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Veröffentlicht am 12.08.2023

Ein beeindruckendes Debüt

Meine langen Nächte
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»Ich war eine braune Schwester, Dienstnummer 2712207. Ich war die einzige in der gesamten Klinik und die erste in Göttingen.« S.198

»Ich war noch keine dreißig Jahre als, als ich starb, in einer Dezembernacht.« ...

»Ich war eine braune Schwester, Dienstnummer 2712207. Ich war die einzige in der gesamten Klinik und die erste in Göttingen.« S.198

»Ich war noch keine dreißig Jahre als, als ich starb, in einer Dezembernacht.« S.8

Anna Alrutz ist jetzt nur noch ein ruheloser Geist. Nach ihrem frühen Tod wird sie immer wieder vom Wind erfasst, nach oben getragen und in die Bruchteile ihres Lebens fallengelassen. Aus dieser ungewöhnlichen und gelungenen Perspektive erzählt Anna von ihrem Leben, das sie nun wieder und wieder durchleben muss.

Anna entstammt einem liberalen, gut situierten Elternhaus in Braunschweig. Sie selbst sieht in sich ein beliebiges blondes Mädchen. In ihrer Kindheit verbringt sie die Sommerferien mit ihrer Familie in Salzgitter. Hier verliebt sie sich als Jugendliche unglücklich in einen verheirateten Pastor.
Sie ist ein freiheitsliebendes, wissbegieriges Kind, ihren Bruder Willi, der ständig isst, wird sie nie richtig verstehen. Ihre Schwester Hedwin kränkelt von Geburt an und ihr Leben findet nur hinter Stickereien und dem Klavier statt. Wie ihr Vater will Anna Ärztin werden und beginnt als eine von vier Frauen ihr Medizinstudium.
Wie wird aus ihr eine NS-Schwester, die gemeinsam mit einem Arzt Frauen mit Erb- und Geisteskrankheiten zwangssterilisiert? Die aus vollster Überzeugung hinter Hitlers Ideen steht?
Diese Fragen versucht Fabiani in ihrem fiktiven Roman – der dennoch eine gewisse Realitätsnähe spüren lässt – zu beantworten. Es fühlt sich wie eine Beichte Annas an, wenn sie versucht zu zeigen, wie unbedarft sie war, enttäuscht von einer unerfüllten Liebe, zurückgewiesen. Wie schnell Propaganda bei Jugendlichen einen sensiblen Nerv trifft.

»Mach den Wald zu einem Ort voller Menschen verschlingender Ungeheuer und halte den verängstigten Mädchen dann deinen starken Arm hin, und sie werden dir folgen.« S.107

Fabiani gelingt es, den Zeitgeist der Zwischenkriegsjahre einzufangen, die Suche nach Ordnung und Struktur einer jungen Frau, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten will. Die sich aber genauso nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt. Annas Geist kommentiert und reflektiert ihre Kindheit und Jugend und allmählich begreifen wir, warum die Nazi-Ideologie in ihr auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Wäre da nicht Thierry, der französische, jüdische Medizinstudent, in den sie sich verliebt. Wäre da nicht ihre Freundin aus Kindheitstagen, die in die Klinik eingeliefert wird. Denn plötzlich gerät ihre Überzeugung ins Wanken.

»Ich würde sie hier gerne noch einmal treffen, hinter einer dieser Türen, all diejenigen, die wir nicht retten konnten. Ich würde ihnen gerne sagen, dass ich von einer ungeheuerlichen Idee besessen war, die ich für richtig und nützlich hielt. Dass ich mich verirrt hatte, vollkommen geblendet war …« S.173

Fabiani hat mich mit ihren poetischen Worten durch ihre bewegende Geschichte getragen, mal humorvoll und leicht, doch zunehmend düster und tragisch. Am Ende lastet es schwer auf der Seele, wenn man versteht, wie leicht Menschen zu manipulieren sind. Natürlich geht es auch nicht spurlos an einem vorbei, wenn man die kruden Theorien hinter der Zwangssterilisation liest und die direkten Auswirkungen von Annas Arbeit sieht.
Ein Buch, das berührt, das nicht leicht zu ertragen ist und lange nachhallt. Ein Roman mit Tiefgang, dem ich sehr viele Leser*innen wünsche.

