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Veröffentlicht am 20.09.2021

Psychoterror über soziale Medien

Die Nachricht
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Der plötzliche Unfalltod ihres Mannes war ein Schock für Ruth - auch wenn die Ehe im Laufe der Zeit zu einem Nebeneinander geworden war und sie über eine Trennung nachgedacht hatte. Vier Jahre später ...

Der plötzliche Unfalltod ihres Mannes war ein Schock für Ruth - auch wenn die Ehe im Laufe der Zeit zu einem Nebeneinander geworden war und sie über eine Trennung nachgedacht hatte. Vier Jahre später hat sie sich gefangen, führt ihre Freundschaften fort, hat eine on-off-Beziehung mit dem Psychiater, der sich in der Anfangszeit um ihren damals 12-jährigen jüngeren Sohn gekümmert hatte, der Zeuge des Unfalls war. In diesen Neubeginn platzt plötzlich eine Fcebook-Nachricht: "Weißt du eigentlich von der Affäre deines prächtigen Ehemanns?"

Das ist der Ausgangspunkt von Doris Knechts "Die Nachricht", in dem sich die Ich-Erzählerin dem Psychoterror eines Stalkers in sozialen Medien ausgesetzt sieht. In de Hörbuchversion gibt Vera Teltz Ruth ihre Stimme. Ihre warme und ausdrucksvolle Stimme macht das Zuhören zum Genuss, lässt Gesprächsszenen ins Kopfkino einfließen und macht die Wut, Ratlosigkeit und Zweifel Ruths nachvollziehbar.

In der Tat, Ruth wusste von der Affäre und hegt nun den Verdacht, dass "die Andere", die noch nicht einmal offiziell um den Geliebten trauern kann, sich so an ihr rächen will. Doch die erste Nachricht ist nicht die einzige, und der Empfängerkreis wird immer größer. Ruths Freunde, Geschäftspartner, Bekannte erhalten ebenfalls Nachrichten.

Sehr bald geht es nicht um die Affäre, sondern um Angriffe auf Ruth - wegen ihres eigenen Verhältnisses, sie sei notgeil, doch wer wolle sie schon haben. Sie wird wegen ihrer feministischen Ansichten, die sie auf social media verbreitet ebenso attackiert wie wegen der Tatsache, dass sie es wagt, als Endvierzigerin mit erwachsenen oder fast erwachsenen Kindern noch ein Sexleben zu haben.

Die Nachrichten verändern die ohnehin eher introvertierte Drehbuchautorin, vor allem, da ihr von beruflichen Partnern immer deutlicher signalisiert wird, wie störend diese Angelegenheit sei. Verstört zieht sie sich immer mehr zurück, nimmt am Austausch in sozialen Medien kaum noch teil, ist in Gesprächen mit Freunden nur noch fixiert auf die Frage, wer die bösartigen Nachrichten verfasst. Sie muss die Erfahrung machen, dass vom Opfer erwartet wird, endlich mal Ruhe zu geben, während die Nachrichten weiter Dreck in die virtuelle Welt schleudern.

Gerade die innere Veränderung, die Ruth durchmacht, das wachsende Misstrauen, mit dem sie auf ihre Umwelt blickt, die innere Einsamkeit, die sich von dem durchaus positiv gesehenen Alleinsein unterscheidet, beschreibt Doris Knecht nachvollziehbar. Mitunter wirkt Ruth zwar regelrecht besessen vom Verfasser der Nachrichten, wenn sie etwa erwartet, dass jeder aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis die anonylme Hetze an sie weiterleitet und sie immer und imme wieder die Nachrichten liest. Der seelischen Gesundheit tut das nicht gerade gut.

Der Umgang mit dem Stalking zeigt auch, auf welche ihrer Freunde sich Ruth verlassen kann und wer sich in schwierigen Zeiten abwendet. Zugleich ist "Die Nachricht" die Auseinandersetzung mit einem Frauenleben nach einer Zäsur, in der Lebensmitte, mit der Frage nach Neuorientierung oder Verbleib bei dem Gewohnten. Das Stalking ist letztlich die extreme Form, wenn es um den Blick von (manchen) Männern auf Frauen und ihren Umgang mit ihnen geht. Insofern ist "Die Nachricht" ein Buch über weit mehr als nur den Psychoterror, dem Ruth ausgesetzt ist.

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Veröffentlicht am 15.09.2021

Identitäten, ZUschreibungen und ein Skandal

Identitti
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Ironische Distanz ist in der seit einiger Zeit laufenden Debatte um Identitätspolitik eher selten, eine gewisse Verbissenheit und Selbstgerechtigkeit dagegen leider ziemlich häufig. Das macht die Lektüre ...

