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Veröffentlicht am 29.10.2021

Traurig aber Wahr

Wenn ich wiederkomme
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Rumänien, Iași
In dem ländlichen, kleinen Dorf Rădeni lebt eine vierköpfige Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen. Der Vater Filip ist seit Jahren arbeitslos, die Mutter Daniela, gelernte Bürokauffrau, ...

Rumänien, Iași
In dem ländlichen, kleinen Dorf Rădeni lebt eine vierköpfige Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen. Der Vater Filip ist seit Jahren arbeitslos, die Mutter Daniela, gelernte Bürokauffrau, ist es ebenfalls und wenn sie überhaupt Arbeitslosengeld kriegen, versuchen die mit diesem wenigen Einkommen die Familie über dem Wasser zuhalten. Als die Kinder klein waren, ging es noch einigermaßen, doch mittlerweile ist die Tochter Angelica fertig mit dem Gymnasium und möchte studieren und der Sohn Manuel soll zum Gymnasium gehen. Um ihre Kinder bessere Zukunft und Existenz zu ermöglichen, verlässt die Mitte vierzig-jährige Daniela ohne Abschied, mitten in der Nacht ihre Familie und fährt nach Italien, um in Mailand als Pflegekraft zu arbeiten. Doch manchmal kommt alles anders als geplant...

Nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland kennt jeder die Situation: Pflegekräfte, Saisonarbeiter, Billiglöhner aus Armenländern, die meistens Schwarz und unter Mindestlohn sehr hart arbeiten. Väter, Mütter... die keine andere Möglichkeiten haben um ihre Kinder zu ernähren. Menschen, die ihre Familien verlassen, bis zur Erschöpfung Jobs erledigen und nicht mal angemessen bezahlt werden, während die Kinder und die älteren Familienmitglieder in der Heimat alleine zurechtkommen müssen. Eine von den hunderten Müttern ist auch Daniela.

Mit leisen Tönen, klar, nüchtern, dennoch sehr eindringlich und sympathisch erzählt der italienische Autor über den heutigen Gesellschaftsspalt innerhalb von der EU. Ein Yin und Yang Kreis, eine Win-win-Situation von total gegensätzlichen Schichten, die ohne den anderen nicht Funktionen schienen. Denn wo Daniela Zeit hat und dringend Geld braucht, haben die Reichen zwar Geld, aber keine Zeit für Pflege oder Betreuung für die Älteren und Kindern. Doch diese Art von „Arrangement“ hat auch Schattenseiten. Zwar kommen hier hauptsächlich Daniela und ihre Kinder ans Wort, doch wer zwischen den Zeilen liest, merkt es schnell, auch für die anderen Beteiligten alles nicht so einfach ist.

Marco Balzano hat diese Thematik grandios umgesetzt und er hat diese Frauen und die Betroffenen ehrlichen Stimmen gegeben, die mich zutiefst berührt und nachdenklich zugelassen haben.

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Veröffentlicht am 28.10.2021

Es nicht das, was der Klappentext verspricht!

Das Glashotel
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Wieder einmal ein sehr gehyptes Buch und wiedermal frage ich mich, ob ich die Bücher zu kritisch lese!? Denn angefangen von meiner kleinen Dorfbuchhandlung, bis zu großen, bekannten Buchhandlungen wurde ...

Wieder einmal ein sehr gehyptes Buch und wiedermal frage ich mich, ob ich die Bücher zu kritisch lese!? Denn angefangen von meiner kleinen Dorfbuchhandlung, bis zu großen, bekannten Buchhandlungen wurde dieses Buch als „Leseempfehlung“ vorgestellt und bei einigen Buchbloggern sogar als „Jahreshighlight“ bezeichnet. Klar, die Geschmäcker sind anders und man darf nicht darüber diskutieren, doch mittlerweile ist meine Verzweiflung sehr groß.

Die Geschichte fängt an der Westküste Kanadas mit einem Protagonisten namens Paul an. Paul hat Drogen und Familienprobleme, denn sein Vater als er 4 Jahre alt war, hat eine Nachbarin geschwängert, sein Sohn und seine Frau verlassen, um mit ihr eine neue Familie zu gründen. Von dieser Ehe hat Paul seine Halbschwester Vincent, wo er sie nicht hasst, sondern die Situation, meinte er. Jahre später fangen die Halbgeschwister zusammen an, in „Glas Hotel“ arbeiten, wo Vincent als Barkeeperin den 34 Jahre älteren Jonathan, den Hotelbesitzer, kennenlernt und mit ihm zusammenzog, wurde Paul gekündigt und ist von der Oberfläche verschwunden. Vincent wurde „nur zu sagen“ Gattin von Milliardär Jonathans, reist mit ihm um die Welt, begleitet ihm von Party zu Party. Bis Jonathan wegen dem Schneeballsystem verhaftet wurde.

