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Veröffentlicht am 02.08.2023

Zwischen Social Media und Müllkippe

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art
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Ich schwärme ja selten für ein Cover, aber hey, hier kann ich nicht anders. Wie schön ist das denn bitte? Und ich bin so froh, dass ich es lesen durfte, denn der Inhalt steht dem Cover in nichts nach.

Arielle, ...

Ich schwärme ja selten für ein Cover, aber hey, hier kann ich nicht anders. Wie schön ist das denn bitte? Und ich bin so froh, dass ich es lesen durfte, denn der Inhalt steht dem Cover in nichts nach.

Arielle, 14, ist anders als andere, wäre aber gern wie sie. Denn sie hat kaum Haare auf dem Kopf, nur Stummelchen als Zähne, aber was sie besonders belastet in diesem heißen Sommer, sie kann nicht schwitzen. Sie muss ihren Vater unterstützen, der die Wohnungen von Verstorbenen ausräumt und alles Nichtverwertbare anschließend auf den Müllplatz entsorgt. Von dort bringt er alte Festplatten mit, die sie gemeinsam nach Kryptowährung durchsuchen. Doch Arielle findet viel Spannenderes – das Leben anderer Menschen auf Fotos.

»Ich fand Bruchteile von gelebten Leben, in Nullen und Einsen übersetzt, verloren, vergessen, weggeworfen.« S.37

»Und ich fand Pauline.
Pauline, die beim Eislaufen denselben Strickpullover trug wie ihre Mutter.
Pauline, die ihre rot lackierten Zehen in türkisem Seewasser baumeln ließ.
Pauline, die auf dem Handtuch neben dem Sprungturm lag, das Kinn auf beide Arme stütze …« S. 41

Pauline, ein schönes Mädchen, wie geschaffen für Social Media – das Gegenteil von Arielle. Mit Pauline richtet sie sich einen Fake-Account ein und bekommt endlich etwas Aufmerksamkeit. Auch Arielles psychisch labile Mutter erkennt das Potenzial von Paulines schönem Gesicht und nutzt den Account für ihre Zwecke.
Und da ist noch Aljoscha, ihr bester Freund, der in seinem Studio neben der Müllkippe ausrangierte Schaufensterpuppen mit Lumpen einkleidet. Und Yasmin, ihre beste Freundin, »die für FireFly die hässlichen Stellen aus ihrem Leben schnitt wie matschiges Fruchtfleisch aus einem zu Boden gefallenen Apfel.«

Treffend und oft witzig zeichnet Gruber ein Gesellschaftsporträt. das unser Leben zwischen Realität und Social Media widerspiegelt. Eine Jagd nach Klicks und Aufmerksamkeit mit all seinen Tücken.
Es ist ein trauriges Buch mit einer sehr außergewöhnlichen Hauptfigur und einem Funken Hoffnung. Es geht um Verlockungen, Versprechungen und Fakes im Internet und wie leicht man ihnen erliegen kann. Arielle, die gern so sein möchte wie die anderen Mädchen in ihrem Alter, die sich das Lächeln der Models aus Zeitungen schneidet, um zu sehen, ob es ihr steht. Gruber erzählt von Vereinsamung und Erwachsenwerden irgendwo am Rand der Stadt zwischen Social Media und Müllkippe, wo Träume und Wünsche wie Seifenblasen platzen.
Gruber schreibt sehr unterhaltsam und tiefgründig, findet großartige Bilder und Worte für ein Mädchen, das vielleicht das Erste ihrer Art ist.
Ich hoffe, dass wir in Zukunft noch viel von ihm lesen werden.

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Veröffentlicht am 18.07.2023

Eine Hommage an die Literatur und die Liebe

Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten
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Manchmal stößt man auf ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Cover eine ganz große Geschichte wartet, die einen tief in der Seele berührt, vor allem wenn man eine Bücherseele hat.
Malinverno ist Bibliothekar ...

