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Veröffentlicht am 20.08.2023

Ein Sommernachtstraum aus Österreich

Nincshof
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Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. ...

Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. Denn die sind ein recht sonderbares Völkchen, das gern seine Ruhe vor der Außenwelt hat.

Ach wo soll ich nur anfangen bei dieser wunderbaren Geschichte? Am besten mit Erna Rohdiebl, die mit ihren fast 80 Jahren und zwei Plastikhüften nachts bei der verreisten Nachbarin über die Hecke steigt und im Pool baden geht. Wie in jedem Dorf üblich, wissen morgens alle davon. Auch der Bürgermeister, denn genau so eine freiheitsliebende und mutige Mitstreiterin hat ihm noch gefehlt. Zu dritt überzeugen sie Erna bei Pusztafeigenschnaps und Speckbroten, den Oblivisten beizutreten. Seit Monaten entfernen sie Ortsschilder, löschen Wikipediaeinträge, manipulieren sogar Navis und besprühen auswärtige Radfahrer mit Jauche, damit um Himmelswillen keiner den Weg nach Nincshof findet. Denn sie wollen am liebsten von allen vergessen (lat. oblivisci) werden und zurück in ihr heimeliges, eigenbrötlerisches Dorfleben – so, wie es früher laut einer Legende einmal war. Wären da nicht die Zuagrasten mit ihren leuchtenden Irrziegen, die daraus am liebsten eine Touristenattraktion machen wollen.

Man sollte hier keine oberflächliche nur auf Humor abzielende Dorfgeschichte erwarten. Ja, ich hatte ein Dauergrinsen im Gesicht, denn das kauzige Personal hat das Herz am rechten Fleck und die Autorin ist nie drüber mit ihren skurrilen Schilderungen. Außerdem lehnt sie sich an den österreichischen Sprachgebrauch an, was ich wirklich gern lese. Hinter ihrer fast märchenhaften Geschichte verbirgt sich einiges. Wünschen wir uns nicht alle gern mal in dieser medial aufmerksamgeilen Welt ein ruhiges Plätzchen? So ganz ohne Verpflichtungen, Steuern, Oberhäuptern und Religion?

Was das Buch aber so liebenswert macht, sind die herzigen und aberwitzigen Details. Hier vererben die Frauen ihren Nachnamen und zetteln die kleinste Revolution der Welt an, hier gibst ein Jesusschwein im Krippenspiel, Pusztafeigen, mit denen man zwar monatelang überleben kann, aber auch schnell Gespenster sieht. Bisschen Asterixfeeling hat man schon beim Lesen, das gebe ich zu. Und wer sich jetzt an die Leky erinnert fühlt – ja, mir ist es auch ein bisschen so gegangen.
Hin und wieder sind ein paar Passagen zu langatmig geworden, wie zum Beispiel die Erörterung des Oblivismus. Auch Selma hätte es nicht in der Ausführlichkeit gebraucht, da es sehr von der Geschichte ablenkte. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.
Es ist einfach herrlich schräg, ich kann es nur jedem als DAS SOMMERBUCH ans Herz legen. Und wenn es abends bisschen kühler ist, lässt sich auch über das eine oder andere nachdenken. Erna Rohdiebl hat jetzt einen festen Platz in meinem Herzen. Ich hoffe, wir bekommen noch mehr von der jungen Autorin zu lesen.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Bemüht korrekt mit angezogener Handbremse

Die Bücherjägerin
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Vielleicht vorweg, wie erwartet, handelt es sich hier um eine äußerst leichte Lektüre, weshalb ich meine Ansprüche runtergeschraubt habe. Trotzdem konnte mich die »nette« Geschichte nicht erreichen, ebenso ...

Vielleicht vorweg, wie erwartet, handelt es sich hier um eine äußerst leichte Lektüre, weshalb ich meine Ansprüche runtergeschraubt habe. Trotzdem konnte mich die »nette« Geschichte nicht erreichen, ebenso wenig wie die Protagonisten. Nun denn, schauen wir mal, woran das liegt.

