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Veröffentlicht am 03.09.2023

Rachefeldzug einer Mutter

Sekunden der Gnade
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1971 stellt ein Gericht fest, dass die an öffentlichen Schulen noch immer geltende Rassentrennung verfassungswidrig ist. Letzteres bedeutet, dass ab Herbst 1974 städtische Busse Schwarze Kinder zu Schulen ...

1971 stellt ein Gericht fest, dass die an öffentlichen Schulen noch immer geltende Rassentrennung verfassungswidrig ist. Letzteres bedeutet, dass ab Herbst 1974 städtische Busse Schwarze Kinder zu Schulen transportieren, die bisher durchgehend „weiß“ waren und umgekehrt. Und das führt in Boston zu gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Afroamerikanern.

Mitten in diese Unruhen gerät der Autor Dennis Lehan als Neunjähriger und erzählt uns nun eine Geschichte, die echt unter die Haut geht.

Im irischen Stadtteil »Southie« werden Protestkundgebungen gegen den Gerichtsbeschluss geplant, denen sich auch Mary Pat anschließen will, denn sie hat ihre Gründe, warum alles so bleiben soll, wie es ist.
Mary Pat sie Hilfspflegerin und bringt sich und ihre 17-jährige Tochter Jules gerade so durch. Ihr erster Mann ist tot, ihr zweiter hat sie verlassen und ihr Sohn, ein Vietnamheimkehrer, ist an einer Überdosis Heroin gestorben. Jules war das Einzige, was ihr noch geblieben ist. Doch eines Nachts ist Jules mit ihren Freunden unterwegs und kommt nicht wieder nach Hause.
Es ist die gleiche Nacht, in der ein junger Schwarzer Mann in der U-Bahnstation bei einem Überfall zu Tode kommt, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Und nicht nur Mary Pat ahnt, dass Jules und ihre Freunde darin verwickelt sind.
Mary Pat macht sich mit all ihrem Schmerz auf die Suche nach ihrer Tochter und der Wahrheit. Doch sie rennt vor eine Mauer des Schweigens, was sie rasend vor Wut werden lässt.
Sie scheut auch nicht davor zurück, sich mit der mafiösen Butler-Crew anzulegen, die die wahre Macht in Southie haben. Doch was sie findet, ist auch ihre eigene Schuld, die sie bereit ist zu begleichen.

Lehan ist hier ein literarischer Krimi mit soziologischem Tiefgang gelungen, der detailliert, brutal, blutig und absolut stimmig die Spannungen und Persepektivlosigkeit damals in Boston zeigt.
Mary Pat ist keine sympathische Heldin, die aber mit der Zeit sehr viel Mitgefühl von mir bekam. Aufgewachsen mit Armut, fehlender Bildung und Gewalt kennt sie nichts anderes, als sich mit ihren Fäusten zu verteidigen. Sie weiß, dass die Cops auf der Gehaltsliste von Marty Butler stehen, also lässt ihr gesamtes Umfeld ihr gar keine andere Wahl, als als Selbstjustiz zu üben.
Ihr Gegenpart ist der Polizist Bobby Coyne, ein Vietnamveteran, der seine Drogensucht überwunden hat und Mary Pat aufhalten will. Er verurteilt ihre Vorgehensweise, sieht aber auch, dass das Justizsystem wenig mit Gerechtigkeit zu tun hat.

Lehane zeigt plausibel, wie rassistische Vorurteile entstehen, wie sie von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden und allgegenwärtig sind. Wer sich schwertut, rassistische Beleidigungen zu lesen, sollte die Finger von dem Buch lassen, denn Lehane ist gnadenlos authentisch in seiner Figurensprache.