Manchmal stößt man auf ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Cover eine ganz große Geschichte wartet, die einen tief in der Seele berührt, vor allem wenn man eine Bücherseele hat.
Malinverno ist Bibliothekar in Timpamara, eine kleine Stadt, in der Bücherseiten durch die Luft fliegen, die von den Bewohnern liebevoll aufgesammelt und gelesen werden, damit sie nicht in der Presse der Papierfabrik landen. Hier haben Menschen Namen von literarischen Helden und man spricht statt Dialekt Hochitalienisch.

»Über all in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn sie jemand aufhob, sie las, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob…« S.12f


Doch Malinvernos geruhsames und geordnetes Leben ist vorbei, als er zusätzlich zum Friedhofswärter berufen wird. Nur unwillig macht er sich an seine neue Arbeit, bis er eines Tages ein namenloses Grab entdeckt. Das Porträt darauf erinnert ihn an Madame Bovary. Flauberts Roman hat ihm über viele schwierige Zeiten hinweggeholfen und daher nennt er sie liebevoll Emma. Aus seiner anfänglichen Verliebtheit wird schnell eine Obsession. Um so überraschter ist er, als ihm eine Frau (Ofelia) begegnet, die Emma zum Verwechseln ähnlich sieht. Kann es sein, dass er am traurigsten und dunkelsten Ort die Liebe seines Lebens gefunden hat?

Was für eine bezaubernde Geschichte voller seltsamer, liebevoller Figuren. Denn Malinverno wird einigen Menschen begegnen, die sein Leben verändern und die Grenzen zwischen Realität und Literatur verschwimmen lassen. Da ist Elea, der Auferstandene; Margherita, die ihre verlorene Liebe heiraten möchte; Isaia Caramante, der die Klänge und Stimmen aus einer anderen Welt aufnimmt. Auch Ofelia ist eine zwischen Realität und Fantasie schwebende Figur, bei der sich der Leser immer fragen wird, ob sie existiert oder nur ein Produkt von Malinvernos Fantasie ist. Sie alle werde ich nicht vergessen, aber Astolfo Malinverno habe ich in mein Herz geschlossen.

Doch uns erwartet keine Liebesgeschichte, denn Trauer und Tod sind ein zentrales Thema in Daras drittem Roman. Und Dara spielt mit Metaphern und Reflexionen darüber und mit der alles verbindenden Brücke, der Liebe. War Malinverno bisher nur stiller Zuschauer, wird er nun selbst zur Brücke, zum Mittler zwischen dem, was ist und dem, was war – ein Hüter der Seelen. Er pendelt zwischen Bibliothek und Friedhof, zwei metaphysischen Orten, die Geschichten und Erinnerungen bewahren. Über all seinen skurrilen Begegnungen liegt ein Hauch magischer Realismus, dessen märchenhafte Atmosphäre mich berührt hat.
Das Buch ist ebenso tiefgründig wie farbenfroh, traurig und heiter. Keins, das man schnell wegliest, nicht nur wegen Daras literarischen Erzählstils, denn es lädt zum Nachdenken ein über das Sein, das Danach, den Sinn des Lebens und was uns wirklich ausmacht.

»Wir sind das, was wir gedacht, uns vorgestellt, erhofft, gewünscht und vergessen haben. Das Universum wird niemals wissen, wie unsere stille, geheime Existenz tatsächlich verlaufen ist, niemand wird je von unseren geheimen Reisen, unseren Liebesfantasien, von den Hunderten Leben erfahren, die in den unendlichen Universen eines Neurons enthalten sind.« S. 314