Ironische Distanz ist in der seit einiger Zeit laufenden Debatte um Identitätspolitik eher selten, eine gewisse Verbissenheit und Selbstgerechtigkeit dagegen leider ziemlich häufig. Das macht die Lektüre von Mithu Sanyals Roman "Identitti", nun auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021, so erfrischend anders. Denn ja, man kann mit schrägem Humor und einem gewissen Augenzwinkern über Selbst- und Fremdwahrnehmung, Identitätszuschreibung und Suche nach Wurzeln schreiben und trotzdem das Thema ernst nehmen. Sanyal, bisher Sachbuchautorin, hat das in ihrem Romandebüt klar bewiesen.

Die Frage "Woher kommst du?" nervt die aus dem Ruhrgebiet stammende und in Düsseldorf studierende Nivedita schon lange. Die Frage, wer und was sie eigentlich ist, beschäftigt die Tochter einer deutschen Mutter mit polnischen Wurzeln und eines indischen Vaters schon seit ihrer Kindheit, Wie gerne wäre sie doch ein richtiges indisches Mädchen, was irgendwie viel cooler ist als Ruhrgebietsdeutsche. Allein, bei der Verwandtschaft in Birmingham wird sie als "coconut" wahrgenommen - außen braun, innen weiß. Cousine Prita ist da viel indischer, und auch die Rassismuserfahrungen sowohl der britischen Verwandtschaft als auch der Elterngeneration sind viel drastischer gewesen, so dass sich die Millenial-Studentin der Postcolonial Studies und unter dem Namen Identitti über Rassismus, Identität und Brüste bloggende Nivedita nicht ernst genug genommen fühlt, das Gefühl hat, beim Thema Diskriminiserungserfahrung nicht wirklich mithalten zu können.

Immerhin: Sie hat Saraswati, Professorin für Postcolonial Studies und der Dreh- und Angelpunkt ihres akademischen Lebens. Die Professorin, die im ersten Semester alle Weißen aus dem Seminar geschmissen hat und nur BiPoC in ihrer Klasse duldete. Doch wo beginnt ein BiPoC, und wo endet das Weißsein? Im Fall von Saraswati, so stellt sich zu Niveditas Schrecken heraus, ist das in Personalunion der Fall. Die stets in Dupatta auftretende charismatische Professorin wurde als - weiße - Sara Vera geboren und hat sich als Saraswati komplett neu erfunden.

Der Fall erinnert an den Fall Rachel Dolezal in den USA. Die angebliche afroamerikanische Bürgerrechtsaktivistin wurde als Weiße geoutet. Wie im damaligen Fall erntet auch Saraswati in sozialen Medien und im Alltag einen Shitstorm, der für Nivedita wie der Chor einer griechischen Tragödie ist. Die wütende, verwirrte, verletzte und nach Antworten suchende Studentin nistet sich im Gästezimmer der Professorin ein, versucht die Motive zu ergründen, gerät selbst in die Kritik.

Can you say good bye to it all? In diesem Fall zum Weißsein? Saraswati kommt mit dem Begriff des "transracial". Wenn Geschlecht eine Frage nicht des Aussehens, sondern des eigenen Identitätsgefühls, wenn dieser inere Zustand auch durch eine äußere Wandlung vollzogen werden kann - kann das nicht auch für Weißsein gelten? Und sind Weiße per se dazu verdammt, rassistisch zu sein, während BiPoC die Erfahrung von Schmerz und Diskriminierung exklusiv haben? Was ist etwa mit migrantischen Weißen? Und wer hat die Deutungshoheit über den Begriff BiPoC? Es ist kein Zufall, das Sarawati auf einer Demonstration ihre einstige Starstudentin Oluchi - deutsche Mutter, nigerianischer Vater, der sich schon vor ihrer Geburt aus dem Staub gemacht hat, am meisten trifft, als sie ihr entgegenschleudert: Wenn du durch die Straßen von Lagos gingst, würdest du als weiße deutsche Touristin wahrgenommen.

Die Fragen und Thmen, mit denen sich Sanyal in Identitti beschäftigt sind real und ernst. Dass sie es schafft, einen leichten Ton zu finden und auf Pathos zu verzichten, macht das Buch nicht nur lesenswert, sondern auch unterhaltsam. Und als besonderes Highlight gibt es darin die inneren Dialoge zwischen Nivedita und der Göttin Kali, die ebenfalls ihre Kommentare abgibt.

