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Veröffentlicht am 05.06.2023

Unfassbar gut!

Gleich unter der Haut
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»Und was wünscht du dir vom Leben?«, frage ich.
»Weiß nicht. Tot sein vielleicht«, antwortet sie, und ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser. S.88

Es gibt Bücher, da weiß ich nach nur wenigen Absätzen, ...

»Und was wünscht du dir vom Leben?«, frage ich.
»Weiß nicht. Tot sein vielleicht«, antwortet sie, und ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser. S.88

Es gibt Bücher, da weiß ich nach nur wenigen Absätzen, dass sie mich ganz tief in meinem Inneren treffen werden. Ich schalte runter in den ersten Gang, lese keine Sätze, sondern lese jedes einzelne Wort, weil es genau an der Stelle steht, wo es hingehört. Und dieses Buch hat mich in meinen Sessel gepresst, hat von mir verlangt, jedes einzelne Wort zu spüren.
Ein schonungsloser Angriff auf meine Seele. Ich musste mich entscheiden, lasse ich es zu, dass mich die Geschichte berührt, oder schütze ich mich? Immer wieder legte ich das Buch weg, musste durchatmen, musste mich erden. Wollte ich wirklich wissen, wie es weitergeht? Nie lag ein Buch so schwer in meiner Hand. Was bitte ist das für ein grandioses Debüt?!

Das Buch spielt im Winter in Konstanz und wer diese einheitsgrauen Tage am See kennt, weiß, was das mit einem machen kann. Wir lernen Niklas kennen, der in der Trauer um seine Eltern feststeckt und sich um seine demenzkranke Oma kümmert. Seine Last, seine Überforderung, seine Einsamkeit waren von Beginn an spürbar. In einer nebelverhangenen Nacht lernt er Lou kennen und verliebt sich in sie. Auch Lou kämpft mit ihren Dämonen, ihren Erinnerungen, die sie aber mit Niklas nicht teilen möchte. Zwei einsame, verletze Seelen, traumatisiert, in sich selbst gefangen. Können sie sich Halt geben? Niklas Schwester, die ihre Trauer unter Essstörungen begräbt, warnt ihn, dass Lou ihm nicht guttut.

Die moderne griechische Tragödie: die Suche nach dem Sinn des Lebens, die allgegenwärtige Todessehnsucht, Ausweglosigkeit, die auf eine unausweichliche Katastrophe zusteuert. Berthe Obermanns packt hier alles rein, Missbrauch, Selbstverletzung, nicht bewältigte Trauer, Verlust, Trauma, etc. Viel. Zu viel, dass man Niklas und Lou gern etwas davon abnehmen möchte.

Das Buch hat mich an schwere Zeiten in meinem Leben erinnert und noch jetzt beim Schreiben der Rezension habe ich einen Kloß im Hals und einen Knoten im Magen. Ja, das Buch ist schwere Kost und sicher nicht für jeden geeignet. Aber genauso fühlt es sich an, wenn die Welle über einem zusammenbricht. Wenn man sich zu jemanden hingezogen fühlt, aber immer wieder die Flucht ergreift, wenn Erinnerungen unaushaltbar sind, dass man die Flucht vor sich selbst ergreift.
Die Autorin hat hier sehr lebensnahe, tiefe ProtagonistInnen geschaffen, denen ich jedes Wort, jeden Gedanken abgenommen habe, deren Leid und Verzweiflung mich zutiefst berührt und zu Tränen gerührt haben. Sprachlich war das Buch aufs Wesentliche reduziert, was die Geschichte genaustens reflektiert hat, absolut perfekt. Ich habe lange nichts so gelungenes gelesen, kann es eigentlich kaum glauben, dass es ein Debüt ist. Muss ich noch sagen, dass ich dieses Highlight jedem ans Herz lege, der sich der Thematik gewachsen sieht?