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Perfekter Abschluss der Tom-Babylon-Reihe

Violas Versteck (Tom-Babylon-Serie 4)
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Raabe hat sich für den Abschluss der Tom-Babylon-Reihe noch mal so richtig ins Zeug gelegt. Chapeau! Oder war es doch noch nicht das Ende?

Tom wacht in einem Krankenhaus in London auf und hat keine Ahnung, ...

Raabe hat sich für den Abschluss der Tom-Babylon-Reihe noch mal so richtig ins Zeug gelegt. Chapeau! Oder war es doch noch nicht das Ende?

Tom wacht in einem Krankenhaus in London auf und hat keine Ahnung, wie er hierher kam. Dr. Harris, eine junge Ärztin, versucht telefonisch seine Familie und seinen Chef zu erreichen. Mit dem Ergebnis: Tom hat seinen Job als Polizist hingeschmissen, sein Vater ist bei einem Überfall in der U-Bahn ums Leben gekommen, Anna ist mit dem gemeinsamen Sohn Phil nicht zu erreichen und sein Haus wird gerade verkauft. Und Tom? Er wurde vor drei Tagen nackt und bewusstlos in einer Mülltonne gefunden.
Während Toms sich auf eigene Faust weiter auf die Suche nach seiner Schwester Viola macht, ist Sita Johanns unterwegs nach Traunstein ins Hochsicherheitsgefängnis, in dem Walter Bruckmann einsitzt – auch auf eigene Faust. Dort will sie ihn mit einigen Fragen konfrontieren. Denn Tom war klar, dass Bruckmann – wie auch immer – etwas mit dem Überfall zu tun hat. Nur Stunden später findet sich Sita fixiert in einer Zelle wieder. Und Bruckmann wird ihre einzige Möglichkeit sein, hier wieder rauszukommen.

Dieser Teil knüpft direkt an seinen Vorgänger an, in dem Tom ein Bild von Viola als erwachsene Frau findet. Es ist daher notwendig, alle drei anderen Teile vorher zu lesen. Raabe wirbelt nochmals alles gehörig durcheinander, nur um es dann präzise und lückenlos zu einem glaubhaften Ende zu führen. Immer wieder holt er alte, uns bekannte Szenen hoch, wodurch wir quasi die gesamte Reihe Revue passieren lassen können. Und trotzdem hält er die Spannung auf einem maximalen Level. Geschickte Zeit- und Ortswechsel tun ihr Übriges.

Gut durchdacht, mit anhaltend hohem Tempo hat er ein grandioses, stimmiges Finale hingelegt. Und keine Angst vor den 620 Seiten, die hatte ich in zwei Tagen durch, ging gar nicht anders. Ach ich sag jetzt einfach nichts mehr dazu, Raabe ist für mich – ja ich wiederhole mich gern – der beste deutsche Thrillerautor, den wir haben. Viel psychologischer Tiefgang, rasante und bildliche Sprache, lückenlose, komplexe Konstruktion und Charaktere mit Ecken und Kanten (auch die Nebenfiguren), wie sie sein sollten. Raabe beherrscht einfach alles – außer 0-8-15.

Ach ja, ich werde Tom Babylon echt vermissen, aber wer weiß, vielleicht hören wir irgendwann noch mal von ihm?

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Können Pralinen alles wieder gutmachen?

Der berühmte Tiefpunkt
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Mariekes Sommerklamotten stecken in der Maschine im Waschsalon fest und sie lebt mehr oder weniger in einem Mietwagen, nachdem ihr Freund Blok sie aus dem seelenlosen Reihenhaus geschmissen hat. Jetzt ...