Zum Inhalt sag ich nichts, der ist überall nachzulesen. Die Autorin hat sich echt bemüht, das ist in jeder Szene spürbar gewesen, denn alles funktionierte nach altbewährten Schreibratgebern. Will sagen, ich spüre zwar, dass sie hier ihr ganzes Herzblut reingesteckt hat, uns aber letztlich zu bemüht, zu verhalten und zu konstruiert eine Geschichte präsentiert, die nichts Neues erzählt. Ich denke, ihr fehlt die Erfahrung und sie sollte sich etwas mehr trauen, denn Talent hat sie.
Was uns hier als Roadtrip angepriesen wird, ist wohl eher eine Kaffeefahrt bei Sonnenschein und freier Autobahn. Allgemein wird etwas zu dick aufgetragen, denn unter einer »Odyssee« (dieses Wort benutzt die Autorin wiederholt) verstehe ich tatsächlich was anderes. Nun gut, dass Benjamin sich in seinem Heimatort London auf dem Weg zu seinen Eltern MIT Navi verfährt, ist schon echt abenteuerlich.
Also, man nehme zwei verpeilte Charaktere, Sara und Ben, und schicke sie nach einiger Diskussion auf eine Reise nach Frankreich. Gut denke ich, jetzt gehts los. Nein, erst mal gehts wieder in die Vergangenheit von Sara. Und das ständig. Irgendwie kam die Geschichte einfach nicht in die Gänge, maximal in den 2. mit angezogener Handbremse. Okay, irgendwann sind sie dort, passiert aber auch nicht wirklich was. Außer dass sie Bonnie und Clyde dort lassen. Ach ja, diese Schildkröten! Stand bestimmt auch im Schreibratgeber, dass sowas immer tierisch gut ankommt bei den Lesern. Ach komm, hauen wir gleich noch nen Uhu in die Story. Hey, was hatten die denn für eine Funktion?
Ihr merkt schon, hier baut sich latenter Frust in mir auf, sorry.

Mit den Figürchen hatte ich auch so meine Problemchen. Sara hat zwar ein Händchen für Bücher aber nicht für Menschen, hatten wir jetzt auch schon reichlich. Da tauchen während der Geschichte einige Ungereimtheiten auf. Und echt jetzt, sie glaubt, dass man mit einem Rechtslenker nicht durch Europa fahren darf? Oh man! Wenn hier ein Witz geplant war, dann hat sie ihn vor die Wand gefahren.
Überhaupt wirken alle Figuren wie auf dem Reißbrett gezeichnet, um in den Plot zu passen. Sara hätte auch jeden x-beliebigen Beruf haben können, denn es geht viel mehr darum, wie sie tickt und von Amalia erzogen wurde. Schade.
Mir ist auch die Zielgruppe noch nicht ganz klar. Teilweise kam es mir vor wie ein Aufklärungsbuch, mit Rätseln für Grundschüler. Dann spickt sie ihren Text wieder mit seltenen Fremdwörtern, aus denen sich nicht mal ein Sinn beim Lesen ergibt. Macht man nicht. (Inkommensurabel – ach ja, wer benutzt das Wort nicht täglich!)
Der Schreibstil ist sonst genregerecht leicht lesbar, bis auf die etwas seltsam anmutenden Genderexperminte, für die sie sich im Nachwort rechtfertigt. Ja, hier wollte die Autorin es wieder allen recht machen. Apropos recht machen: Die Autorin, so kommt es mir vor, will sich hier politisch korrekt am Zeitgeist entlang hangeln. Gefühlt befinden wir uns mehr in der Kindheit der Protagonistin, die von Amalie sowas von überkorrekt erzogen wurde, dass es mir schon unglaubwürdig vorkam. Sie hat wirklich nie, nie einen Fehler gemacht. Und wirklich kein Thema ausgelassen.

