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Veröffentlicht am 27.03.2022

Freunde und Helfer oder Problemfälle

Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt
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Man muss kein Woke-Aktivist sein, um mitunter beim Gedanken an die Polizei ein mulmiges Gefühl zu bekommen - zu viele Skandale, zu viele Vorkommnnisse. Ob Chatgruppen mit rassistischen, homophoben oder ...

Man muss kein Woke-Aktivist sein, um mitunter beim Gedanken an die Polizei ein mulmiges Gefühl zu bekommen - zu viele Skandale, zu viele Vorkommnnisse. Ob Chatgruppen mit rassistischen, homophoben oder frauenfeindichen Inhalten, ob Berichte über überzogene Gewalt und willkürliche Kontrollen gerade von Angehörigen von Minderheiten. Problematische Einzelfälle, heißt es immer wieder, wenn die Polizei irgendwo in Deutschland in die Schlagzeilen gerät. Doch mittlerweile haben sich so viele dieser "Einzelfälle" zusammenaddiert, dass die Frage aufkommt: Hat die Polizei ein Problem?

Mit ihrem Buch "Die Polizei: Freunde, Helfer, Staatsgewalt" haben der Kriminologe und Polizeiforscher Tobias Singelnstein und der Rechtsanwalt Benjamin Derin sowohl das Selbstbild und die Geschichte der Polizei wie auch gesellschaftlichen Wandel beim Blick auf die Polizei untersucht. Dabei machen sie auch klar: Es gibt nicht "DIE" Polizei, wie jeder andere Berufsstand gehen Polizisten mit ganz unterschiedlichen Motiven, Mentalitäten und Einstellungen in ihren Beruf. Der Unterschied zwischen einem Polizisten und einem Bäcker, Verwaltungsangestellten oder einer Ärztin ist allerdings: Polizisten vertreten das Gewaltmonopol des Staates. Sie haben qua Amt Rechte und Befugnisse, die ein Normalbürger nicht hat, von Kontrollmechinsmen bis zu Schusswaffen.

Es geht um Cop Culture und (behördliche) Polizeikultur, um Erfahrungen mit Kriminalität und Brennpunktvierteln, die auch den Blick von Polizisten auf andere Menschen prägen können, bis hin zu Verfestigung von strukturellem Rassismus. Ist die Polizei ein Spiegelbild der Gesellschaft? Nein, sind die Autoren überzeugt. Allerdings sei die Polizei in den vergangenen Jahren diverser geworden: Der Frauenantel ist ebenso gestiegen wie die Zahl von Polizisten aus Einwandererfamilien. Ob das allerdings auch zu einer Veränderung der Cop Culture führt - davon zeigen sich die Autoren nicht überzeugt.

Singelnstein und Derin zeigen die Auswüchse wie das Nordkreuz- oder Hannibal-Netzwerk mit Beteiligung rechtsextremistischer Polizisten ebenso auf wie die Frankfurter Polizeiskandale, die etwa im vergangenen Jahr zur Auflösung des dortigen SEK führten. Sie schildern das Versagen der Sicherheitsbehörden nach den NSU-Morden, aber auch die Bemühungen, Ausbildung und Zugang zum Polizeidienst so zu verändern, dass Problemfälle gleich herausgefiltert werden können. Allerdings: Überalterung und Nachwuchsmangel sind auch bei der Polizei ein Thema, so manche Anforderung könnte also gesenkt werden. Zum frühzeitigen Erkennen und melden von Missständen plädieren sie für Polizeibeauftragte außerhalb der Behördenhierachie - bisher noch längst nicht in allen Bundesländern gang und gäbe.

Auch die polizeiinterne Lobbyarbeit und die Rolle der Polizeigewerkschaften, der Umgang mit Fehlerkultur sind ein Thema des Buches, das auf aktuelle Forschungsergebnisse verweist. Insgesamt ein ausführlicher und trotz wissenschaftlicher Sprache gut lesbarer Text, in dem es nicht allein um Rechtsextremismus-Probleme, sondern Strukturen und Besonderheiten der Polizei insgesamt geht

Veröffentlicht am 27.03.2022

Leben im Ausnahmezustand

Kangal
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Ein Leben im Ausnahmezustand, mit all seinen Folgen für zwischenmenschliche Beziehungen, steht im Mittelpunkt von "Kangal" von Anna Yeliz Schentke. Für Dilek und ihren Freund Tekin, ein junges Paar aus ...

