse zu schließen, all das, was sie nicht sehen will.« S.29

Dann endlich bricht der Großvater sein Schweigen. Die Erinnerung an den Krieg kehren zurück, an seine tote Schwester Irka, über die er nicht spricht. An Dinge, die er getan hat, die er wie seine Trompete am liebsten im Wald vergraben hätte.

Eine äußerst bewegende Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Träume, Scham, Trauer und Verlust, die von ihrer Zartheit lebt, von virtuos komponierten Sätze, durchzogen von Zeitschleifen. Małecki spielt mit den schriftstellerischen Möglichkeiten, wechselt die Perspektiven, die Erzählform, streut einen Hauch magischen Realismus ein, weiß zu überraschen – vor allem mit seinem allerletzten Satz. Spannung schwebt über all dem, wie ein leichter Wind, der über die polnische Landschaft streicht. Doch die Molltöne der Melancholie schälen sich durch. Kriegstraumata, Tote, die auf seltsame Weise noch zwischen den Lebenden hängen und sich in dem Schweigen festgesetzt haben. Das transgenerationale Trauma der Sprachlosigkeit. Das Trauma eines ganzen Landes.

»… kurz danach ziehen die Polen wieder ein, beladen mit den Erlebnissen der Vertreibung. … Schöne Sätze von Krieg, Mut und Freiheit, er hätte Lust, sie alle zu sammeln und in den Ofen zu werfen.« S.248

Małeckis Geschichten tröpfeln in die Seele, wärmen, versöhnen und richten sich ein, um zu bleiben. Er ist aufrichtig, unverblümt mit seinen bodenständigen Figuren, die so wenig heldenhaft sind, wie polnisches Ackerland sehenswert ist. In denen wir unsere eigene Verzweiflung und Ängste entdecken können. Die Vergangenheit klebt an ihnen wie die Erde der Ackerscholle nach einem Regen. Traurigkeit hat tiefe Furchen gezogen, die Małecki mit der Magie des Alltags füllt, auf so traurig schöne Weise, dass ich seine Worte einatmen will.

Ich bin begeistert. Auch von der großartigen Übersetzung durch Renate Schmidgall.

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Veröffentlicht am 16.05.2024

Ein letztes Mal zurück in North Bath

Von guten Eltern
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Hat es sich gelohnt, zum 3. und letzten Mal nach North Bath zurückzukehren? Ein Ort, der mit Sully so eng verbunden war, wie sein Hintern mit dem Barhocker im Horse, auf dem jetzt nur noch ein Blechschild ...

Hat es sich gelohnt, zum 3. und letzten Mal nach North Bath zurückzukehren? Ein Ort, der mit Sully so eng verbunden war, wie sein Hintern mit dem Barhocker im Horse, auf dem jetzt nur noch ein Blechschild mit seinem Namen übrig ist?
Na ja ganz ist Sully nicht verschwunden, irgendwie lebt er in den Menschen ja doch weiter, die sich oft fragen: »Was würde Sully tun?«
Da ist sein Sohn Peter, der eigentlich gar nicht hier sein will, aber von seinem Vater nicht nur ein Haus geerbt hat, das er nun auf Vordermann bringen und verkaufen will, sondern auch eine Liste mit Namen, um die er sich kümmern soll. Allen voran Rub, Sullys Anhängsel, der ohne ihn nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Oder Ruth, Sullys ewige Geliebte, die versucht ihre Familie zusammenzuhalten.
Da wäre auch noch Raymer, der ehemalige Polizeichef des Ortes. Doch North Bath wurde nach einer langen Zeit des Sterbens endlich von Schuyler Springs eingemeindet, was seinen Job überflüssig machte. Aber man hält gern fest an alt Vertrautem und benachrichtigt ihn zuerst, als im Sans Souci eine Leiche gefunden wird. Doch das wäre eigentlich Charices Aufgabe, die inzwischen zur ersten Schwarzen Polizeichefin von Schuyler Springs ernannt wurde und dort nicht nur mit Rassismus, sondern auch noch mit Polizeigewalt befassen muss.
Und dann bekommt Peter auch noch unverhofften Besuch von seinem Sohn Thomas, zu dem er seit seiner Scheidung kaum noch Kontakt hatte. Doch sein Besuch endet fast in einem Desaster.

Über dem ganzen Buch schwebt der Geist der Vergangenheit, nicht in Form von Sully. Wie immer hat Russo die komplizierten Beziehungen seiner Figuren gut beobachtet. Sie taumeln zwischen Trauer und Erinnerungen, sie resümieren, philosophieren. Letztlich fühlten sich die vielen inneren verzweifelnden Monologe an, als hätte die Geschichte Bleigewichte an den Füßen und wollte nicht so recht vorwärtskommen. Aber der Reihe nach.

30 Jahre sind seit Erscheinen des 1. Bands vergangen. Während Russo im 1. Teil mit Sully seine Erinnerungen an seinen eigenen zu früh verstorbenen Vater verarbeitete, hat sich die Welt weiter gedreht. Unter anderem starb George Floyd durch die Hand eines Polizisten. Obwohl, wie Russo selbst sagt, nie ein 3. Teil geplant hat, hat er sich intensiv mit Schwarzen Autoren auseinandergesetzt und die Themen Rassismus und Polizeigewalt nach North Bath geholt. Dies hat er in meinen Augen sehr glaubwürdig dargestellt. Wie unterschiedlich die Sichtweisen von weißen und Schwarzen Menschen sein können, zeigt er in der Beziehung von Charise und Raymer. Allerdings muss Jerome, Charise’ Bruder, Raymer dazu einiges erklären, was zum Teil sehr zäh wird. Raymer, der ohnehin eine schwierige und humorlose Figur war, rückt mir hier zu sehr in den Vordergrund.
Rub und Carl, die Potenzial hatten, bekommen dagegen nur eine Nebenrolle. Damit ging auch viel von Russos Humor verloren, der seine umfangreichen Bücher enorm aufgelockert hat.
Am stärksten war für mich die komplizierten Eltern-Kinder-Konstellationen von Peter und Thomas sowie Ruth und Janey und deren Tochter Tina. Allerdings bleiben ein paar angelegte Konflikte in der Luft hängen. Legt Russo da einen 4. Teil an oder überlässt er es den Leserinnen, sich deren Zukunft vorzustellen?

Russo ist und bleibt einer meiner Lieblingsautoren, auch wenn ich hier nicht vor Begeisterung sprühe. Was mich immer wieder versöhnt, sind Sätze wie diese:

»Wie hätten Sie Ihr Steak gern?«
»So, dass ein guter Tierarzt das Rind noch retten könnte.«

Ich bleibe dieses Mal also etwas enttäuscht zurück und vertraue auf sein Wort, dass er kein viertes mal nach North Bath zurückkehren will, stattdessen Teddy aus »Jenseits der Erwartungen« eine weitere Geschichte widmen möchte. Wir dürfen also gespannt sein.
Eine Leseempfehlung gebe ich diesmal nur an die Leser
innen der vorigen Bände, Neueinsteiger könnten durch einige unverständliche Lücken enttäuscht sein.

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