Es war mein erstes Buch von Lehane, obwohl er mir durch seine Verfilmungen wie »Shutter Island« oder »Mystic River« bekannt ist. Und ich muss zugeben, dass ich mich am Anfang etwas schwertat mit den vielen Namen. Aber als ich drin war, hat mich die Geschichte nicht mehr losgelassen.
Lehane zwingt uns hinzusehen, und legt den Finger in die klaffende Wunde seines Landes, die auch 50 Jahre später nicht verheilt ist – und nicht nur in den USA. Er will, dass wir den strukturellen Rassismus verstehen und die damit verbundene Gewalteskalation.
Fazit
Die Story ist tempogeladen, absolut filmreif und von erschütternder Aktualität. Atmosphärisch dicht erzählt, absolut lesenswert, ganz klare Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 30.08.2023

Gibt es ihn, den Sinn des Lebens?

Und hinter mir das Nichts
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»Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.« S.120

Sara Becker ist Psychotherapeutin und ihr Leben entgleitet ...

»Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.« S.120

Sara Becker ist Psychotherapeutin und ihr Leben entgleitet ihr in dem Moment, als sie vom Suizid ihres Patienten Herrn Mangold erfährt. Sie trifft keine Schuld, doch was für alle anderen nur bedauerlich zu sein scheint, stürzt sie in eine tiefe Sinnkrise. Ausgerechnet Mangold, der ein langweiliger Mensch war, der »seine Unscheinbarkeit bis zur Perfektion exponiert hatte«. Ist auch ihr Leben belanglos? Nur eine Aneinanderreihung von unwichtigen Ereignissen?
Sara gelingt es nicht, loszulassen, alles in ihrem Leben scheint ungewollt, sinnlos. Genauso wie der Umzug zu ihrem Freund. Ist es überhaupt ihr Leben?

»… und wieder fiel mir auf, wie unbarmherzig die Zeit einen durchs Leben scheuchte. Ich konnte sie hören, die Zeit, ihre Stimme drang in meine Ohren. Los jetzt, ein Kind, zwei Kinder, drei. Heiraten, erwachsen werden, du bist schon über dreißig, viel Zeit bleibt dir nicht mehr, schien sie zu rufen.« S.184

Alles um Sara herum wird enger, ihr wird klar, dass sie nicht mehr einfach so weitermachen kann. Gedanklich gleitet sie immer wieder zurück in die Vergangenheit – in ihr Elternhaus, wo es immer so still war, wo man den Schein wahrte, zurück zu Yannick, ihrem ersten Freund. Es wirkt fast so, als suche sie nach dem Punkt in ihrem Leben, an dem sie falsch abgebogen sei.
Realität und Fiktion verschwimmen zunehmend, als sie Nikto begegnet, die offenbar alles von ihr weiß.

Ich habe beim Lesen lange nach einer Handlung, einem roten Faden gesucht, bis ich verstanden habe, dass ich Saras Gedankenkarussell folgen soll. Nachfühlen, nachspüren. Dieser Moment, der plötzlich alles infrage stellt, der den Boden unter den Füßen wegzieht. Wie kann es sein, dass der Tod eines Menschen in allen nur ein kurzzeitiges Mitgefühl auslöst, die Welt sich aber weiterdreht und das eigene Leben aus der Verankerung reißt?

»Da ist dieser Drang bei den Menschen, alles zu verstehen, alles klassifizieren zu wollen – aber das lähmt nur, das schläfert das Gehirn ein.« S.196