Ein Leben im Ausnahmezustand, mit all seinen Folgen für zwischenmenschliche Beziehungen, steht im Mittelpunkt von "Kangal" von Anna Yeliz Schentke. Für Dilek und ihren Freund Tekin, ein junges Paar aus Istanbul. ist mit dem Ausnahmezustand in der Türkei plötzlich alles anders. Nicht nur, dass alte Treffpunkte in Cafés und Bars plötzlich immer weniger werden, auch das Misstrauen und die Angst angesichts von Verhaftungen, Terrorgesetzen und Denunziationen zerstört den Zusammenhalt in der Clique der jungen Leute, die die Entwicklung in ihrer Heimat kritisch sehen.

Dilek hat sich unter ihrem Pseudonym Kangal in sozialen Medien geäußert, selbst enge Freunde wissen nicht, wer sich hinter diesem Namen verbirgt. Doch nun ist die Lebensgefährtin einer Freundin verhaftet worden. Sind die Sicherheitsbehörden ihr schon auf der Spur? steigert sie sich in etwas hinein? Zu Beginn des Buches ist Dilek am Flughafen, bangt an der Passkontrolle, ob man sie ausreisen lässt nach Frankfurt, wo ihre Cousine Ayla lebt.

Als Kinder waren sich Dilek und Ayla nahe, geradezu unzertrennlich, bis ein Zerwürfnis zwischen ihren Müttern auch sie trennte. Zögernd nimmt Dilek Kontakt zu Ayla auf. Die Sehnsucht, die enge Verbindung von einst wieder aufleben zu lassen, liegt im Widerstreit mit der Angst, ob sie Ayla trauen kann. Schließlich war es auch die türkische Diaspora in Deutschland, die Erdogan zu Wahlsiegen verholfen hatte, sind die deutschen Türken häufig deutlich konservativer als ihre Landsleute gerade im säkular geprägten Istanbul.

Tatsächlich ist Ayla eine der Deutschländerinnen, die die Türkei durch eine rosarote Brille sieht - das Meer, das Wetter, die Mentalität der Leute - alles besser, heiterer, freundlicher als in Deutschland. Dass sie selbst stets als Touristin kommt, ignoriert Ayla: Auf sozialen Medien postet sie Bilder vom Meer, nicht vom Hotel-Swimming pool. Sie will eben doch keine Touristin sein.

Von Überwachungsmethoden, Spitzel-Apps und den Sicherheitsgesetzen weiß Ayla nichts, will auch nichts davon wissen. Ihre Probleme sind ganz andere als Dileks, etwa das Studium, das sie heimlich und gegen den Willen ihres Vaters aufgenommen hat. Dass auf Bemerkungen über den Präsidenten eine mehrjährige Haftstrafe drohen kann, will sie nicht glauben. Hat Dilek vielleicht doch etwas Schlimmes getan?

Dilek wiederum kann auch in Deutschland dem Dilemma nicht entkommen. Soll sie ein Leben im Exil wählen oder hat sie sich in etwas hineingesteigert und es wurde kein Material gegen sie zusammengetragen? Hat sie mit ihrer Ausreise nach Deutschland womöglich erst Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, droht ihr bei einer Rückkehr die Festnahme? Und was bedeutet das für ihre Beziehung zu Tekin, der den Standpunkt vertritt, es könnten doch nicht alle dem Land den Rücken kehren?

Es gibt keine einfachen Antworten in "Kangal", sondern verschiedene Sichtweisen und Überlegungen. Welche die "richtige" ist, muss die Leser*in selbst entscheiden, so wie auch der Schluss keine Deutungshoheit hat, sondern offen bleibt. Nachdenklich machender Lesestoff, der nicht nur durch die Situation in der Türkei, sondern die Einschränkungen von Meinungsfreiheit in allen autoritären Staaten von trauriger Aktualität ist.

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Veröffentlicht am 26.03.2022

Der lange Schatten des Kriegs gegen den Terror

Der Mann aus dem Schatten
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David Lagercrantz ist ein Autorenname, der für exzellente schwedische Kriminalliteratur steht - schließlich hat er nach dem Tod von Stieg Larssen die "Millenium"-Reihe um die geniale Hackerin Lisbeth Salander ...