Liebe Berthe Obermanns, ich ziehe meinen Hut vor dir, das war ganz großes Kino. Das Buch ist jetzt voller Post-Its, denn mit deinen Worten hast du mir aus der Seele geschrieben, Worte, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Vielen Dank dafür, auch wenn ich jetzt wahrscheinlich nie mehr unbefangen über die Rheinbrücke laufen kann. Denn:

»… manchmal, in bestimmten Momenten, wünschte ich, mein Kopf würde auch eine Auswahl treffen, aussortieren, einen festen Kokon um all die Gedanken und Erinnerungen spinnen, die ich nicht haben möchte, sie darin festzurren, ihnen jede Bewegungsmöglichkeit nehmen. Aber er tut es nicht, mein Kopf, so sehr ich mich auch bemühe, er vergisst nicht.« S.77

Und noch ein Zitat, das für immer bleibt:
„Wenn es am Ende keine Erinnerungen gibt oder nur schlechte, gab es kein Leben.“ S.64

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Veröffentlicht am 01.06.2023

Das Sterben einer Stadt

Mohawk
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»Der Pool, dessen Wasser mittlerweile abgelassen wurde, ist ein klaffender Betonschlund … ein paar trockene Blätter treiben raschelnd in der Nähe des Abflusses. Er sieht ihnen bei ihrem Tanz zu und wie ...

»Der Pool, dessen Wasser mittlerweile abgelassen wurde, ist ein klaffender Betonschlund … ein paar trockene Blätter treiben raschelnd in der Nähe des Abflusses. Er sieht ihnen bei ihrem Tanz zu und wie sie an den türkisen Längsseiten des Pools entlangstreichen, ehe sie wieder zurückgleiten, um auf einen neuen Windstoß zu warten.« S.160

So ungefähr fühlt sich das Leben 1967 in Mohawk, der kleinen Stadt im Norden des Bundesstaates New York an. Bröckelnde Fassaden der mühsam vom Mund abgesparten Häuser, geschlossene Gerbereien, die einst nur wenig Wohlstand aber viele Träume in die Kleinstadt brachten. Man sieht den anderen mit neidischen oder bemitleidenden Blicken zu, gefangen im eigenen Unvermögen, ihr zu entkommen. Ein halbherziges Aufbäumen, dann lässt man sich wieder treiben – mit der Eintönigkeit, mit der Zeit, mit dem vorbestimmten Schicksal. Bis erneut ein Windstoß alles für einen Moment durcheinanderbringt.

Russo hat mich mit seiner Art zu erzählen von Anfang an begeistert, voller Witz und bitterer Ironie. Kein Wunder, wenn er einem Atemzug mit Irving genannt hat. Mit viel Liebe zum Detail entwickelt er ein kluges Gesellschaftsporträt einer Kleinstadt, die langsam verfällt. Das bisschen Aufschwung zahlen sie heute mit einer erhöhten Krebsrate. Doch die Menschen haben sich arrangiert, will man aus dem Alltag ausbrechen, geht man zum Glückspiel oder ein paar Drinks in Harrys Grill.

„Dann borgte er sich von Harry einen Fünfziger und gesellte sich zu der Spielrunde im oberen Stock. Die anderen Spieler waren ausschließlich Familienväter, die genug von ihren Familien hatten und vom Anblick der Truthahnkarkasse offenbar furchtbar deprimiert waren.“ S.177

Eine der zentralen Figuren ist Mather Grouse, der rechtschaffene, ehrliche Familienvater, der nie trank, wettete oder spielte. Auch hielt er sich aus den krummen Machenschaften in der Fabrik raus. Daher wird er über die Jahre zum Außenseiter.

„Warum verkündeten sie bei jeder Gelegenheit, Mohawk sei die Hauptstadt der Lederindustrie, und ermutigten neue Arbeiter, sich hier anzusiedeln, wo doch alle wüssten, dass auch so schon nicht genug Arbeit für alle da sei? Diese Leute fliesten ihre Pools mit dem Schweiß und der Arbeitsmoral von Männern wie Marther Grouse.“ S.241

Doch Marther hat Träume für seine Tochter Anne und ermutigt sie früh, mit ihrem Leben etwas Besseres anzustellen. Anne jedoch ist zurückgekehrt mit ihrem Sohn Randall, kümmert sich um ihren schwerkranken Vater, kann aber in den Augen ihrer Mutter Mrs Grouse nichts richtig machen. Mrs Grouse und ihre alte zänkische Schwester Milly sind für mich zwei hervorragende, kauzige Figuren, wenig sympathisch aber herrlich gezeichnet.
Dann wären da noch … ach was, das überlassen wir lieber Russo, seine Figuren vorzustellen. Denn das macht er wirklich bravourös. Ich habe sie alle vor Augen gehabt, sie geliebt, gehasst, Verständnis entwickelt oder mit ihnen mitgelitten. Ihre Frustration und Resignation war stets greifbar, lebt doch keiner das Leben, das er sich erträumt hat. Was bis zum Ende bleibt, ist die Hoffnung, es möge alles gutgehen.