So weit hört es sich interessant an, oder? Nun, wenn die Geschichte nur mit diesen paar Figuren erzählt wurde, konnte es mich „vielleicht“ auch überzeugen, doch es war nicht der Fall. Ich habe hier über viele Personen und über deren Leben gelesen, wo die Hälfte, meiner Meinung nach, total überflüssig waren und mich gar nicht interessiert hatten. Dazu kommt ein sehr gewöhnungsbedürftiger Aufbau des Buches, der mich stellenweise nicht nur verwirrt, sondern echt genervt hat. Die Zeitspannen und die Charaktere wechseln so abrupt, sodass ich am Anfang immer wieder zurückblättern und ab Seite 70 mir die Namen und Zeiten notieren musste.

„Elegant und verführerisch.“ Meint The Guardian, ich dagegen hier habe weder was Elegantes noch was Verführerisches gelesen, sondern über jede Menge Betrug, Geldgier und Betrüger! Achtung! Es ist eine sehr spezielle Geschichte und der Klappentext wiest einen in die völlig andere Richtung! 2,5 Sterne

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Veröffentlicht am 25.10.2021

Mehr als eine #MeToo Geschichte

Blaue Frau
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Adina wächst in einem abgelegenen tschechischen Dorf in der Region Riesengebirge auf. Ein Örtchen, die mit Armut gekennzeichnet ist und überwiegend vom deutschen Skitourismus lebt. Ohne Altersgenossen, ...

Adina wächst in einem abgelegenen tschechischen Dorf in der Region Riesengebirge auf. Ein Örtchen, die mit Armut gekennzeichnet ist und überwiegend vom deutschen Skitourismus lebt. Ohne Altersgenossen, vaterlos, nur mit ihrer Mutter und mit den seelischen, gleichsam materielle Überbleibsel von ihren Großeltern lebt Adina zwischen einer Schule und einem Glühweinstand, wo sie Teilzeit arbeitet und Deutsch lernt, chattet in ihrer Freizeit mit Leuten aus Rio über Gott und die Welt. In dem Chatraum heißt sie „Der letzte Mohikaner“.

Wo am 18. September 2006 zum ersten Mal eine Frau für die Deutsche-Bundesregierung gewählt wurde, reist die 21-jährige Adina mit schwer erspartes Geld in der Gürteltasche, eine Tüte Apfelspalten und mit seit Kindheit geliebtes grünen Pullover nach Deutschland ein. Mit den Ohren Frau Merkels Rede: „Niemand kann uns daran hindern, neue Wege zu gehen.“ Im Gedanken: Deutschland ist meine Zukunft. Denn Adina möchte hier Naturwissensschafen studieren.

In Berlin angekommen, lernt sie nicht nur Deutsche-Grammatik, sondern auch eine Fotografin kennen und Dank ihr bekommt sie ein bezahltes Praktikum in Uckermark. Weil sie jeden Cent für ihr zukünftiges Studium braucht, ertrugt sie den Namen, die ihr Chef aus Vergessenheit ihr gegeben hat. In Brandenburg heißt sie „Nina“. Doch es ist nicht der letzte Name, den sie bekommen hat.

Die Geschichte fängt in Helsinki an. Eine junge Frau sitzt in einem Plattenbau, in von einem fremden möblierten Wohnung, und beobachtet die Bäume vor dem Fenster. Dabei versucht sie eine Anzeige gegen Sexualgewalt zu formulieren und erinnert sie sich an den letzten zwei Jahren.

Mittlerweile hat Adina drei Grenzen und drei Sprachen hinter sich, schwer traumatisiert aber ein bisschen verliebt ist sie auch. Denn als sie nach Finnland flüchtete, lernt sie Leonides, einer estnischer Professor und EU-Abgeordneten, kennen, der sie liebevoll „Sala“ nennt. Und es ist der vierte Name, den sie bekommen hat...

Adina, kleine Mohikaner, Nina, Sala... Eine junge Frau mit vier Namen, die in 21. Jahrhundert innerhalb EU flüchten und in der europäischen Gesellschaft um eigener Identität kämpfen musste.

Schnörkellos und rätselhaft nimmt Strubel ihre LeserIn auf eine Zugreise. Langsam aber sicher gleiten wir zwischen drei Staaten, halten wir an um die neuen Gäste einsteigen zu lassen, fahren wir eine weile mit denen, machen wir neue, teilweise unangenehme Erfahrungen und in der nächsten Haltestelle lernen wir neue Fahrgäste kennen. Allerdings wer hier eine schnelle Fahrt wünscht, ist in dem falschen Zug einstiegen. Denn unsere Zugführerin Adina fährt gemächlich und nimmt ihre Umgebung sehr detailgetreu wahr. Doch wer sich auf diese Reise einlässt, wird mit unaufgeregte aber künstlerisch fein gemalte #MeToo Bilder belohnt.