Mariekes Sommerklamotten stecken in der Maschine im Waschsalon fest und sie lebt mehr oder weniger in einem Mietwagen, nachdem ihr Freund Blok sie aus dem seelenlosen Reihenhaus geschmissen hat. Jetzt läuft sie mit Jeans und Pullover durch die unerträgliche Sommerhitze, muffelt schon vernehmbar und Blok hat auch noch ihr gemeinsames Konto gesperrt. Ist das schon der berühmte Tiefpunkt? Nein, damit nicht genug. Im Altersheim muss sie allein Frühschicht schieben, das Haus ist bis auf ihre Station leer, denn alle anderen Bewohner sind bereits in den klimatisierten Neubau umgezogen. Nur gut, dass die meisten am nächsten Tag vergessen haben, dass es mal wieder Wurst mit Apfelmus gibt, so wie schon am Tag zuvor, und dem davor, und dem davor …
Na und wenn schon das ganze Leben über ihr zusammenstürzt, dann doch gleich richtig. In Mariekes Kindheit gab es einen Vater, an den sie sich nur bedingt erinnert, der ihr aber ausgerechnet jetzt über den Weg laufen muss.

Der niederländische Originaltitel »Varkensribben«, also Schweinerippen, zeigt, dass es hier ganz viel um Essen geht. Und das macht Marieke, alles in sich hineinfressen – im doppeldeutigen Sinn. Wie lange aber kann das gutgehen? Ich tat mich anfangs schwer, mit ihr warm zu werden. Das lag daran, dass ich nicht verstehen konnte, warum sie sich das alles von ihrem Freund, dem verwöhnten Muttersöhnchen und dessen übergriffiger Mutter gefallen ließ. Doch die persönliche Tragödie der nicht immer zuverlässigen Ich-Erzählerin entwickelt sich langsam zu einer Anklage gesellschaftlicher Missstände. Allen voran den Lebens- und Arbeitsbedingungen im Altenheim.

»Gleich geht meine Schicht los. Ich bin allein. Wenn ich meinen Pflegewagen von einem Zimmer ins nächste rolle, weiß ich genau, wie viel Zeit ich pro Person mit Waschen und Anziehen zubringen darf. Und ich weiß genau, vor welchem Zimmer ich erst noch mal tief durchatmen und mir sagen muss: ›Ich werde nicht die Geduld verlieren, weil ich keine Zeit habe für Gemächlichkeit oder Verwirrung oder beides.« S.25

Je mehr ich von Mariekes Leben erfuhr, umso mehr wuchs sie mir ans Herz, ich spürte ihre Verletzlichkeit, ihre Einsamkeit und Hilflosigkeit. Und das eint sie mit den Bewohnern des Heims. Ja manchmal wünscht sie sich, dass auch sie sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnern könnte.
Es ist eine Geschichte über Einsamkeit, Fürsorge und Hilfsbereitschaft und zeigt, dass Essen eben doch nicht die wahren Gefühle ersetzen kann.
De Gryse ist hier ein wirklich beachtliches Debüt gelungen, das ständig zwischen Komik und Tragik schwankt. Ihr Schreibstil ist frisch und schnörkellos mit einem guten, trockenen Humor. Ihre Figurenpalette reicht vom Oberekel Blok bis zum liebenswerten »Opa« Jozef. Und am Ende mochte ich sie alle gar nicht loslassen. Sie hält die Spannung auf einem guten Level, weil man natürlich wissen will, warum sie nun bei ihrem Freund rausgeflogen ist. Dazu kredenzt De Gryse uns noch so manche Wendung, die alles ordentlich »durchrührt« – um jetzt mal beim Essen und Kochen zu bleiben. Ach ja, bitte nicht mit leerem Magen lesen, es könnte Spuren von Appetit enthalten.

Beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit und doch Direktheit sie die Finger in die Wunde unserer Zeit legt, ohne anzuklagen oder zu bewerten. Und nach meinen kurzen Anfangsschwierigkeiten entwickelte sich eine Geschichte, die mir richtig ans Herz ging. Und die zeigte, dass ein Tiefpunkt noch lange kein Grund ist aufzugeben, wenn man die richtigen Menschen in sein Leben lässt und sein Leben selbst in die Hand nimmt.

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Veröffentlicht am 08.08.2023

Zusammebruch einer traditionellen Welt

Mattanza
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»Eleonora war ein nicht eingelöstes Versprechen; sie war das Kind, das als Junge zu Welt hätte kommen sollen, und das war ihr nicht gelungen. … In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die ...