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Veröffentlicht am 10.09.2021

Schulden, Immmobilienblase, Korruption

Todsünde
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Touristen aus aller Welt wollen im südafrikanischen Stellenbosch malerisch gelegene Weingüter und heile Welt am Kap kennenlernen. Für die Menschen vor Ort kann die Idylle trügerisch sein. So auch in Deon ...

Touristen aus aller Welt wollen im südafrikanischen Stellenbosch malerisch gelegene Weingüter und heile Welt am Kap kennenlernen. Für die Menschen vor Ort kann die Idylle trügerisch sein. So auch in Deon Meyers neuem Roman "Todsünde" um die Ermittler Bernie Griessel und Cupido Vaughn. Auch diesmal bewegt sich die Handlung in zwei Strängen, die sich erst weit inmitten des Buches verbinden. Griessel und Vaughn sind bei einem hochrangigen Beamten in Ungnade gefallen wegen ihrer Ermittlungen gegen Korruption. Eigentlich sollen sie nicht nur degradiert. sondern in die entlegene Provinz abgeschoben werden - für Griessel Grund zu Sorge. Der trockene Alkoholiker befürchtet, er könnte vor lauter Frust einen Rückfall erleben, Dann allerdings machen andere Offiziere ihren Einfluss geltend - die beiden Ermittler kommen nach Stellenbosch, einem wesentlich angenehmeren Einsatzort.

Für die Immobilienmaklerin Sandra Steenberg allerdings ist das idyllyische Stellenbosch allerdings zu einer Sackgasse geworden, seit der kriminelle Geschäftsmann Jasper Boonstra mit einem Scheinimperium Träume vom schnellen Reichtum platzen ließ. Die Luxusimmobilien, die Sandra vermittelte, sind plötzlich nicht mehr loszuwerden - und die junge Mutter taumelt selbst immer tiefer in die Schuldenfalle, ausgerechnet in einer Zeit, als ihr Mann ein Sabbatical genommen hat, um einen Roman zu schreiben, Sandra, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt und sich von ihren Schwiegereltern nicht akzeptiert wird, will das Steuer unbedingt aus eigener Kraft herumreißen. Als ausgerechnet Boonstra die attraktive Frau mit dem Verkauf eines Weinguts beauftragt, hofft sie auf die ersehnte Wende. Doch Boonstra zeigt nicht nur geschäftliches Interesse an ihr. Die Situation eskaliert.

Bernie und Cupido sollen unterdessen in Stellenbosch einen Vermisstenfall aufklären. Ein Student ist verschwunden, seine Mutter in höchster Sorge. Der junge Mann ist ein Computergenie, konnte mit Hilfe eines Stipendiums studieren und hatte angeblich keine anderen Interessen außer der Universität. Keine Freundin, keine Drogen, keine Parties. Doch was bedeutet die hochwertige Kleidung in seinem Zimmer, die er sich von seinem Stipendium nicht hätte kaufen können? Wieso fehlt seinem Computer die Festplatte und wer ist der Unbekannte, der kurz vor der Vermisstenanzeige mit der Schlüsselkarte des Studenten dessen Zimmer betrat?

Wie die Erzählstränge am Ende zusammenführen, kann hier nicht angedeutet werden, ohne zu spoilern. Doch soviel kann verraten werden: Deon Meyer hat einmal mehr Spannung mit einem kritischen Blick auf das moderne Südafrika verknüpft, ohne dabei in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Die Tatsache, dass auch diesmal die meisten Protagonisten weiß sind und die Mehrheitsgesellschaft Südafrika eher am Rande vorkommt, hat sicher ebenso mit der Tatsache zu tun, dass Meyer weiß und seine Muttersprache Afrikaans ist, zum anderen mit der Zusammensetzung der Bevölkerung in der western Kap-Provinz.

Für leichtere und persönlichere Töne sorgt das Privatleben der beiden Ermittler, die ihre Hochzeit beziehungsweise Verlobung planen. Während Cupido mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hat, seit er Backen als Hobby entdeckt hat, versucht Bernie das Verhältnis zu seinem Sohn zu verbessern, das unter seiner Trinkerei schwer gelitten hat.

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Veröffentlicht am 06.09.2021

Wahrheitssuche und Enthüllungen

Russische Botschaften
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Journalisten sind eitel und hungrig nach Anerkennung - ganz besonders in der speziellen Blase der Hauptstadt- und Investigativjournalisten. Das ist die Welt, die Yassin Mussarbash in seinem Thriller "Russische ...