David Lagercrantz ist ein Autorenname, der für exzellente schwedische Kriminalliteratur steht - schließlich hat er nach dem Tod von Stieg Larssen die "Millenium"-Reihe um die geniale Hackerin Lisbeth Salander vollendet. Mit "Der Mann aus dem Schatten" hat Lagercrantz nun den Auftakt einer neuen, ganz eigenen Reihe aufgelegt, der Spannung und politische brisantes Geschehen miteinander verbindet.

Einen ziemlich genialen, wenn auch komplizierten Protagonisten hat auch diese geplante Triologie. Hans Rekke, Philosoph, Reederssohn aus reichem Haus, ehemals musikalische Wunderkind und, so weiß die Stockholmer Polizei, gilt als Verhörspezialist. Daher macht sich eine kleine Ermittlergruppe auf in Rekkes Villa im Nobelviertel, unter ihnen auch Micaela Vargas, die eigentlich Streifenpolizistin ist. Dass sie in die Kripo-Ermittlungen nach dem Tod eines Schiedsrichters eingebunden wird, hat vor allem einen Grund: Sie wuchs als Tochter chilenischer Einwanderer im gleichen Vorstadtviertel auf, aus dem auch der Hauptverdächtige stammt. Der häufig betrunkene, aggressive Mann hatte auf dem Spielfeld einen heftigen Streit mit dem später erschlagen aufgefundenem Schiedsrichter, einem Flüchtling aus Afghanistan. Eine naheliegender Verdächtiger - aber auch der Täter?

Bald schon allerdings ist Micaela kein Mitglied der Sonderkommission mit. Ihre Neugier, den Täter zu finden, ist geblieben. Die Versuche, Kontakt zu Rekke aufzunehmen, scheitern, bis sie ihn eines abends zufällig und unter dramatischen Umständen wiedertrifft. Sie muss erkennen: Der mit allen Privilegien aufgewachsene Rekke hat eine ganze Reihe von Problemen, insbesondere eine bipolare Störung und Medikamentensucht. Doch selbst in einer schwer depressiven Phase hat der Mann mit dem blitzschnellen Blick fürs Detail seine Fähigkeiten nicht verloren. Er stellt etwas fest, das den ganzen Fall auf den Kopf stellt.

Denn wie die rechtsmedizinischen Aufnahmen der Leiche des Schiedsrichters zeigen, wurde dieser zwar zweifellos gefoltert - nicht aber, wie behauptet, von den Taliban. Vielmehr sieht Rekke Hinweise auf die "verschärften Verhörmethoden" der Amerikaner in den "black sites" der CIA etwa im Irak, aber auch in befreundeten Ländern.

Die Handlung von "Der Mann aus dem Schatten" spielt im Jahr 2003 - der "Krieg gegen den Terror" nach den Terroranschlägen vom 11. September ist im vollen Gang. Die Vorgänge etwa im Gefängnis Abu Ghoreib sind der Öffentlichkeit noch nicht bekannt, doch Rekke hat als Professor an einer US-Universität mit Sicherheitsdiensten zusammengearbeitet, um die Glaubwürdigkeit von Geständnissen zu beurteilen, die durch verschäfte Verhörmethoden, sprich Folter, zustande gekommen sind.

Heiligt der Zweck die Mittel? Was wusste, was billigte die Regierung des liberalen Schwedens, als das angebliche Taliban Opfer ins Land kam? Welche Rolle spielte der Tote im Afghanistan der Taliban, und warum fiel er durch besondere Aggressivität gegen Musiker auf? Micaela Vargas und Hans Rekke ermitteln parallel zu den offiziellen Ermittlern, ohne deren Wissen und lösen dabei nicht nur diplomatische Irritationen aus.

Die Spannung und die Dichte des Plots steigern sich zunehmend. Dabei bringt Lagercrantz auch die moralischen Konflikte bei der Terrorbekämpfung zur Sprache. Der gelernte Journalist hat offenbar gut recherchiert, sowohl zum Vorgehen der Taliban nach dem Abzug der sowjetischen Truppen als auch zum Vorgehen der US-Sicherheitsdienste gegen verhaftete Terrorverdächtige. Die Fragwürdigkeit der Verhöre und von Einrichtungen wie Guantanamo wird ebenso herausgearbeitet wie das Komplizentum westlicher Regierungen, die gar nicht so genau wissen wollten, wie Informationen zustande kamen.

