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Veröffentlicht am 15.01.2024

Ein Herzensbuch

Lichtungen
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Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen ...

Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen sich bereits seit ihrer Kindheit, gingen gemeinsam zur Schule. Sie ist ein Samstagskind, wie ihre Mutter sagte, neugierig und klug, doch in den Augen der anderen eine Außenseiterin. Kato hatte einen eigenen Zugang zur Welt, erfuhr sie mit ihren Sinnen, ihrer Fantasie, um dem Jetzt zu entfliehen, denn ihr Vater war Alkoholiker, ihre Mutter nicht mehr da; wann immer möglich, war sie bei Lev zu Hause, um dem Zorn des Vaters zu entfliehen. Lev hingegen ist still und pflichtbewusst, bedacht mit seinen Worten und Handlungen; ein Beobachter. Einer, der bleibt, der festhält an Erinnerungen. An Gefühlen. An drei Worten, die ein Anfang, ein Aufbruch sein können. 
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Zunächst nur vage Pinselstriche, Schattenwurf auf weißem Papier, gibt Iris Wolff Lev und Kato und ihrer Umgebung immer mehr Tiefe, Konturen, Merkmale, die sie besonders machen - den suchenden, unsicheren Blick; lockig-glattes Haar; raue Gebirgszüge, karges Land. Beginnend in der Gegenwart, fernab ihrer beider Heimat, bewegt sich die Handlung der Vergangenheit entgegen, in die Maramuresch im Norden Rumäniens. Szenen eines Lebens ziehen vorbei: Grenzen verändern ihre Linienführung, aus einem Land wird ein anderes, aus einer Staatsform eine andere. Angst weicht Erleichterung, Krankheit wird zu Gesundheit, Menschen kommen, bleiben - und sie gehen, flüchten, träumen von einem besseren Leben, von Freiheit, von Geborgenheit. Welchen Sinn und Zweck haben Grenzen, haben Staatsangehörigkeit in diesen Zeiten?
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Es ist magisch, wie geschickt Iris Wolff die einzelnen Versatzstücke aufeinander aufbaut, mit dem Innen und Außen, der Dynamik zwischen Lev und Kato, ihrer Familie und ihrer Umwelt spielt, und vermeintliche Lücken in der Erzählung, sind sie für die handelnden Personen bereits bekannt, mit jedem Schritt der Vergangenheit entgegen schließt. Die Geschichte entwickelt so eine ganz besondere Dramaturgie, die ich bis dahin noch nicht in der Form erlebt habe: unaufgeregt und subtil, aber doch so kraftvoll, unterschwellig drängend, vorantreibend. Einfach richtig gut. Jeder Atemzug, jedes Wort ist poetisch, wärmend, legt sich wohltuend um Herz und Seele. Und dort behalte ich Lev und Kato, ihre Geschichte, diese zarte Flamme tiefer Freundschaft. 

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Veröffentlicht am 07.11.2023

Gewaltig gut

Kontur eines Lebens
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„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. ...

„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. Wo ist mein Kind?, fragte ich mit heiserer Stimme.“ (S. 260)

Es war Anfang März 1963, als sie sich kennenlernten; die Waal war von einer dicken Eisschicht überzogen. Nie wird die junge Floristin Frieda den Moment vergessen, als er plötzlich vor ihr stand, mehr Mantel als Mann: Otto. Noch Tage, Wochen nach ihrer Begegnung denkt sie an ihn, Ot-to, Ot-to skandiert sie in Gedanken, schilt sich, ihm nicht einmal ihren Namen genannt zu haben – wie soll er sie so jemals wiederfinden? –, doch da steht er eines Tages plötzlich vor ihr im Blumenladen, ihr Otto – und eben auch nicht, denn er ist verheiratet. Dennoch lassen sie einander nicht mehr los, begehren einander stürmisch, Mund und Wangen rot vor Liebe. Ihre Veränderung ist vor den Eltern nicht unbemerkt geblieben; Frieda merkt, wie sich das Band ihres streng katholischen Elternhauses immer enger um sie schlingt, zu ersticken droht. Dann bleibt ihre Periode aus. Tausende Fragen und keine Antworten, nur Einsamkeit und Angst, die wie ein Stein auf ihrer Brust liegen. Denn eine uneheliche Schwangerschaft, das war ein Skandal. Ihre Eltern verweisen sie des Hauses, versagen ihr jegliche Liebe und Fürsorge, versagen ihr, noch länger Teil der Familie zu sein. Aber auch ihrem heimlichen Kind würde sie nie Mutter, nie Familie sein.