Journalisten sind eitel und hungrig nach Anerkennung - ganz besonders in der speziellen Blase der Hauptstadt- und Investigativjournalisten. Das ist die Welt, die Yassin Mussarbash in seinem Thriller "Russische Botschaften" beschreibt und die er aus eigener Erfahrung - der Mann arbeitet schließlich in dem Milieu, über das er schreibt - gut kennen dürfte. Merle Schwalb, die Protagonistin des Buches, ist da keine Ausnahme. Dass sie in das elitäre Investigativteam aufgenommen ihrer Zeitung aufgenommen wird, ist gewissermaßen der Ritterschlag für die ehrgeizige Journalistin. Wie weit die Investigativen von der Allgemeinheit der Redaktion entfernt sind, zeigt sich schon allein am gesiezten Umgang - und das in einer Branche, in der üblicherweise Duzkultur herrscht.

Als in einem Neuköllner Restaurant ein Mann von einem Balkon stürzt und buchstäblich neben ihr aufschlägt, wittert Merle eine Story. Erst geht sie von Clan-Kriminalität aus - Neukölln eben. Dann stellt sich heraus, der Tote was Russe und als Techniker an der Botschaft beschäftigt. Durch Zufall erfährt sie vom Kollegen eines Konkurrenzblatts, dass auch dieser im Fall eines toten Russen recherchiert, der eine geheimnisvolle, chiffrierte Liste verbreiten wollte mit Namen deutscher Persönlichkeiten, die sich von Russland haben kaufen lassen. Schnell ahnt Merle - es geht um den gleichen Russen, sie und der Kollege haben lediglich unterschiedliche Quellen und Einstiege in die Story.

Nun könnte ein Rattenrennen drohen - zwei Konkurrenten, die schneller als der andere mit der exklusiven Geschichte herauskommen müssen. Doch unter denjenigen, die sich für russische Einflussnahme instrumentalisiert haben sollen, sind pikanterweise auch Journalisten der beiden konkurrierenden Blätter. Als Neumitglied des Investitgativteams hat Merle nicht nur eine Geschichte, die explosiv sein dürfte, sie muss auch ihre Kollegen überreden, mit der Konkurrenz gemeinsam zu recherchieren und zu arbeiten. Egos und Eitelkeiten müssen einmal hintenangestellt werden - für manche Edelfeder eine ausgesprochen schwierige Herausforderung.

Schnell finden die Journalisten heraus, dass sie mit russischen Ermittlerteams zusammenarbeiten müssen und bei aller Diskretion nicht ausbleibt, dass man auf sie aufmerksam wird. Trolle, Fake News-Vorwürfe auf social Media und Angriffe unter der Gürtellinie müssen ebenso bewältigt werden wie der Aufbau von Vertrauen in einem Team, in dem Konkurrenzgeist und persönlicher Ehrgeiz den Geist der Zusammenarbeit immer wieder stören. Hinzu kommt die Frage - sind die Journalisten auf einer echten Spur oder werden sie manipuliert? Faktencheck ist schwer, wenn alles heimlich und konspirativ erfolgen muss. Doch gleichzeitig wissen sie spätestens seit dem Sündenfall eines mehrfach preisgekrönten Kollegen, der sich seine Reportagen aus den Fingern gesogen hat, dass sie sich an ihren eigenen Ansprüchen messen lassen müssen.

"Russische Botschaften" verbindet Spannung und Insiderwissen. Das gilt ebenso für das Schaulaufen von Eitelkeiten bei Redaktionskonferenzen wie dem mitunter verkrampften Versuch mancher Medien, sich für Diversität stark zu machen, auch wenn diese Diversität innerhalb der eigenen Reihen nicht unbedingt verkörpert wird. Da passt es auch durchaus, dass Merle aus begütertem Elternhaus stammt und dank finanzieller Privilegien sich auf den beruflichen Fortschritt konzentrieren kann.

Was ist man bereit, für die Suche nach der Wahrheit zu opfern? Und wie weit würden andere gehen, um eine Enthüllung zu verhindern? Das ist die eigentliche Frage, vor der Merle und ihre Kolleg*innen stehen. "Russische Botschaften" bietet spannende Unterhaltung und Einblicke in die Hauptstadtblase von Medien und Politik, in die Macht soizialer Medien und Gerüchte, gegen die auch Fakten nicht immer angehen können.