Es ist, als suche Sara nach Halt, findet keinen und gleitet immer tiefer in einen Strudel aus Zweifeln und Angst. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss, Saras Gedankenwelt, die letztlich aus mehr Fragen als Antworten besteht, das keiner Logik folgt und bis ins Surreale driftet, Gedanken, die repetitiv an Mauern stoßen.
Berthe Obermanns gelingt es, eine tiefe innere Auseinandersetzung mit dem Sinn des Daseins spürbar in ganz eigene Worte zu fassen. Sie zeigt, dass dies auch mit einem inneren Diskurs über den eigenen Tod einhergeht – oft ein Tabu-Thema, über das wir nicht gern nachdenken.
Es ist kein Buch, das man eben mal so wegliest, denn immer wieder fand ich Parallelen zu meinem eigenen Leben, zu Fragen, die auch ich mir an manchen Wendepunkten meines Lebens gestellt habe. Fragen, die nicht immer Antworten haben. Aber manchmal nur eine Lösung zulassen.
Sprachlich habe ich die Autorin wiedergefunden, klar, präzise, auf einem hohen Niveau. Ihre Fragestellungen und Essenzen haben mich oft innehalten und reflektieren lassen. Zudem arbeitet sie mit vielen Symbolen und Elementen, die wie ein Anker wirken und letztlich für mich zu etwas wie dem anfangs vermissten rote Faden wurden.
Sie schafft eine zunehmend beklemmende, düstere Atmosphäre, die einen mitzureißen droht und in einem dramatischen Ende gipfelt.

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Veröffentlicht am 29.08.2023

Kalmann is back

Kalmann und der schlafende Berg
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„Wenn mein Vater diesen Brief nie geschrieben hätte, dann hätten mir die FBI-Beamten nicht den Arm verdreht und mein Gesicht auf die Motorhaube des schwarzen Cherokee-Jeeps geknallt. Und das Silvesterfeuerwerk ...

„Wenn mein Vater diesen Brief nie geschrieben hätte, dann hätten mir die FBI-Beamten nicht den Arm verdreht und mein Gesicht auf die Motorhaube des schwarzen Cherokee-Jeeps geknallt. Und das Silvesterfeuerwerk in Raufarhöfn hätte ich auch nicht verpasst. Das habe ich nämlich noch nie verpasst, das ist hier Tradition, und Traditionen sind wichtig, auch wenn man manchmal gar nicht mehr weiß, wie sie angefangen haben. So wie diese Geschichte.“ S.9

Auf kein Buch habe ich mich in diesem Monat so gefreut wie auf das. Endlich ist Kalmann wieder da!
Und seine Abenteuer sind diesmal echt nicht ohne. Puh, manchmal kann er wohl ganz froh sein, dass er nur »Fischsuppe« im Kopf hat, wie er selbst sagt. Aber der Reihenfolge nach.
Kalmann hat endlich eine Einladung von seinem Vater bekommen und reist nach Virgina. Corona hat zwar die Welt im Griff, aber er ist ja quasi irgendwie amerikanischer Staatsbürger. Ganz schön aufregend für ihn dort, denn er landet doch glatt nach einem »Familienausflug« in der Verhörzelle des FBI in Washington. Aber »kein Grund zur Sorge«, denn die hübsche Agentin will von ihm nur wissen, was ihn hierher geführt hat. Also erzählt uns Kalmann die Geschichte seines Großvaters, denn damit hat ja wohl alles angefangen.

„Ich war sehr stolz, der Enkel eines Mannes zu sein, über den die Leute sprachen. Und ich bin es noch immer, ich brauche nur an Großvater zu denken, denn Stolz ist wie ein Döschen voll Gammelhai, das man in der Hosentasche mit sich trägt. Proviant für die Seele.“ S.57

Tja, in welches Schlamassel Kalmann da wieder hineingerät, ist echt zum Schmunzeln. Kalmanns Heimreise kommt für ihn schneller als gedacht.
Zu Hause in Raufarhöfn wird’s wieder brenzlich für ihn, denn jemand ist der Meinung, dass Kalmanns Großvater vielleicht keines natürlichen Todes gestorben ist. Und eh er sich versieht, muss er tatsächlich wieder einen Mord aufklären und das ganz ohne seine Waffe, denn die hat man ihm ja nach seinem letzten »Fall« abgenommen.

Was für eine klug konstruierte Geschichte. Mich hat wirklich jede Wendung eiskalt erwischt. Aber als Tipp vorweg, ich empfehle, den ersten Teil zu lesen, da Kalmanns doch sehr spezielle Art und Weise dort bestens verständlich gemacht wird. Auch einige Figuren haben einen erneuten Auftritt, die man hier allein vielleicht nicht ganz einordnen kann. Schaden kann es jedenfalls nicht, denn Band 1 war echt toll.