Es ist auch eine Hommage an die Weltliteratur, von Madame Bovary bis Don Quijote. Wer Sinn dafür hat, wird an jeder Stelle Andeutungen und Symbole finden, stimmig und spielerisch eingesetzt, dass es eine Freude ist. So erinnert Malinvernos Vorname an den Ritter, der zum Mond flog, um verlorene Dinge wieder zur Erde zu bringen. Und wer wie ich auch noch neugierig ist, wird über Daras Liebe zu seiner Heimat stolpern. Denn die Nachnamen der Figuren sind kleine, fast vergessene Orte Kalabriens.
Ich kann nur sagen, wenn ihr Literatur und tiefgründige Charaktere liebt, lasst euch von der Geschichte umarmen, von dem leichten, aber intelligenten Erzählstil Daras verzaubern. Es ist jetzt schon mein Monatshighlight.

»… ich dachte, dass im Gunde alles, was wir im Leben bekommen, nur eine Leihgabe ist, die wir früher oder später zurückgeben müssen, so als wäre das Universum eine große Bibliothek, in der Einsamkeit, Freude und Bedauern verliehen … werden in dem Wissen, dass all unsere Gegenstände, unsere Empfindungen und Atemzüge eines Tages auf einen anderen übergehen werden.« S.44

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Veröffentlicht am 16.07.2023

Außergewöhnlicher Rätsel-Krimi

Die Aosawa-Morde
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In den siebziger Jahren ereignet sich in einer japanischen Kleinstadt ein rätselhafter Massenmord. Bei einer Geburtstagsfeier im Haus einer angesehenen Ärztefamilie sterben 17 Menschen durch vergiftete ...

In den siebziger Jahren ereignet sich in einer japanischen Kleinstadt ein rätselhafter Massenmord. Bei einer Geburtstagsfeier im Haus einer angesehenen Ärztefamilie sterben 17 Menschen durch vergiftete Sake. Einzige Überlebende ist die 12-jährige, blinde Tochter Hisako. Das Verbrechen wird nie ganz aufgeklärt, auch wenn der Getränkelieferant kurz darauf seine Beteiligung gesteht, Selbstmord begeht und postum verurteilt wird. Was bleibt, ist ein vages Gefühl, dass Hisako etwas mit den grausamen Morden zu tun hat, doch Beweise gibt es keine.
Viele Jahre später schreibt Makiko Saiga, die damals als Kind Zeugin dieser Tragödie war, einen Tatsachenroman darüber, in dem sie Zeugen zu Wort kommen lässt.
Jetzt, wiederum viele Jahre später, scheint sich erneut jemand für die Personen zu interessieren, die damals eine Verbindung zu dem Verbrechen hatten.

»Ich hoffe, Sie verstehen, dass Wahrheit nichts anderes ist als die Sichtweise auf einen Gegenstand aus einer bestimmten Perspektive.« S.64

Genau das erwartet uns in Ondas Kriminalroman, der nur entfernt an einen Whodunit-Krimi erinnert, auch wenn die einzig verbleibende Person im Geschehen die perfekte Verdächtige ist. Doch welches Motiv sollte das blinde Mädchen haben? Formal ist der Krimi aus verschiedenen Blickwinkeln aufgebaut – transkribierten Interviews, in denen die Gesprächspartner lange rätselhaft bleiben und sich erst mit der Zeit erschließen. Was wir lesen, sind aber nur die Antworten und nicht die Fragen, hier mischt sich auch kein außenstehender Erzähler ein.
Das, was wir über die Figuren erfahren, beschränkt sich auf das, was sie uns selbst mitteilen. Auch das ist Onda hervorragend gelungen, ihnen eine eindeutige Stimme zu geben. Wenn sie aber jemand über die Familie Aosawa äußert, so mit viel Diskretion, die ich als typisch japanisch bezeichnen würde.