Und was ist denn nun mit der Jagd nach dieser Karte? Hab ich mich auch ab und zu gefragt. Das läuft so nebenbei mit. Auch hier ist manches an den Haaren herbeigezogen, wenig abenteuerlich aber mit peinlichen Äußerungen gegenüber den Briten bestückt. Wo die Autorin doch so drauf bedacht ist, keinen zu diskriminieren.

Bestimmt wird das Buch vielen gefallen. Für mich war es ein kurzer Ausflug ins völlig falsche Genre, das mich eher augenrollend zurückgelassen hat.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Unheimlich bewegend und mitreißend

Kontur eines Lebens
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Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird ...

Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird derweil von ihrem Sohn und seiner schwangen Frau auf dem Sperrmüll entsorgt. In den einsamen Stunden drängen nach und nach alte Erinnerungen ans Licht.
Damals in den 60ern lebte sie mit Anfang 20 noch bei ihren Eltern. Eingeengt von deren autoritären Erziehung und konservativen Wertvorstellungen blieb kaum Freiraum für ihre persönliche Entwicklung, geschweige denn für ihre Träume und Wünsche. Dann verliebte sie sich in den verheirateten Otto und wurde trotz aller Vorsicht schwanger – ein absoluter Skandal, vor allem für ihre Eltern.

»Du bist eine ordinäre Schlampe!« … die Worte ihrer Mutter.

»Du musst es zur Welt bringen und danach vergessen.« … die Worte ihres Vaters.

Diese Worte blieben mir beim Lesen fast im Hals stecken. Für mich unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit wohl keine Seltenheit.
Jetzt mit über achtzig Jahren kehren alle Erinnerungen zurück, die sie verdrängt und nie jemandem erzählt hat. Auch nicht ihrem Louis, den sie später geheiratet hat und mit dem sie sehr glücklich war. Doch sie spürt, dass das Erlebte heraus muss, dass sie sich endlich aussprechen muss.

Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. Schon bei Friedas erster Nacht im Heim hatte der Autor mich emotional voll am Wickel. Vielleicht liegt es an meinem Alter und dass mich vielleicht nicht mehr allzu viele Jahre von dem Thema Pflege trennen. Es war fast fühlbar, wie unsicher Frieda war in der neuen, fremden Umgebung, wie sie unwirsch wird, ihr alles zu viel wird. Ihre Scham, auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Die Spannungen zwischen ihr und ihrem Sohn, das Unverständnis füreinander. Langsam reift in ihr der Vorsatz, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und nicht mehr zu schweigen.

Auch die junge Frieda mit ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, nach Freiheit, Liebe und Verständnis, konnte Robben sehr authentisch einfangen. Doch ab dem Moment, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen konnte, hat es mich innerlich zerrissen. Ich war schockiert, weil es sich trotz Fiktion so real angefühlt hat. Robben hat einen sehr einfühlsamen Schreibstil, sehr lebendig und schafft eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Die abwechselnden Zeitebenen in jedem Kapitel treiben die Geschichte in einer Geschwindigkeit voran, dass mancher Krimi daneben verblassen würde. Verschnaufpausen sind kaum drin.

Ich denke, die meisten von uns kennen die 60er Jahre nur aus Erzählungen, zumindest geht es mir so. Dennoch ist uns das Rollenbild der Frau aus der Zeit bekannt. Sittsamkeit, Jungfräulichkeit, Unterordnung werden von der Kanzel gepredigt. Und »ist es doch mal passiert«, schweigt man es tot, löst man es ungesehen vor der Nachbarschaft, ja sogar vor dem Rest der Familie. Und die Lösung hieß in den meisten Fällen, dass die Mutter das Kind wegzugeben hatte. Und die Kirche hatte dabei keinen unerheblichen Anteil.
Mit Frieda hat Robben hier stellvertretend eine Frauenfigur geschaffen, die dieses Schicksal duldsam, schweigsam hinnahm, die ohnmächtig gegenüber der damaligen Moralvorstellungen war. Die aber beeindruckende Stärke zeigte, sich nicht dem Schicksal untergeordnet hat und mit Louis eine zweite Chance auf eine glückliche Beziehung bekam und Mutter wurde.