»Eleonora war ein nicht eingelöstes Versprechen; sie war das Kind, das als Junge zu Welt hätte kommen sollen, und das war ihr nicht gelungen. … In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die Tonnaroti erkannt, dass selbst Gott nicht unfehlbar war, an Eleonora klebte der Fluch der Insel, und niemand konnte etwas dagegen tun.« S.10

Seit Jahren warten die Bewohner Katrias auf einen neuen Anführer des Thunfischfangs, der seit Jahrhunderten derselben Familie entstammt. Doch es wird kein männlicher Erbe geboren, also beschließt der alte Raìs, seine Enkelin Nora zu seiner Nachfolgerin zu machen. An einem Ort wie Katria, wo Aberglaube die Wahrheit ist und Legenden die Geschichte, ist man mehr als skeptisch. Von klein auf spürt Nora, welche Last auf ihren Schultern liegt, wie hoch die Erwartungen an sie sind und welche Entbehrungen es sie kostet. Denn als letzter Raìs trägt sie die Verantwortung über das Wohlergehen der gesamten Dorfgemeinschaft.
Es ist die Geschichte der sizilianischen Insel Katria, auf der seit ewigen Zeiten der Thunfisch traditionell bei der jährlichen Tonnara gefangen wird. Ein interessantes, orchestriertes wenn auch blutiges Unterfangen, das uns die Autorin eindrücklich schildert. Es sind die Jahre der vollen Netze als Nora mit 19 ihr Schicksalserbe antritt und sie beweist Geschick, weiß, wann die Schwärme in die letzten Netze schwimmen. Es werden rauschende Feste gefeiert, ausgerichtet von den Filangeris, den Besitzern der Tonnaro und der Fischfabrik.
Doch es ist auch die Geschichte des Mittelmeers bis 2012. Es sind die Jahre der Veränderung, der Wasserverschmutzung, der Überfischung, der Flüchtlinge. Kann Nora die Tradition der Insel bewahren? Wie weit ist sie bereit zu gehen?

Wow, unglaublich, was für eine fulminante Geschichte sich hier entwickelt. Und sie hat mich zu Tränen gerührt, so viel vorweg. Vergessen wir aber für einen Moment den archaischen, blutigen Thunfischfang, hier geht es um so viel mehr. Hier geht es um die Auswirkungen von globalen Veränderungen auf eine kleine Insel am Rand von Europa. Auch eine Art Schicksal, das über sie hereinbricht, dem man sich einerseits ergeben kann, aber anderseits gleichen alle Bemühungen, die man unternimmt, einem Kampf gegen Windmühlen. Denn nichts anderes ist es, eine Parabel unserer modernen Welt.

»Nur dreiundzwanzig Thunfische. Sie hat gehört, wie rund um ihre Welt hundert andere Dinge geschehen sind, die der Auslöser für so etwas sein konnten, und dies ist wiederum der nie bewiesene Grund für hundert andere Dinge. Sie hat die perfekte und unergründliche Synchronizität der Ereignisse gespürt, an denen auch sie beteiligt ist, Filter und Katalysator, Priesterin und Opfer einer Welt, die ihr nun nur dreiundzwanzig Thunfische hinterlassen hat und Schulden, die niemand bezahlen kann.« S.152

Fabiana hat hier ein grandioses Werk auf nur 192 Seiten geschaffen, eine Hommage an ihre Heimat, in der sie gekonnt die sizilianische Seele eingefangen hat. Sie erzählt eindringlich und voller scharfer Beobachtungsgabe von Gemeinschaft und Zusammenhalt, Hilflosigkeit und Mut, vom Zusammenbruch einer traditionellen Welt, während man in Brüssel und Tokio Entscheidungen fällt.
Es ist ein aufrüttelndes Buch mit ein wenig Hoffnung am Ende, das ich leider nur durch einen Tränenschleier sehen konnte. Ganz großes Kino.

Wie ich herausgefunden habe, gehört es zu einer Trilogie über Sizilien »Concerto Siciliano«, wobei alle drei Bücher in unterschiedlichen Zeiten spielen. Ich hoffe sehr und wünsche es mir, dass der Mare Verlag die anderen auch noch ins Deutsche übersetzt. Mattanza wird einen Platz in meinem Herzen haben.