Ich hatte schnell den Verdacht, dass sich Hinweise im Text verstecken, auch war klar, dass die Perspektiven auf den Fall verschiedene Wahrheiten zeigten. Onda spielt also gekonnt mit der Wahrheit und scheint sich wie ein Puzzle mit der Zeit zusammenzufügen. Aber liefert sie wirklich für jedes Rätsel eine Lösung?
Neben den Perspektiven auf verschiedenen Zeitebenen arbeitet Onda auch mit verschiedenen Textstilen, indem sie Zeitungsmeldungen und Polizeiprotokolle einfügt, manche Kapitel bestehen nur aus Dialogen. Das alles fühlt sich experimentell aber auch sehr gelungen an.
Was mir als Nichtkenner der japanischen Literatur zum Teil verborgen blieb, ich aber trotzdem wahrgenommen habe, sind die bildlichen Metaphern. Ob es nur das eigenwillige, schiffsähnliche Haus mit den Bullaugen war, das Wetter, die Angewohnheit des Kommissars, Kraniche zu falten oder die weiße Kräuselmyrte, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Aber ich denke nicht, dass es Einfluss auf die Auflösung hatte.

Ich fand Ondas Krimi äußerst innovativ und überzeugend. Auch wenn er eher zurückhaltend und ruhig ist, entsteht eine subtile Spannung, die mich das Buch innerhalb kürzester Zeit durchlesen ließ. Ich kenne nichts Vergleichbares und bin fasziniert, dass man Krimis auch völlig anders erzählen kann.
Ich empfehle es denen, die offen sind für Außergewöhnliches und keinen herkömmlichen Krimi lesen möchten, Wert auf sprachlich hervorragende Texte, Tiefe und Symbolik legen und sich ein wenig für japanische Gesellschaft und Kultur interessieren.

Anfang des Jahres hat sie mich bereits mit »Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen« begeistert und ich hoffe, noch viel von ihr lesen zu dürfen.

Das Glossar am Ende des Buches gibt Hilfestellung beim Verständnis einzelner Begriffe. Ich habe es aber nicht gebraucht, da die Übersetzerin Nora Bartels hier perfekte Arbeit geleistet hat.

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Veröffentlicht am 11.07.2023

Schlaflos in Marseille

Drei Uhr morgens
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Wenn mir in einer Buchhandlung ein Italiener in die Hand fällt, kann ich nicht widerstehen – so auch diesmal. Ich kannte den Autor nicht, der etliche Krimis geschrieben und sich einen Namen als Antimafia-Staatsanwalt ...

Wenn mir in einer Buchhandlung ein Italiener in die Hand fällt, kann ich nicht widerstehen – so auch diesmal. Ich kannte den Autor nicht, der etliche Krimis geschrieben und sich einen Namen als Antimafia-Staatsanwalt gemacht hat. Aber der Klappentext hat mich sofort überzeugt und jetzt nach der Lektüre kann ich nur sagen – was für eine berührende Geschichte, wow.

Carofiglio erzählt auf 184 Seiten eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte, ein Abenteuer, das uns in verruchte Jazzclubs führt, durch die zwielichtigen Hafengassen Marseilles und an Strände, schöner als Korsika oder Sardinien.
Antonio, der Ich-Erzähler, erhält als Kind die niederschmetternde Diagnose Idiopathische Epilepsie. Mit einem Schlag soll er auf alles verzichten, was seine Kindheit ausgemacht hat – kein Fußball, keine Limonade, keine Menschenansammlungen. Antonio muss zahlreiche Medikamente nehmen und verfällt in eine anhaltende Depression. Doch seine Eltern, seit Jahren geschieden, finden sich nicht mit der Diagnose ab. Professor Gastaut, ein Spezialist aus Marseille, macht Hoffnung. Nachdem dieser einige Berühmtheiten aufgezählt hat, u.a. Aristoteles und Michelangelo, die ebenfalls unter der Krankheit litten, nimmt sich Antonio in seiner Außenseiterrolle anders wahr. Denn bisher wagte er noch nicht einmal, das Wort Epilepsie auszusprechen. Drei Jahre später (Antonio ist fast 18) muss er sich einer Nachuntersuchung unterziehen, zu der ihn sein Vater begleitet.