Mohawk ist hauptsächlich ein Roman über die beiden Familie Grouse und Gaffney über drei Generationen und sechs Jahre hinweg. Die leise Spannung entsteht allein dadurch, dass Russo uns die Verbindungen der Charaktere untereinander erst nach und nach aufdeckt. Mohawk ist voll von liebenswerten Versagern, die sich durchs Leben treiben lassen. Und aus dem leichten Windhauch wird am Ende ein ausgewachsener Orkan, der die ständig schwelende Fehde eskalieren lässt.
Russo bedient sich dem etwas antiquierten allwissenden Erzählers, was ich für sehr gelungen empfand. Obwohl die Geschichte zwischen 69 und 71 spielt, gibt es nur wenige zeitlich einzuordnende Detail, was das Buch somit zu einem zeitlosen Lesevergnügen werden lässt.

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Veröffentlicht am 30.05.2023

Debüt mit Stärken und Schwächen

22 Bahnen
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Wahls Debüt hatte viele kleine gute Momente, ob Tilda nun an der Kasse saß und »Kundenraten« gespielt hat, oder abends überfahrene Radieschen gegessen hat. Auch ihre Wortschöpfungen wie die »Abendbrottischfamilie« ...

Wahls Debüt hatte viele kleine gute Momente, ob Tilda nun an der Kasse saß und »Kundenraten« gespielt hat, oder abends überfahrene Radieschen gegessen hat. Auch ihre Wortschöpfungen wie die »Abendbrottischfamilie« stechen immer wieder raus. Ihr Erzählstil ist modern und ließ mich schnell durch die Geschichte fliegen. Ihre Grundidee einer dysfunktionalen Familie, in der sich die Studentin und ihre 10-jährige Schwester um die alkoholkranke Mutter kümmern, ist jetzt nichts Neues, aber es kommt ja auf die Umsetzung an.
Ich habe nichts gegen eine distanzierte Schreibweise, aber hier hat es dazu geführt, dass ich die Handlung nur selten spüren konnte. Berührt hat mich das Verhältnis der Schwestern zueinander, auch der tägliche Umgang mit der Mutter, die nur selten einen lichten Moment hat, entweder betrunken auf der Couch liegt oder in ihren Depressionen versunken ist. Und trotzdem hat mir viel gefehlt. Wo ist die Auseinandersetzung mit dem Thema, wo sind (hoffnungsvolle) Lösungsansätze?
Die Autorin fixiert sich hier auf Tilda, die sich für ihre Schwester aufopfert, sie vor der gewaltbereiten und lieblosen Mutter beschützt. Trotz der Verantwortung verliert sie ihr großes Ziel nicht aus den Augen – die Doktorandenstelle in Berlin. Dennoch war die Lösung in Hinsicht auf Ida für mich wenig akzeptabel. Vielleicht bin ich für solche YA-Geschichten zu alt oder mein Beschützerinstinkt zu groß. Vielleicht mag es an der Realität liegen, dass auch hier das Jugendamt mit Abwesenheit geglänzt hat.
Leider raste die Story auch an mir vorbei, ohne wesentliche Ecken und Kanten, an denen sich Tilda stoßen könnte, das war mir zu glatt, zu gewollt.