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Veröffentlicht am 12.08.2023

Ein beeindruckendes Debüt

Meine langen Nächte
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»Ich war eine braune Schwester, Dienstnummer 2712207. Ich war die einzige in der gesamten Klinik und die erste in Göttingen.« S.198

»Ich war noch keine dreißig Jahre als, als ich starb, in einer Dezembernacht.« ...

»Ich war eine braune Schwester, Dienstnummer 2712207. Ich war die einzige in der gesamten Klinik und die erste in Göttingen.« S.198

»Ich war noch keine dreißig Jahre als, als ich starb, in einer Dezembernacht.« S.8

Anna Alrutz ist jetzt nur noch ein ruheloser Geist. Nach ihrem frühen Tod wird sie immer wieder vom Wind erfasst, nach oben getragen und in die Bruchteile ihres Lebens fallengelassen. Aus dieser ungewöhnlichen und gelungenen Perspektive erzählt Anna von ihrem Leben, das sie nun wieder und wieder durchleben muss.

Anna entstammt einem liberalen, gut situierten Elternhaus in Braunschweig. Sie selbst sieht in sich ein beliebiges blondes Mädchen. In ihrer Kindheit verbringt sie die Sommerferien mit ihrer Familie in Salzgitter. Hier verliebt sie sich als Jugendliche unglücklich in einen verheirateten Pastor.
Sie ist ein freiheitsliebendes, wissbegieriges Kind, ihren Bruder Willi, der ständig isst, wird sie nie richtig verstehen. Ihre Schwester Hedwin kränkelt von Geburt an und ihr Leben findet nur hinter Stickereien und dem Klavier statt. Wie ihr Vater will Anna Ärztin werden und beginnt als eine von vier Frauen ihr Medizinstudium.
Wie wird aus ihr eine NS-Schwester, die gemeinsam mit einem Arzt Frauen mit Erb- und Geisteskrankheiten zwangssterilisiert? Die aus vollster Überzeugung hinter Hitlers Ideen steht?
Diese Fragen versucht Fabiani in ihrem fiktiven Roman – der dennoch eine gewisse Realitätsnähe spüren lässt – zu beantworten. Es fühlt sich wie eine Beichte Annas an, wenn sie versucht zu zeigen, wie unbedarft sie war, enttäuscht von einer unerfüllten Liebe, zurückgewiesen. Wie schnell Propaganda bei Jugendlichen einen sensiblen Nerv trifft.

»Mach den Wald zu einem Ort voller Menschen verschlingender Ungeheuer und halte den verängstigten Mädchen dann deinen starken Arm hin, und sie werden dir folgen.« S.107

Fabiani gelingt es, den Zeitgeist der Zwischenkriegsjahre einzufangen, die Suche nach Ordnung und Struktur einer jungen Frau, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten will. Die sich aber genauso nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt. Annas Geist kommentiert und reflektiert ihre Kindheit und Jugend und allmählich begreifen wir, warum die Nazi-Ideologie in ihr auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Wäre da nicht Thierry, der französische, jüdische Medizinstudent, in den sie sich verliebt. Wäre da nicht ihre Freundin aus Kindheitstagen, die in die Klinik eingeliefert wird. Denn plötzlich gerät ihre Überzeugung ins Wanken.