„Ich hatte das große Bedürfnis, alles zu erzählen, wusste aber nicht, wem.“ (S. 85)

Niemals wird sie den Anblick der kleinen Füßchen vergessen, die Stille. Umso mehr schmerzt es, dass nun, sechzig Jahre später, seine Füße das letzte waren, was sie von ihrem Ehemann gesehen hat. All die stille Traurigkeit, die sie ihr Leben lang in sich trug, tritt wieder zu Tage, hallt umso lauter wider zwischen den Wänden des Zimmers der Seniorenresidenz, in der sie nun wohnt. Frieda ist inzwischen einundachtzig Jahre alt, das Laufen fällt ihr schwer, aber die Erinnerung an den Schmerz und die Ungewissheit, die der Anblick der stillen Füße in ihr wachgerufen hat, bringt sie dazu, sich ihre Geschichte zu stellen und sie zu teilen.
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Manchmal kann man nichts dagegen tun, es übermannt einen einfach. Mein Herz ist gebrochen und gleichzeitig seltsam ruhig. Tränen tanzen auf den Wimpern, der Nasenspitze, tropfen auf die Seiten, auf die "Kontur eines Lebens", die niemals ausgefüllt werden durfte, immer nur als blinder Schemen dessen, was hätte sein können, gegen die Brust pocht. Über diese stille Traurigkeit, den Verlust eines möglichen Lebens, das geheim gehalten werden musste, bedeutete eine Schwangerschaft ohne den heiligen Bund der Ehe für viele Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts (und ganz sicher auch davor - und jetzt noch) den Ausschluss aus der (gläubigen) Gesellschaft, erzählt Jaap Robben in seinem Roman, der von Birgit Erdmann aus dem Niederländischen übertragen wurde. Zärtlich und gefühlvoll skizziert er das Leben der Protagonistin Frieda in ihrer Adoleszenz in den 60er Jahren und gegenwärtig als alte, hilfsbedürftige Dame, arbeitet die für die jeweilige Zeit und das Alter entsprechenden Charakterzüge, Eigenheiten - und Traumata - sensibel heraus, und lässt sie zu jeder Zeit so nahbar und echt erscheinen. Umso stärker traf mich ihr Schicksal: wie die Gesellschaft und ihre Eltern mit ihr umgingen, und was sie erleiden musste - während der Schwangerschaft, unter der Geburt und danach. Leer und einsam, abgeschnitten. Währenddessen kam Otto ungescholten davon, obgleich er: A) seine Ehefrau betrog, B) ein uneheliches Kind zeugte, C) sogar noch sagte, er habe genug Liebe für sie beide, wo sei da das Problem. Seriously? Aber leider nichts Neues, damals wie heute. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es all den Frauen ihr Lebtag ergangen sein mag, die sie all die Jahre dieses unaussprechliche Packerl mit sich tragen, die Bilder vor Augen, der Schatten einer Berührung auf der Haut. Und dennoch ein "normales Leben" weiterführen mussten.
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Ich habe wahrlich nur warme Worte für diese große, intensive Geschichte, die kritische Betrachtung einer Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Von Beginn an hat mich die Erzählung von Friedas Leben in den Bann gezogen, diese kluge und stringente Komposition aus den jeweiligen Zeitsträngen mein Herz erwärmt. Einzig Tobias, der Sohn Friedas, ging mir zeitweise auf den Geist mit seiner teils herabwürdigen Art. Geschenkt. Nein, ich bin selig. Und zerstört. Ein unbedingtes Jahreshighlight!

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Veröffentlicht am 05.11.2023

Nicht mein Buch

Die weite Wildnis
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"Sie fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, und als sie mitten in der Nacht aufwachte, waren sämtlich Sterne aufgegangen, und der Mond, nur einen Spalt von einem vollen Rund entfernt, leuchtete hell ...

"Sie fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, und als sie mitten in der Nacht aufwachte, waren sämtlich Sterne aufgegangen, und der Mond, nur einen Spalt von einem vollen Rund entfernt, leuchtete hell von oben herab. Sie lauschte den nächtlichen Geräuschen aus dem Wald und hatte zum ersten Mal keine Angst." (S. 126)

Nordamerika im 17. Jahrhundert. In weißen Wolken treibt ihr Atem in die kalte Nacht, das feuchte Schmatzen des Waldbodens unter ihren schnellen Schritten das einzige Geräusch in der Dunkelheit. Das junge Mädchen ist auf der Flucht, allein, hatte sich allem entsagt, was sie kannte; ihrem Namen, ihrer Sprache, der kleinen Bess - ihr Herz sticht. Sie rennt, rennt immer weiter: weg von ihren Dämonen, in Richtung der Lebenden. Im Kopf hat sie die vagen Umrisse einer Karte, die sie einst sah: zarte Linien, wo Land und Wasser sich berühren, Gebirgszüge und Ländereien. Die neue Welt, das große Unbekannte.