Über den Umgang mit Drogen und Alkohol in diesem Buch kann man geteilter Meinung sein. Für mich klang das alles nach einer Message wie: Hey, es ist okay, wenn du mal einen schlechten Tripp hast. Und wer bitte lässt eine 10-jährige Red Bull trinken? Ich mag solche Dinge einfach nicht in Romanen. Ebenso wenig wie übermäßige Fehler, die so auffallend sind, dass ich mich frage, wo hier das Lektorat und Korrektorat seine Augen hatte.
Für mich leider kein stimmiges Buch, aber die Leute werden es trotzdem lieben. Das, was ich normalerweise an dünnen Büchlein mag, eine verdichtete, atmosphärische Handlung, jedes Wort an seinem Platz, dass einem am Ende nichts gefehlt hat, war hier einfach nicht gegeben.

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Veröffentlicht am 26.05.2023

Wieder mit spannendem Hintergrund

Stille Sainte-Victoire
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Da wo einst Paul Cézanne seinen Pinsel schwang, um die Sainte-Victoire in jedem erdenklichen Licht zu malen, wandelten ein paar Millionen Jahre zuvor die Dinosaurier. Und hier (vielleicht an der Stelle, ...

Da wo einst Paul Cézanne seinen Pinsel schwang, um die Sainte-Victoire in jedem erdenklichen Licht zu malen, wandelten ein paar Millionen Jahre zuvor die Dinosaurier. Und hier (vielleicht an der Stelle, wo einst Cézannes Staffelei stand) findet Capitaine Roger Blanc einen versteinerten Riesenzahn. Allerdings steckt der in der Brust des Ingenieurs Roland Dallest. Doch warum sollte jemand den friedliebenden, gewissenhaften Mann umbringen, der erst seit kurzen hier die Statik des Staudamms untersuchen soll? Sein Zwillingsbruder Christian, ein Paläontologe, der ganz in der Nähe eine Ausgrabung leitet, sieht für Blanc schon eher nach einem Ziel aus.
Rademacher entwickelt eine interessante Ermittlung, die in beide Richtungen geht. Deshalb richten er und sein Team ihre Anstrengungen darauf, wer ein Motiv haben könnte, Christian zu töten. Immer wieder müssen sie sich an den Ausgangspunkt ihrer Ermittlungen zurückbegeben, weil sich keins finden lässt, auch wenn es an Verdächtigen nicht mangelt.
Die Untersuchungen sind aufreibend und belastend, besonders für Blanc, denn sie bringen ein altes, von ihm gut gehütetes Ereignis an die Oberfläche, über das er bisher mit niemanden gesprochen hat.

Wie vom Autor gewohnt, hält er wieder einiges an Hintergrundwissen für uns parat. Und ehrlich – Dinos sind doch immer spannend. Aber dass es auch einen Markt für die Fossilien gibt, mit denen man Millionen machen kann, fand ich sehr interessant. Nebenbei erfahren wir auch einiges über den Bau des Staudamms von Bimont und den Barrage Zola, einem Stausee, an dem der Vater des berühmten Schriftstellers Emil Zola beteiligt war. Es wird also wieder sehr geschichtsträchtig.
Aber konnte mich der Kriminalfall auch überzeugen?

Rademachers größte Stärke ist zweifellos, spielerisch die Handlung mit der Beschreibung der Natur zu koppeln. So wie er mir die Gegend ins Bild setzt, kann ich mir gut vorstellen, dass Cézanne hier unendlich viele Motive gefunden hat.
Nach meinem letzten, etwas enttäuschenden Teil 5 »Dunkles Arles« konnte mich Rademacher mit diesem, seinem 10. Band, wieder mehr überzeugen. Ich habe ihn gern gelesen, allerdings reicht er nicht an seine starken Vorgänger heran.
Blanc, Fabienne und Markus waren diesmal mehr oder weniger immer als Dreiergespann unterwegs, weshalb mir der Blick auf die anderen Figuren zu schwach war. Sie verblassten zu Handlangern und Nebensätzen, das fand ich schade.
Leider vermochte es Rademacher diesmal nicht, trotz der vielen Verdächtigen und unterschiedlichen Motive, mich vom eigentlichen Täter abzulenken. Denn den hatte ich recht früh ausgemacht und dem war dann auch so.
Nichtsdestotrotz war es wieder ein guter Krimi. Und wer die Reihe bisher gelesen hat, wird sicher wissen wollen, ob sich Blanc an Aveline, Madame le Juge, wieder die Zähne ausbeißt.