"Nach dem 11. September hatte es nur noch Schwarz oder Weiß gegeben, und er war wahrhaftig nicht der Einzige, der sich dem Druck gebeugt hatte. Nur wenige seiner Kollegen in Europa hatten sich widersetzt. Was tun wir nicht alles. um den Terrorismus zu bekämpfen? Alles! hatten sie wie gehorsame Soldaten geantwortet. Doch hinterher war man immer schlauer. Damals war das Gefühl, sich in einer akuten Notlage zu befinden, so übermächtig, dass es vernünftig schien, nicht so pingelig zu sein."

Mir Rekke und Vargas hat Lagercrantz zwei sehr gegensätzliche, aber auch sympatische Ermittler geschaffen: Die toughe Micaela, die sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat, als Frau in der nach wie vor männlich geprägten Polizei behaupten muss und ihren Instinkten vertraut, der labile Rekke, der zwar alles zu haben scheint, aber in eine tiefen Krise steckt und für den die Arbeit an dem Fall auch ein Stück Wiedergewinn seines seelischen Gleichgewichts ist. Der nächste Band kann für mich gar nicht schnell genug kommen.

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Veröffentlicht am 25.03.2022

Tod und Intrigen im Vatikan

Der Geheimbund
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Geheimbundaktivitäten und Intrigen hinter den Mauern des Vatikans - das hat nicht nur Dan Brown inspiriert. Daniel Silva ließ seinen israelischen Superagenten und Kunstexperten Gabriel Allon bereits mehrfach ...

Geheimbundaktivitäten und Intrigen hinter den Mauern des Vatikans - das hat nicht nur Dan Brown inspiriert. Daniel Silva ließ seinen israelischen Superagenten und Kunstexperten Gabriel Allon bereits mehrfach im Umkreis des Papstes ermitteln - nun auch im 20. Band der Allon-Reihe, "Der Geheimbund". Allon, mittlerweile nicht mehr der Jüngste, ist inzwischen der Chef des israelischen Geheimdienstes und will eigentlich Urlaub mit Frau Chiara und den kleinen Zwillingen in Venedig machen - Kunst, Kultur, gutes Essen und bella figura machen. Entspanung von den Härten des Agentenlebens. Doch natürlich: Es kommt anders.

Denn Papst Paul VII., mit dem Allon in der Vergangenheit immer wieder zu tun hatte und den er als Freund bezeichnen kann, ist tot. Sein Privatsekretär Luigi Donati, ebenfalls ein Freund Allons, ist misstrauisch. Zwar war der Heilige Vater herzkrank. Doch die Umstände des Todes kommen ihm verdächtig vor, zu groß die Eile verschiedener Kurienkardinäle, denen die Reformbestrebungen des Papstes ein Dorn im Auge waren. Und wo ist eigentlich der an Allon adressierte Brief abgeblieben, den Donati nur wenige Stunden vor dem Tod des Papstes auf dessen Nachttisch sah? Als dann auch noch ein Schweizer Gardist, der in der Todesnacht vor den päpstlichen Gemächern Wache hielt, spurlos verschwindet, beschließen der Geistliche und der Agent, dass sie den Dingen auf den Grund gehen müssen.

Der Tod des Papstes erweist sich nur als Teil einer Verschwörung, in deren Zentrum ein erzkonservativer Orden mit besten Verbindungen auch in rechtsextreme Kreise steht. Bei der Wahl des nächsten Papstes durch das in der Sixtinischen Kapelle versammelten Konklaves soll mit allen Mitteln der von Paul VII. eingeschlagene Kurs zum Stillstand gebracht werden. Die verhängnisvollen Allianzen zwischen dem Vatikan und der extremen Rechten, kirchlicher und rechtsextremer Antisemitismus, die Passivität der Kirche angesichts der Schoah - Allon und Donati müssen sich bei ihren Ermittlungen auch mit den Geistern der Vergangenheit stellen und die Wahrheit der Evangelien in Frage stellen. Waren nicht die verhängnisvollen Worte "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" die Rechtfertigung für 2000 Jahre Judenhass, Verfolgung und Genozid? Ein Manuskript in den Geheimarchiven des Vatikans könnte Licht ins Dunkel bringen - doch Allon und Donati haben sich mit mächtigen und skrupellosen Gegnern angelegt.