Sie kämpft ums Überleben, jeden Tag aufs Neue, doch ihre Furcht vor der Wildnis ist nicht so groß wie die Wut, die sie auf die Menschen verspürt, auf ihren frevelhaften Umgang mit diesem gottgegebenen Wunder, das die Natur ist. Ihr Blick verändert sich, sie verändert sich – und etwas in ihr beginnt zu wachsen: ein neuer Blick und eine Liebe, die sie am Leben hält.

„Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig. Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten. Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.“ (S. 29)

Hm, was soll ich sagen. Gefunkt hat es wirklich oft, jedes Mal nämlich, wenn das Mädchen versuchte, ein Feuer zu machen – aber auf mich ist der Funke leider nicht gänzlich übergesprungen. Lauren Groff schafft es, „[D]ie weite Wildnis“ mit ihren Worten, mit ihrem unnachahmlichen Blick für Licht und Schatten, für das Sichtbare und Unsichtbare erfahrbar zu machen. Und das mit allen Sinnen. Unendlich zart, ehrfurchtsvoll und poetisch lässt sie das Mädchen Teil dieser unberührten Natur werden, den Zauber der Vollkommenheit auf sie übergehen und sie formen. Während sie gegenwärtig ums Überleben kämpft, schweifen ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Menschen, die sie zurückließ, um die rauschende Einsamkeit zu ummanteln: sie denkt an Bess, an die Schifffahrt von England in die neue Welt, die sie alle beinahe das Leben kostete, an die zarten Berührungen des Schiffsjungen, die sie innerlich brennen ließen, an die scharfen Worte ihrer Herrin und ihre Ehegatten. Nach und nach füllt Groff blinde Flecken mit Licht und Farbe, und mit Gewissheiten, die umso schwerer auf dem Herzen liegen. Grausamkeiten und Gewalt werden manifest, dunkle Schatten, die das Mädchen in der traumwandlerischen Schönheit der Natur verfolgen – bis sie die Welt mit einem neuen Blick zu betrachten lernt.
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Etwas fehlte. Zu leise war der Wind, mich vollends mitzureißen, fallenzulassen in das weiche Moos, denn es sind eben die Rückblicke, die mich in Atem hielten, das Leben fernab des Waldes und des Überlebenskampfes des Mädchens, ihrer Heldinnenreise – obwohl gerade dem ja ein naturgegebener Spannungsbogen innewohnt. Keine Frage, sprachlich ist diese Geschichte herausragend, nicht zuletzt wegen der grandiosen Übersetzung von Stefanie Jacobs. Aber der Zeitpunkt passte einfach nicht. Ich komme wieder, mit leichterem Gepäck.

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Veröffentlicht am 05.11.2023

Großartig und mitreißend

Marschlande
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"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. ...

"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. 134)

Winterkahle Baumkronen wogen im rauen Wind; feiner Dunst steigt von der flachen Marschwiese auf. Vor drei Monaten waren sie nach Ochsenwerder gezogen, Britta und ihre Familie; ein Neuanfang, fernab der Stadt. Sie hatte ihren Job als Geografin aufgegeben – für die Familie –, fand nach der Geburt ihres zweiten Kindes keinen Anschluss mehr im Institut. Für ihre Kinder Ben und Mascha kommt der Umzug einem Weltuntergang gleich, doch sie versucht sie zu besänftigen, dass es Zeit brauche, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Doch wem macht sie etwas vor. Auf ihren Streifzügen durch die herbstkargen Marschwiesen lernt Britta das dem Gebiet so eigene Relief kennen und beginnt, die Spuren der Vergangenheit aus den Bracks, Deichlinien und alten Bauernhäusern zu lesen. Dabei stößt sie auf Abelke Bleken, eine Bäuerin, die um das Jahr 1580 in den Hamburger Marschlanden lebte – und sie bleibt hängen. Bleibt hängen am Schicksal dieser Frau, das geprägt ist von Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Je mehr sie erfährt, desto klarer treten ihr die Parallelen zur ihrem Leben, zu dem Leben von Frauen* in der heutigen Zeit auf, und sie beginnt zu verstehen.

"Die Wiesen haben Augen, die Felder haben Ohren." (S. 53)