Professor Gastaut, die einzige reale Person in dem fiktiven Roman, möchte mithilfe eines heute verbotenen Stresstests herausfinden, ob Antonios Epilepsie geheilt ist und dazu muss er 48 Stunden wach bleiben. Das hört sich für ihn zunächst unüberwindbar an, denn Vater und Sohn sind sich fremd. Nun, mit 50, blickt Antonio auf die zwei durchwachten Nächte zurück, in denen sie gemeinsam durch das Marseille der 80er Jahre streifen, und die für beide ein einschneidendes Erlebnis werden sollen.

Ohne sentimental oder kitschig zu werden gelingt Carofiglio ein atmosphärisch dichter Roman, der gern hätte doppelt so dick sein dürfen. Er lässt viel Raum zum Nachdenken und Nachspüren.

Durch seine Krankheit hat sich Antonio zu einem schüchternen, introvertierten jungen Mann entwickelt. Während sie die erste Nacht durch beängstigende, fremde Viertel streifen, traut er sich, seinem Vater Fragen zu stellen, und muss feststellen, dass der Mathematiker gar nicht so steif ist, wie er es sich immer vorgestellt hat. Sie entdecken Gemeinsamkeiten, wie ihre Liebe zur Literatur und ihr Verständnis für komplexe Zahlen.

„Es gibt Momente, in denen man reden muss und nichts für selbstverständlich nehmen darf. Und es gibt Momente, in denen man schweigen muss, weil etwas Hauchzartes und Kostbares in der Luft liegt, das sich beim kleinsten Wort verflüchtigen könnte. Beides ist einfach. Die Schwierigkeit liegt darin, zu entscheiden, wann man das eine tut und wann das andere.“ S.178f

Fast schon behutsam erzählt der Autor von der zarten Annäherung, findet wundervolle Worte für verborgene, teils auch nicht ausgesprochene männliche Gefühle. Ein Coming-of-Age-Kammerspiel vor der vielfältigen Kulisse der französischen Hafenstadt, deren Bilder und Eindrücke sich fast synchron zur Entwicklung der Geschichte verändern. Marseilles ist nicht von ungefähr gewählt, denn Carofiglio hat einige Monate dort während eines Schriftsteller-Stipendiums verbracht.
Mit jeder Begebenheit nähern sich Vater und Sohn an, als Leser spürt man förmlich, wie ihre Verbundenheit wächst und sie ihre gemeinsame Zeit intensiv nutzen.

„Man muss das Glück verprassen, das ist die einzige Art, es nicht zu vergeuden. Vergehen tut es sowieso.“ S.172
Wissen wir, wie viele Chancen uns das Schicksal noch gibt?

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Veröffentlicht am 09.07.2023

Wenn der amerikanische Traum ein Traum bleibt

Diese gottverdammten Träume
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Wenn du bereit bist, deine Zelte in einer öden Provinz von Maine aufzuschlagen, deine Abende im Empire Grill verbringen willst, um gewöhnliche Menschen zu beobachten, dann solltest du das Buch lesen. Denn ...

Wenn du bereit bist, deine Zelte in einer öden Provinz von Maine aufzuschlagen, deine Abende im Empire Grill verbringen willst, um gewöhnliche Menschen zu beobachten, dann solltest du das Buch lesen. Denn es wird nicht viel passieren auf den 750 Seiten, keine Action, kein Abenteuer, kein Held wird über sich hinauswachsen. Aber am Ende gehts dir vielleicht wie mir und du würdest gern wiederkommen in die Stadt, in der die Träume wie Treibgut am Flussufer hängen bleiben.