Wie immer lässt sich auch dieser Band ohne Vorkenntnisse lesen. In einem kurzen Nachwort lässt uns Rademacher wissen, was alles wahr und wie viel seiner Fantasie entsprungen ist. Toll finde ich auch die Karte der Gegend im Einband, die uns zeigt, wo die Geschehnisse stattfinden.

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Veröffentlicht am 24.05.2023

Eine Emanzipationsgeschichte, die lange nachhallt

Das fragile Glück der Harmonie
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Das Ende der 80er Jahre in China ist geprägt von Reformen. Für Lu Tanya ist es die Chance, ihrem ärmlichen Leben zu entfliehen und Journalistik in Shanghai zu studieren. Dort verliebt sie sich in den deutschen ...

Das Ende der 80er Jahre in China ist geprägt von Reformen. Für Lu Tanya ist es die Chance, ihrem ärmlichen Leben zu entfliehen und Journalistik in Shanghai zu studieren. Dort verliebt sie sich in den deutschen Austauschstudenten Norman. Doch solche Beziehungen werden von der Partei nicht gern gesehen. Obwohl sie jederzeit denunziert werden könnte, kämpft sie um ihre Liebe. Doch die Angst ist ihr stetiger Begleiter.
Im zweiten Teil folgen wir den beiden nach Berlin. Tanyas Neuanfang gestaltet sich schwierig, denn sie versteht kein Wort in dem ihr so fremden Land und hält sich mit schlechtbezahlten Jobs über Wasser.

Lingyuang siedelt ihre bittersüße Liebesgeschichte in einer politisch brisanten Zeit an. In einem Land, das mir fremd ist, auf das aber 1989 die ganze Welt blickte, als auf dem Tian’anmen-Platz, dem Platz des himmlischen Friedens, die friedlichen Proteste vom Militär niedergeschlagen wurden. Die Autorin zeigt uns an Tanyas Familie, welche Auswirkungen die Kulturrevolution auf die Bevölkerung hatte, wie allgegenwärtig die Bespitzelung durch die Partei ist und welche verheerende Folgen es haben kann, wenn man gegen Bestimmungen verstößt. Denn die Kontrolle der Partei reicht bis ins Tanyas Privatleben. Es könnte sie am Ende ihren Studienplatz kosten, wenn sie von Norman schwanger würde.

In einer klaren, direkten aber nicht weniger eindrücklichen Sprache zeichnet die Autorin eine ängstliche, unsicher junge Frau, die manchmal selbst nicht weiß, woher sie die Kraft hat, um ihre Liebe zu kämpfen. Politik interessiert sie nicht, doch die Geschehnisse öffnen ihr die Augen, denn ihre Familie ist, und war immer, von den Ereignissen direkt betroffen.

Für mich fühlte sich die Geschichte von Beginn an sehr authentisch an. Kein Wunder, verarbeitet Lingyuang hier doch ihre eigene Geschichte, wie ich erfahren habe. Eine junge Frau, die lieben möchte, wen sie will, die sich kaum vorstellen kann, dass die Liebe zu einem Ausländer etwas Unerwünschtes in den Augen der Partei sein könnte. Hätte ich selbst im Ansatz nicht ähnliches in der damaligen DDR erlebt, wäre es wohl kaum begreiflich, wie weit sich ein Machtapparat in ein privates Leben einmischen kann.
Aber Frau zu sein in China bedeutet noch so viel mehr, all das hat mir die Autorin sehr nahegebracht und mir einen intimen Blick auf die Kultur eines Landes geboten, das ich nur aus den Nachrichten kenne. Das war für mich die Stärke des Romans. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht, manches war zu schnell aberzählt. Ich mochte Tanyas Entwicklung, nachdem sie in Deutschland kurz nach der Wende vorn vorne starten musste. Denn hier warten ganz neue Probleme auf sie. Allerdings hätte ich mir mehr Einblicke in Normans Verhalten und seine Gründe gewünscht.
In allem war es eine außergewöhnliche Geschichte, die mir für vieles die Augen geöffnet hat, die ich gern gelesen habe und allen empfehlen möchte, die sich für China interessieren.

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