Mehr als 450 Jahre ist sie her, die Allerheiligenflut des Jahres 1570, die als die verheerendste Sturmflut an der Nordsee vor dem 20. Jahrhundert gilt. Abelke Bleken besaß zu eben dieser Zeit einen Hof in den Marschlanden südwestlich Hamburgs, bestellte Felder und fuhr Ernten ein, pflegte ihren Deich. Die Menschen lebten mit der Natur und den Gezeiten, sie prägten ihr Leben, zeichneten sie, und entsprechend lehnten sie alles Frevelhafte, Übernatürliche ab. Als Töversche bezeichneten sie Frauen, die die Chuzpe besaßen, sich zu wehren, ihre Stimme gegen die Männer des Bauerndorfes zu erheben – mit weit reichenden Folgen.
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Mit zarter, wohltuender Sprache zeichnet Jarka Kubsova in „Marschlande“ ausdrucksstarke Bilder des Hamburger Marschlands und seiner Bewohner:innen, gegenwärtig wie in der Vergangenheit, und lässt insbesondere die Parallelen in Brittas und Abelkes Leben hervortreten. Eindrucksvoll beschreibt Kubsova die Einflüsse der Natur auf ihre Menschen, und wie die Menschen wiederum ihre Natur beeinflussen: das Außen im Innen und das Innen im Außen (so auch der Titel der Lesung zum Buch im Rahmen einer Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin, der besser nicht hätte passen können). Mir haben besonders die Passagen über Abelke Bleken gefallen, die Szenen eines möglichen Lebens zu einer Zeit, in der eben diese Unabhängigkeit, die sie so auszeichnet, nicht gern gesehen war, ihre Standhaftigkeit ein Dorn im Auge der anderen Dorfbewohner.
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Doch auch in der Gegenwart ist das kein unbekanntes Szenario, und auch ein Grund dafür, dass Britta immer mehr über Abelke erfahren mag, diese Frau, deren Namen sie zufällig auf einem Straßenschild sah – und bei weitem nicht die Einzige ist, die unerhört war, aus der Norm fiel oder für etwas gekämpft hat: „[Es führte] sie an den Ursprung. An die Quelle so vieler Dinge, die sie in ihrem Leben als Hindernis spürte. In ihrem Leben als Frau." (S. 306) Die Atmosphäre der Gegenwart ist eine andere, eine kühlere, distanzierte, und ich wurde mit Britta nicht wirklich warm, viel eher strengte sie mich zeitweise an; das als einzige kritische Anmerkung. Denn ansonsten hat mir die Geschichte ungemein gut gefallen, habe ich doch so viel mitnehmen können (insbesondere auch aus dem Nachwort): eine gewisse Awareness ob des Ursprungs heutiger Verhaltensweisen der Gesellschaft und der unmittelbaren Nähe geschichtsträchtiger Orte, der Vergangenheit in der Gegenwart, und das Wesen der Hexenprozesse als Processi Extraordinarii. Ein so klug komponiertes, berauschendes Buch. Empfehlung!

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Veröffentlicht am 13.10.2023

Zwischen den Zeiten

Die Wahrheiten meiner Mutter
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Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre ...

Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre alt, das in die Traufe zurückkehrt. Einfach war es nicht, sie kennenzulernen, den Menschen hinter den distanzierten Worten und Gedanken, die Vidgis Hjorth der Protagonistin ihres Romans „Die Wahrheiten meiner Mutter" in den Mund legt, den Fragmenten eines eingebrannten Lebens. Doch je mehr sie sich öffnet, je mehr die Vergangenheit sie übermannt, sie Gefühltes, Erlebtes, Gesehenes im Schutze ihres Hauses im Wald offenbart, desto schneller schlug mein Herz, stärker wurde der Druck meiner Hände um das Buch.
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In lakonischen Szenen und großräumigem, atmendem Schriftsatz weben sich Gedankenfragmente und Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, das Leben mit Mutter und Vater, die Strenge und Demütigung, die sie erlebte, die Restriktion ihrer frühen Fantasterei in die Gegenwart. Es ist eine Suche nach dem Kern ihrer Mutter-Tochter-Beziehung, nach den Gründen für das Verhalten ihrer Mutter – damals wie heute –, eine Suche nach Liebe und Anerkennung, wo nur Kälte, ein teilnahmsloser Blick waren: regretted motherhood. Und heute: Angst. Es grenzte schon ans Absurde, einer sechzigjährigen Frau bei der Beschattung ihrer fünfundachtzigjährigen Mutter beizuwohnen, wie sie mutiger wird, sich immer näher an sie heran wagt, beobachtet, überlegt, reflektiert - und auch die Rolle von Johannas Schwester Ruth in dem Ganzen Katz-und-Maus-Spiel. Hjorth spielt mit Sympathien, der Umkehr von Täterin und Opfer, doch fragt man sich, ob sie an einem Punkt nicht beide dem Patriarchat zum Opfer fielen. Auf die eine oder andere Art.
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Je näher sie einander kommen, desto gespannter wird die Atmosphäre, Johannes Gedanken knapper, konzentrierter, die Reflexion ihrer Mutterrolle präsenter. Bis es zum großen Knall kommt. Bis zur letzten Seite hat mich die Geschichte ungemein gefesselt, der raue Ton bisweilen einem poetischen, gar melancholischen, von Traurigkeit und Ernüchterung verzerrten gewichen; Worten und Bildern, die im Kopf bleiben. Ein beeindruckender, zutiefst bewegender und nachdenklich stimmender Roman, der nach lange nachwirkt.

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