Am Ende des Buches befindet sich eine Zeichnung, in der man den Aufbau der Tonnara sehen kann. Sie ist ein raffiniertes Fangsystem aus Netzen, ähnlich einem Labyrinth, durch das die Fische bis in die Todeskammer schwimmen. Dort beginnt das blutige Abschlachten, die Mattanza. (Auch wenn paradox ist, bleibt es doch ein nachhaltiges und faires Fischen.) Für mich steht der Titel »Mattanza« sinnbildlich für das Ausbluten der kleinen Inseln.
Inspiriert zu der Geschichte wurde die Autorin durch einen Besuch der ehemaligen Fischfabrik auf Favignana, die heute als Museum dient.

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Veröffentlicht am 05.08.2023

In Vermont hat man Zeit - und jede Menge schwarzen Humor

Treue Seele
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Castle Freemans Bücher haben für mich zwei große Vorteile: Erstens sind sie recht kurz und gleichzeitig kurzweilig und zweitens sind sie einfach zum Schmunzeln. Aber diesmal habe ich sogar laut gelacht ...

Castle Freemans Bücher haben für mich zwei große Vorteile: Erstens sind sie recht kurz und gleichzeitig kurzweilig und zweitens sind sie einfach zum Schmunzeln. Aber diesmal habe ich sogar laut gelacht – und das passiert bei mir echt selten.

1990 trifft Port Conway zum ersten Mal auf die bildschöne Lucy.

»Wie alt war sie wohl? Dreizehn? Vierzehn? … Wahrscheinlich brachte sie schon die nicht mehr so kleinen Jungs um den Verstand. In ein paar Jahren würde es wehtun, sie anzusehen. Aber sie saß hier fest, in diesem Loch. Eine Blume – ein Krokus, eine Lilie im Schlamm.« S.20

Port ist als Volkszähler unterwegs und wird von Lucys sturem Vater Pop kurzerhand rausgeschmissen. Auch Lucy denkt nicht daran, ihm ein paar Fragen zu beantworten. Aber Port hat Zeit, in 10 Jahren ist die nächste Volkszählung – und Lucy erwachsen.
Und in der Zwischenzeit passiert, was halt so passiert auf dem einsamen Land in Vermont. Port wird zum Einsiedler, Lucy lebt inzwischen bei ihrer großen Halbschwester Connie und verliebt sich – nur leider nicht in Port. Auch wenn der sich nichts sehnlicher wünscht. Connie hält eh nicht viel von Port, aber er ist nun mal der beste Freund ihres Mannes Cliff.
Lucy hingegen weiß genau, was sie will, sie hat Pläne – möglich weit von diesem Dorf und diesem Leben wegzukommen. In puncto Männer lässt sie sich nichts sagen, hat aber irgendwie kein glückliches Händchen. Und ganz langsam gerät über die Jahre so einiges aus den Fugen. Und darüber muss man reden, Port mit Cliff und Cliff mit Connie. Und Lucy will nichts davon hören.
Es reicht ja nicht, dass Freeman mich mit seinen trockenen und lakonischen Dialogen schon überzeugt hat. Nein, er will, dass wir Lesenden mitten drin sind im Dorfleben. Dafür erzählt er abwechselnd aus der Sicht von Cliff, Port und Connie. Dadurch ergeben sich wunderbar vielschichtige Charaktere mit Kanten und Ecken.

Freeman überzeugt durch seine humorvolle und empathische Art zu erzählen, von geplatzten Träumen, Versagern und Verbrechern und ganz normalen Hinterwäldlern, die ihr Leben leben. Hier ticken halt die Uhren langsamer. Sheriff Wing hat diesmal nur einen Kurzauftritt, zeigt aber, dass seine ganz eigene Strategie wieder funktioniert.
Und Freeman hält uns bei aller Kurzweiligkeit zusätzlich bei der Stange, denn im Prolog erfahren wir, dass Port in nur wenigen Minuten vor den Traualtar treten wird. Wie viele Volkszählungen er wohl durchführen musste, bis es so weit war? Nur so viel sei verraten, es lagen einige Stolpersteine im Weg. Zum Glück ist Port ein geduldiger Mann und eine treue Seele.

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