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Veröffentlicht am 05.09.2021

Glauben, Wissenschaft und die Geheimnisse des Gehirns

Ein erhabenes Königreich
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In ihrem Debütroman "Heimkehren" folgte die amerikanisch-ghanaische Autorin Yaa Gyasi mehreren Generationen einer Familie zwischen Goldküste und Amerika, zwischen Versklavung und dem Leben in Westafrika. ...

In ihrem Debütroman "Heimkehren" folgte die amerikanisch-ghanaische Autorin Yaa Gyasi mehreren Generationen einer Familie zwischen Goldküste und Amerika, zwischen Versklavung und dem Leben in Westafrika. "Ein erhabenes Königreich" ist weniger epochal angelegt, behandelt aber ebenfalls afroamerikanische Diasporaerfahrung und die besonderen Herausforderungen für eine junge Frau, die als Kind von Einwanderern, einer alleinerziehenden schwarzen Mutter und mit der Erfahrung des frühen Drogentods ihres älteren Bruders eine wissenschaftliche Karriere anstrebt.

Gifty, die Ich-Erzählerin, ist in einer Kleinstadt in Alabama aufgewachsen, wo ihre Mutter Mitglied einer evangelikalen Kirchengemeinde war. Der Vater ist schon früh nach Ghana zurückgekehrt, hat dort eine neue Familie gegründet - doch Gifty hat nur vage Erinnerungen an ihn. Obwohl in den Südstaaten aufgewachsen, sind Gifty und ihre Familie die einzigen Schwarzen in der Gemeinde und in der Nachbarschaft (das fand ich angesichts der Bevölkerungszusammensetzung in den Südstaaten jetzt wenig plausibel, aber nun ja) und erst nach und nach, als ihr Bruder, ein hoffnungsvoller Basketballspieler nach einem Sportunfall starke Schmerzmittel erhält und in die Sucht abgleitet, hört sie die Bemerkungen über "diese Leute" und registriert, dass Schwarze gemeint sind.

Giftys Mutter hält an ihrer Muttersprache Twi, an ghanaischer Küche und afrikanischer Kleidung fest, während sie sich in Pflegejobs abrackert. Nach dem Tod des Sohnes an einer Überdosis versinkt sie in einer schweren Depression, muss in klinische Behandlung - und Gifty muss einen Sommer lang zu der bislang unbekannten Verwandtschaft nach Ghana. Die Begegnung mit den afrikanischen Wurzeln ist für Gifty ein Kulturschock - sie hadert mit der Sprache, vermisst ein ordentliches Badezimmer mit funktionierender Dusche und auf dem Marktstand ihrer Tante zu arbeiten ist für sie eine völlig neue Erfahrung, ebenso wie die evangelikalen Gottesdienste in Ghana, gegen die sich die ihrer Heimatgemeinde in Alabama deutlich unemotionaler abfallen.

Doch während Gifty heranwächst, hadert sie mit ihrem Glauben. An der Universität muss sie erkennen, das Religion und Religiosität belächelt werden - mit einer einzigen Bemerkung ist sie bei ihrer Arbeitsgruppe als "Jesus-Freak" unten durch. In einer entscheidenden Phase ihrer Promotion kommt die Mutter unangemeldet zu Besuch, erneut depressiv und weigert sich zu reden und zu essen.

Während Gifty darum kämpft, ihre Mutter zu motivieren, das Bett zu verlassen und sich wieder dem Leben zu stellen, reflektiert sie die Vergangenheit ihrer Familie, die Herausforderungen ihres Lebens, den Ehrgeiz, sich und anderen beweisen zu müssen, die beste zu sein. Der Feminismus einer Freundin ist ihr dabei fremd - sie will Top-Naturwissenschaftlerin sein, nicht spezifisch in ihrer Rolle als Frau oder Schwarze. Dennoch ist sie nicht blind für ihre Umgebung an der Elite-Universität Stanford, wo die weißen Männer klar in der Überzahl sind.

Laut herausgebrüllte Gesellschaftskritik ist nicht die Sache der Autorin, Selbstgerechtigkeit wie in so manchem gut gemeinten, aber nicht unbedingt gut gemachten Buch über Rassismuserfahrungen ebensowenig. Dafür überzeugt sie mit klugen Beobachtungen, genauem Blick und einer überzeugenden Protagonistin mit Ecken und Kanten, die sich ihrer eigenen Sozialisation stellt und nicht nur wissenschaftliche Antworten sucht sondern auch eine vorsichtige Annäherung an ihre einstige Spiritualität. Kein Buch der einfachen Lösungen und Schwarz-Weiß-Malereien, sondern vielschichtig und ausgesprochen lesenswert.