Empire Falls hat seine Blütezeit hinter sich, die Papierfabrik ist geschlossen. C.B. Whiting, der letzte Nachfahre des Familienimperiums, hat es vorgezogen, seine Frau Francine mit Tochter Cindy zurückzulassen und in Mexiko Gedichte zu schreiben. Jahre später, nach seinem Tod, gehört Mrs Whiting noch immer der halbe Ort, auch das Diner samt Miles Roby, dem Manager.
Hoffnungen köcheln in Empire Falls auf Sparflamme, ab und zu werden sie im Empire Grill gewendet unter der steten Beobachtung der Bewohner. Da ist der verschlagene Walt, der Miles mit Ansage die Frau ausgespannt hat und ihn regelmäßig zum Armdrücken herausfordert. Miles zukünftige Ex-Frau Janine, für die ein Orgasmus Grund genug zur erneuten Heirat ist. Max, Miles’ Vater, der sich durchs Leben gaunert und nicht davor zurückschreckt, für seine Sauftouren die Trinkgeldkasse des Diners zu plündern. Und Miles schaut bei allem recht tatenlos zu, denn er muss erkennen, dass er nicht das Leben führt, dass er sich einst erhofft hatte. Er scheint irgendwo zwischen seinen Träumen und dem Verantwortungsbewusstsein festzuhängen. Seine ganze Hoffnung liegt in seiner 14-jährigen klugen, sensiblen und künstlerisch begabten Tochter Tick.

Neben den vielen tiefgründigen Charakteren, die wir durch die multiperspektivische Erzählweise erst allmählich verstehen, arbeitet Russo mit großartigen Bilder, die nicht immer gleich erkennbar sind, mit dem Fortgang der Geschichte aber mit aller Macht deutlich werden. In seinem langen Prolog sieht C.B. Whiting in dem Fluss Knox, der durch den Ort fließt und an dessen Ufer sämtlicher Müll einschließlich eines Elchkadavers angespült wird, einen Planungsfehler Gottes. Wider aller Warnungen lässt er den Fluss begradigen – weil er es kann, weil er Geld hat.
Das sagt nicht nur viel über den Ort aus, sondern wird 700 Seiten später seine Folgen präsentieren. Auch Miles ist einer der Gestrandeten, denn er hatte den Ort längst für sein Studium verlassen, als Mrs Whiting ihn „zurückbeordert“ kurz vor dem Tod seiner Mutter, um kurzfristig das Diner zu übernehmen.
Oder nehmen wir Tick, Miles’ Tochter, meine Lieblingsfigur. Wenn Russo sie mit hängenden Schultern, auf denen ihr viel zu schwerer Rucksack hängt, durch die Straße schleichen lässt, spürt man als LeserIn, dass die Erwartungen, die in sie gesetzt werden, für sie zur Last werden. Immer wieder sind es die Träume der Erwachsenen, die sie auf ihre Kinder projizieren, weil sie sie selbst nicht verwirklicht haben.

Russo hegt viel Empathie für die Menschen, die in ihrer sozialen Schicht festhängen und für die der amerikanische Traum immer ein Traum bleiben wird. Die wie Miles ein zu hohes Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie, ihren Freunden haben und zu viel Anstand besitzen, um sie im Stich zu lassen.
Alles treibt ruhig und gelassen dahin, bis Russo das Ende in einer Katastrophe münden lässt, die sich auf ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahr 1999 stützt, das damals nicht nur die USA erschüttert hat. Wird das zum Weckruf für die Bewohner von Empire Falls, die samt ihrer »gottverdammten Träume« wie Treibgut am Ufer des Knox festhängen?
Alles läuft auf die Frage hinaus, wird es je einer schaffen, seinen Traum zu leben?

Fazit. Das Buch hat ein paar Längen, die es mir nicht immer leicht gemacht haben. Auch die Redudanzen hätte man im Lektorat ausmerzen können. Doch am Ende hat sich alles zu meiner Zufriedenheit gefügt. Erst als ich fertig war, wurde mir die Gewaltigkeit der Geschichte und allen liebevollen Details so richtig bewusst.

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