Für alle, die Kalmann noch nicht kennen, er ist geistig in manchen Dingen auf dem Niveau eines Grundschülers stehengeblieben, lebt und denkt nach seinen eigenen Regeln und ist hin und wieder von der Außenwelt emotional überfordert. Schmidt schlüpft beim Erzählen in die Ich-Perspektive seines Protagonisten und als Leser*innen lernen wir, die Welt aus Kalmanns Augen zu betrachten. Das ist zunächst gewöhnungsbedürftig, da sich der Schreibstil entsprechend anpasst, hat man sich aber erst mal eingegroovt, ist es oft zum Schmunzeln, manchmal auch sehr nahegehend. Auch in diesem Buch hat mich der Autor für Kalmanns Wesen einnehmen können und Verständnis wecken können, dass der Umgang ein anderer ist, der manchmal etwas Zeit und Einfühlungsvermögen benötigt. Jedenfalls ist mir Kalmann jetzt noch mehr ans Herz gewachsen.

Schmidt schreibt sehr unterhaltsam, dass es mir auch diesmal schwerfiel, das Buch aus der Hand zu legen. Ihm gelingt es spielerisch, politische Ereignisse einfließen zu lassen, die aus Kalmanns Sicht nochmals einen anderen Touch bekommen. Corona spielt zwar als zeitlicher Hintergrund eine Rolle und wir erinnern uns sicher alle, dass wir manchmal daran verzweifelt sind, aber Schmidt zeigt auch, wie diese Einschränkungen sich auf Menschen wie Kalmann auswirken.
Zum Ende zieht die Spannung richtig an, ganz eines guten Krimis würdig. Alle Stimmungsbilder von Island katapultierten mich auch diesmal sofort ans Ende der Welt, wo (wie wir lesen können) eigentlich doch mehr passiert, als gedacht. Für mich war der zweite Teil sogar noch einen Tacken besser und ich hoffe sehr auf einen dritten.
Fazit
Wie anders doch die Welt aussieht, wenn man mal die Perspektive wechselt. Eine gelungene Fortsetzung – spannend, unterhaltsam und humorvoll.

Leider kursieren bereits einige Rezis im Netz, die die interessanteste Wendung spoilern, worüber ich mich echt ärgern könnte. Wer es also noch lesen will, sollte vielleicht einen Bogen um manche Rezis machen.

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Veröffentlicht am 26.08.2023

Wo ist die Wut in der Klimabewegung?

WUT
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Es gab einen bestimmten Grund, weshalb ich das Buch lesen wollte, nämlich die Aktionen der »Letzten Generation zu verstehen, die überall zu hitzigen Diskussionen führen. Deshalb fange ich meine Rezension ...

Es gab einen bestimmten Grund, weshalb ich das Buch lesen wollte, nämlich die Aktionen der »Letzten Generation zu verstehen, die überall zu hitzigen Diskussionen führen. Deshalb fange ich meine Rezension heute mal von hinten an. Raphael Thelen ist ein ehemaliger SPIEGEL- und ZEIT-ONLINE-Jounalist, der seinen Job an den Nagel gehangen hat und sich seit Januar in der Letzten Generation engagiert. Er begleitet schon seit Jahren die Klimabewegung, hat ein Sachbuch dazu geschrieben und setzt sich in seinem Debüt »Wut« mit der emotionalen Seite des Klimawandels und der Klimabewegung auseinander. Wie weit darf oder muss ziviler Ungehorsam heute gehen? Wie entsteht Wut und kann sie die Welt verändern?