»Ich würde sie hier gerne noch einmal treffen, hinter einer dieser Türen, all diejenigen, die wir nicht retten konnten. Ich würde ihnen gerne sagen, dass ich von einer ungeheuerlichen Idee besessen war, die ich für richtig und nützlich hielt. Dass ich mich verirrt hatte, vollkommen geblendet war …« S.173

Fabiani hat mich mit ihren poetischen Worten durch ihre bewegende Geschichte getragen, mal humorvoll und leicht, doch zunehmend düster und tragisch. Am Ende lastet es schwer auf der Seele, wenn man versteht, wie leicht Menschen zu manipulieren sind. Natürlich geht es auch nicht spurlos an einem vorbei, wenn man die kruden Theorien hinter der Zwangssterilisation liest und die direkten Auswirkungen von Annas Arbeit sieht.
Ein Buch, das berührt, das nicht leicht zu ertragen ist und lange nachhallt. Ein Roman mit Tiefgang, dem ich sehr viele Leser*innen wünsche.

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Perfekter Abschluss der Tom-Babylon-Reihe

Violas Versteck (Tom-Babylon-Serie 4)
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Raabe hat sich für den Abschluss der Tom-Babylon-Reihe noch mal so richtig ins Zeug gelegt. Chapeau! Oder war es doch noch nicht das Ende?

Tom wacht in einem Krankenhaus in London auf und hat keine Ahnung, ...

Raabe hat sich für den Abschluss der Tom-Babylon-Reihe noch mal so richtig ins Zeug gelegt. Chapeau! Oder war es doch noch nicht das Ende?

Tom wacht in einem Krankenhaus in London auf und hat keine Ahnung, wie er hierher kam. Dr. Harris, eine junge Ärztin, versucht telefonisch seine Familie und seinen Chef zu erreichen. Mit dem Ergebnis: Tom hat seinen Job als Polizist hingeschmissen, sein Vater ist bei einem Überfall in der U-Bahn ums Leben gekommen, Anna ist mit dem gemeinsamen Sohn Phil nicht zu erreichen und sein Haus wird gerade verkauft. Und Tom? Er wurde vor drei Tagen nackt und bewusstlos in einer Mülltonne gefunden.
Während Toms sich auf eigene Faust weiter auf die Suche nach seiner Schwester Viola macht, ist Sita Johanns unterwegs nach Traunstein ins Hochsicherheitsgefängnis, in dem Walter Bruckmann einsitzt – auch auf eigene Faust. Dort will sie ihn mit einigen Fragen konfrontieren. Denn Tom war klar, dass Bruckmann – wie auch immer – etwas mit dem Überfall zu tun hat. Nur Stunden später findet sich Sita fixiert in einer Zelle wieder. Und Bruckmann wird ihre einzige Möglichkeit sein, hier wieder rauszukommen.

Dieser Teil knüpft direkt an seinen Vorgänger an, in dem Tom ein Bild von Viola als erwachsene Frau findet. Es ist daher notwendig, alle drei anderen Teile vorher zu lesen. Raabe wirbelt nochmals alles gehörig durcheinander, nur um es dann präzise und lückenlos zu einem glaubhaften Ende zu führen. Immer wieder holt er alte, uns bekannte Szenen hoch, wodurch wir quasi die gesamte Reihe Revue passieren lassen können. Und trotzdem hält er die Spannung auf einem maximalen Level. Geschickte Zeit- und Ortswechsel tun ihr Übriges.

Gut durchdacht, mit anhaltend hohem Tempo hat er ein grandioses, stimmiges Finale hingelegt. Und keine Angst vor den 620 Seiten, die hatte ich in zwei Tagen durch, ging gar nicht anders. Ach ich sag jetzt einfach nichts mehr dazu, Raabe ist für mich – ja ich wiederhole mich gern – der beste deutsche Thrillerautor, den wir haben. Viel psychologischer Tiefgang, rasante und bildliche Sprache, lückenlose, komplexe Konstruktion und Charaktere mit Ecken und Kanten (auch die Nebenfiguren), wie sie sein sollten. Raabe beherrscht einfach alles – außer 0-8-15.

Ach ja, ich werde Tom Babylon echt vermissen, aber wer weiß, vielleicht hören wir irgendwann noch mal von ihm?

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