Eine Geschichte wie ein Moor. Steckt man erst mal drin, kann man sich nicht mehr befreien! Wohl verdiente Deutschen Buchpreis 2021!

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Veröffentlicht am 17.10.2021

Ein Klassiker, der Spaß macht.

Sodom und Berlin
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„Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ hat Yvan Goll (1891 - 1950) sich selbst beschrieben. Ein deutsch-französischer Schriftsteller ...

„Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ hat Yvan Goll (1891 - 1950) sich selbst beschrieben. Ein deutsch-französischer Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinem surrealistischen, kritischen und skurrilen Dramen und Romane bekannt war. Sein Berlin-Roman "Sodome et Berlin“ hat er 1929 in Frankreich veröffentlicht, erst wurde das Buch 1980 auf Deutsch bei Fischer-Verlag erschienen. Dies ist Neuübersetzung von Gerhard Meier, der literarische Werke aus dem Türkischen und Französischen übersetzt, unter anderem Nobelpreisträger Orhan Pamuk.

Odemar Müller heißt Golls Protagonist. Groß, dünn, blond, blauäugig. Sohn eines thüringischen Oberförsters, gewachsen in Vaters privater Klassiker-Bibliothek. Corpsstudent aus Bonn, Reaktionär, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume. Überzeugte deutscher Soldat, begeisterte Spielhöhlen Gast, Freigeist, Frauenheld, Betrüger...

Zynisch, grotesk, stellenweise skurril aber sehr bildhaft und fein gewürzt mit bitterbösen Wahrheiten nimmt Yvan Goll seine Leser*in nach ersten Weltkriegszeiten Berlin mit und durchführt mit Odemar eine satirische Stadtrundfahrt. Mit dabei sind vielschichtige, kuriose Figuren, die mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezauberten. Ich hatte nicht ein einziges Mal Gefühl gehabt, als ob lese ich einen Klassiker, denn der Text wirkte mir sehr modern. Es ist wirklich eine ausgezeichnete Wiederentdeckung von Manesse Verlag, welche ich mit viel Vergnügen gelesen hab und für historische Romanliebhaber wärmsten empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 17.10.2021

Tragikomisch, vielstimmig, bitterböse

DAFUQ
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Die 28-jährige Anja wurde wegen unangemeldeten Demonstration gegen Regierungskorruption festgenommen und zu zehn Tage Arrest verurteilt. Sie landet in eine Moskauer Gefängniszelle, in dem sie mit weiteren ...

Die 28-jährige Anja wurde wegen unangemeldeten Demonstration gegen Regierungskorruption festgenommen und zu zehn Tage Arrest verurteilt. Sie landet in eine Moskauer Gefängniszelle, in dem sie mit weiteren fünf Frauen -die ebenfalls wegen geringfügigen Ordnungswidrigkeiten sitzen müssen- nicht nur die Toilette, sondern auch eine Tasse lauwarmen Tee teilt. Die jungen Frauen stammen aus völlig anderen Gesellschaftssichten ab, dennoch reden die gerne miteinander, spielen erfundene Spiele und erzählen aus dem eigenen Leben. Anja nimmt alles erstmals wie eine Anekdote auf, die sie hinterher ihren Freunden erzählen möchte, denn das Essen schmeckt gut, die Insassen sind in Ordnung und es herrscht keine Gewalt, doch die Tage vergehen. Anjas Mitinsassen verlassen eine nach dem anderen die Zelle und sie bleibt mit ihren Gedanken und ihre Wahnvorstellungen alleine...

Hinter diesem „Gangsterhaften“ Titel, und ein Cover welches mich an einen modernen „Drogenroman“ erinnert, verbirgt sich eine aktuelle Geschichte über heutigen Russland. Sehr mutig, zugleich zornig ergreift die Autorin einige Themen wie russische Gesellschaftsspalt zwischen Armut und Reichtum, traditionelle Rollenverteilung, Regime-Gläubigkeit, Unabhängigkeitsdrang und Sexualität. Klingt zu Politisch? Ist es aber nicht. Denn Jarmysch hat ihre Figuren sehr kreativ und vielfältig kreiert und ihnen lustigen Stimmen gegeben, sodass ich immer wieder bei Dialogen lauthals lachen musste.

Kira Jarmysch ist als Alexej Nawalnys Pressesprecherin bekannt und es ist ihrer erster Roman, in dem sie einige biografische Eckdaten mitverarbeitet hat. Ein gut gelungenes, interessantes, außergewöhnliches und lesenswertes Debüt.

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