In der Hörbuchversion gibt Frederic Böhle dem feinsinnigen Allon und dem machtbewussten Donati seine Stimme, mitunter mit ironischer Leichtigkeit, sonor und sehr angenehm zum Zuhören.

Ich habe schon frühere Bücher der Allon-Reihe gelesen, die durchaus spannend, aber häufig typische Agententhriller mit einem toughen Helden waren. Hier kommt mir sowohl Allon als auch der Plot komplexer und vielschichtiger vor, die Bezüge sind aktuell und auch im Nachwort wird auf das Erstarken rechter und nationalistischer Parteien überall in Europa und die Folgen für das Sicherheitsgefühl der jüdischen Diaspora hingewiesen. Insofern bleibt bei aller Fiktion auch durchaus das Gefühl - so weit weg von der Wirklichkeit ist das alles gar nicht weg. "Der Geheimbund" bietet spannende Unterhaltung für alle Freunde gepflegter Intrigen und Verschwörungen.

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Veröffentlicht am 24.03.2022

Alter weißer Mann erzählt

Bloßes Leben
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Selbstkritische Journalisten wissen: Ihr Produkt hat in der Regel eine kurze Verweilzeit. Früher wurde in der Zeitung vom Vortag Gemüse eingewickelt, heute sind online-Texte mitunter schon nach Minuten ...

Selbstkritische Journalisten wissen: Ihr Produkt hat in der Regel eine kurze Verweilzeit. Früher wurde in der Zeitung vom Vortag Gemüse eingewickelt, heute sind online-Texte mitunter schon nach Minuten überholt, jedenfalls in breaking news Situationen. Und doch gibt es immer wieder, gerade in der literarischen Reportage, Texte, die bleiben und ihren eigenen Wert haben. Man denke nur an Altmeister Kisch. Doch gilt das auch für die Reportagesammlung "Bloßes Leben" von Andreas Altmann? Ich fürchte, nein. Einige der Texte scheinen schon mehrere Jahrzehnte alt zu sein. Das nimmt den Ortsbeschreiibungen nicht ihre Farbigkeit, es zeigt sich jedoch ein Blickwinkel, der deutlich aus der Zeit gefallen ist. Boshaft formuliert: Ein alter weißer Mann erzählt.

Seinerzeit war Altmann zu Zielen unterwegs, die für die meisten Menschen äußerst exotisch und eher unerreichbar waren. Mexiko, der Himalaya, gar die Nubaberge während des sudanesischen Bürgerkriegs. Da konnte die Selbstdarstellung ruhig noch ein bißchen kräftiger geraten, es war ja keiner da, der womöglich Zweiefel üben könnte, ob sich der Autor tatsächlich schon nach einem Tag "wie ein Einheimischer" in den Souks von Kairo, den Gassen von Mumbai etc bewegte.

Ärgerlicher stößt beim Lesen eine Haltung auf, die heute nur für Befremden sorgen kann - das Frauenbild etwa, die Reduzierung auf Äußerlichkeiten, streng heteronorme Sichtweise, das Gaffen auff Busenwunder, die Exotisierung von Menschen, denen Altmann auf seinen Reportagen begegnete, Formulierung wie "Mohrenhirse" und N-Wort. Das mögen diejenigen genießen, denen Debatten um Diversität und Pluralismus zu anstrengend erscheinen, aber man muß kein woke-Verfechter sein, um zu bemerken: das liest sich im Jahr 2022 ziemlich angestaubt.

Vielleicht ist es auch dem Umstand geschuldet, dass Fernreisen, gerade solche abseits ausgetretener Pfade, vor einigen Jahrzehnten noch sehr selten waren - aber so mancher Text verharrt an der Oberfläche und huscht hastig zur nächsten Episode weiter, wenn ich als Leserin eigentlich auf der Suche nach Details, nach Stimmungen, nach Emotionen bin: Wie ging es denn nun zu beim illegalen Hahnenkampf, was trieb die Wetter und Hahnenbesitzer dorthin, welche Bedeutung hat das blutige Schauspiel für sie? Hier wäre weniger mehr gewesen, hätte zusätzliche Tiefe und der genaue Blick dem Text gut getan. Denn das bloße Leben ist nun mal zu vielfältig und bunt, um derart oberflächlich abgetan zu werden.