Kommen wir zum Inhalt.
Drei junge Menschen sind mitten in einer »Latschdemo« in der Gluthitze Berlins. Sie fragen sich, ob diese Art von Protest überhaupt noch zu Ergebnissen führt. Aus einem spontanen Aktionismus heraus stürmen sie die Zentrale der DE (Deutschen Energie) und nehmen die Chefin als Geisel. Doch dann wissen sie nicht weiter. Parallel läuft die Demo weiter durch Berlin, wird von der Polizei verfolgt und besetzt die Baustelle einer Pipeline. Wut und Verzweiflung treibt die Aktivisten an und hat natürlich Folgen.

Hauptsächlich folgen wir den Geschehnissen und Gedanken aus der Perspektive von Vallie, aber auch Sara, ihrer Freundin, und Wassim kommen zu Wort, indem uns Thelen die Vergangenheit der jungen Protagonisten beleuchtet, ihren unterschiedlichen Backgrounds, ihre ganz persönlichen Gründe, sich der Klimabewegung anzuschließen. Das ist für mich sehr schlüssig dargestellt. Auch den spontanen Affekt, die DE zu stürmen. Nur würde ich es nicht Wut, sondern Verzweiflung nennen.

Thelen will zeigen, dass Wut alte Denkmuster aufbrechen und zu neuen Lösungen führen kann, so sein O-Ton in einem Interview. Er ist der Meinung, es braucht mehr Wut, um die großen Ziele zu erreichen.

Bin ich ganz bei ihm und ich finde, das alles hat er bis auf eine Ausnahme, die für mich inakzeptabel war (Robert, der nicht schlüssig bis zum Ende gezeigt wurde), auch plausibel dargestellt.
Über das Buch zu schreiben ist mir nicht leicht gefallen, denn dafür ist es einfach zu nah an den aktuellen Geschehnissen dran, die ich nur schwer ausblenden kann. Soll es nun eine reine Fiktion sein oder sollen hier Möglichkeiten aufgezeigt werden? Jetzt im Nachhinein bleibt seine Geschichte für mich zweigeteilt. Bis zum Ende der Demo, die übrigens in einem filmreifen Ende gipfelt, fühlte es sich für mich sehr glaubhaft an, nah an einem denkbaren Szenario. Allerdings ist seine abschließende Zukunftsutopie aus der Luft gegriffen, auch wenn es für ihn persönlich vorstellbar ist. Das hat die durchweg gute Story für mich zerstört.

»Was wir brauchen, ist nicht ihr Weiterso, sondern einen Neuanfang. Was wir brauchen, ist nicht ständige Angst, die uns eng, klein und hilflos macht, sondern Mut, Weite und Liebe.« S.152

… schreibt er kurz vor dem Ende. Ja, da stimme ich ihm zu. Aber Neuanfang bedeutet für mich eine Veränderung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, denn nur so lassen sich auch viele andere Missstände, für die heute gekämpft wird, angehen und überwinden. Hätte das Buch etwas mehr Umfang gehabt und wäre ein Weg dorthin sichtbar gewesen, hätte ich ihm gern auch seine utopischen Ausblicke abgenommen. Aber so steht dieser Blick auf eine komplett andere Gesellschaftsordnung, die aus illusorischen Lebensmodellen besteht, isoliert am Ende. Aber gut, jeder Generation hat ihre Träume, ich lasse sie träumen.
Allgemein hätte das Buch gern etwas wütender sein dürfen, weniger verzweifelt. Für mich ist das Buch leider kein Hoffnungsträger, auch wenn ich voll hinter den zu erreichenden Zielen stehe. Das mag aber an meiner Erwartung gelegen haben.

Fazit
Ich würde das Buch gern allen empfehlen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen wollen, denn es bietet in jede Richtung kritischen Diskussionsstoff.

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Veröffentlicht am 23.08.2023

Eine verbotene Liebe in Belfast 1975

Übertretung
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1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und ...

1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und bedient im Pub ihres Bruders Eamonn überwiegend protestantische Gäste. Zu Hause muss sie sich um ihre Mutter kümmern, die seit dem Tod ihres Mannes trinkt.
Vormittags arbeitet Cushla an einer Grundschule, wo die Unterrichtsstunde mit den neusten Nachrichten und deren Gräueltaten beginnen. Sprengfallen, Brandsätze, Plastiksprengstoff – gehören zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes.
Den kleinen Davy hat Cushla besonders in Herz geschlossen, da er von den anderen Mitschülern gemobbt wird und aus schwierigen Verhältnissen kommt, denn seine Eltern haben unterschiedliche Konversionen und sind immer wieder Ziel von Anfeindungen. Als wäre ihr Leben nicht schon kompliziert genug, verliebt sie sich in den älteren, protestantischen, verheirateten Anwalt Michael, der auch IRA-Mitglieder verteidigt.
Es ist erschütternd zu lesen, wie Cushla in diesen unsicheren Zeiten versucht, einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, den Kindern in der Schule trotz allem Sicherheit und Mitgefühl zu geben.
Im Vordergrund steht aber Cushlas verbotene Liebe zu Michael. Welche Konsequenzen das für sie haben kann, wird mit dem Fortgang der Geschichte immer deutlicher. Lehrerinnen sind schon für weniger entlassen worden. Doch auch ihre Hilfsbereitschaft für Davys Familie ist anderen ein Dorn im Auge und wird ihr, aber vor allem Davy, schneller zum Verhängnis, als gedacht.
Ich kenne diese Phase des Nordirlandkonfliks nur noch als Kind, aber es haben sich einige Bilder bei mir eingebrannt, die durch diese Geschichte wieder lebendig wurden.

Kennedy schafft eine zunehmend bedrückende Atmosphäre, denn die tägliche Gewalt zieht sich fast beiläufig und nüchtern durch den Roman. Wir erleben, wie der Alltag mitten im Nordirlandkonflikt aussieht, wie gewöhnliche Menschen sich nicht einschüchtern lassen und versuchen eine gewisse Normalität beizubehalten, ihr Leben trotz allem zu genießen, eine Hochzeit zu feiern, auch wenn diese verlegt werden muss, weil auf das gebuchte Hotel am Vortag ein Brandanschlag verübt wurde. Die Angst lauert hinter jeder Ecke, schaut man mit bangem Blick doch laut Verhaltensregeln morgens erst unter sein Autor, bevor man zur Arbeit fährt. Selbst auf dem Weg zur Party muss man mit den Schikanen britischer Soldaten rechnen.
Trotz ständig gegenwärtiger Gewalt pflanzt Kennedy immer wieder kleine Momente der Hoffnung ein, oder humorvolle, herzerwärmende Szenen, ohne kitschig zu werden. Doch alles weist von Beginn an darauf hin, dass die Geschichte nicht gutausgehen kann. Ständig zieht die Spannungsschraube an, aber auf die Wendung, die Kennedy am Ende einbaut, war ich nicht gefasst, auch wenn die Anzeichen die ganze Zeit da waren.
Ihr Schreibstil ist betont nüchtern und sachlich, auch die Liebesgeschichte wird wenig romantisch erzählt. Trotzdem schafft es Kennedy, uns die Charaktere, insbesondere Cushla und Davy, sehr nahezubringen und uns an sie zu binden. Und das war auch der Grund, weshalb mir das Ende sehr naheging.
Ich hatte zwar das Gefühl, dass Kennedy hier einiges an Geschichtswissen voraussetzt, das mir fehlte und mir dadurch vielleicht ein paar Kleinigkeiten entgangen sind, aber es bleiben trotzdem alle Zusammenhänge verständlich. Hilfreich sind auch die Anmerkungen im Anhang, die einige politische Details erklären.
Ein aufwühlender und intensiver Roman voller scharfsinniger Beobachtungen und brillanten Details, der absolut lesenswert ist und mich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.
»Übertretung« ist der erste Roman der irischen Autorin Louise Kennedy und stand auf der Shortlist des Women‘s Prize for Fiction.

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