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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ich lieb's!

Unsere anarchistischen Herzen
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„ich schwimme durch mich selbst hindurch und habe meine taucherbrille in der umkleide liegen gelassen das heißt ich bin ein blindfisch. (...)
& ich habe keine antworten ich habe keine einzige mit augen ...

„ich schwimme durch mich selbst hindurch und habe meine taucherbrille in der umkleide liegen gelassen das heißt ich bin ein blindfisch. (...)
& ich habe keine antworten ich habe keine einzige mit augen die nicht für die umgebung gemacht wurden es lässt sich nichts erkennen und nichts begreifen im verschwommenen.“ (S. 28)

Zwei junge Frauen, zwei Geschichten, und die Hindernisse des gegenwärtigen Lebens – boah shit! Charles‘ Eltern drehen auf einmal nämlich richtig durch: Ihr Vater läuft nackt durch Charlottenburg, um ein Exempel zu statuieren und ihre Mutter ist auf einem ätherischen Trip, weshalb sie plötzlich beschließt, dass die ganze Familie aus Berlin in eine kleine Hippie-Gemeinde nahe Hildesheim zieht. Wehren kann sie sich nicht, doch ihr Oktopus-Stofftier, ihre neue Bananenpalme und nicht zuletzt Gerd, ein weißes Pony, helfen ihr, nicht durchzudrehen und sich mit der Situation irgendwie zu arrangieren. Gwens Familie hingegen ersäuft in ihrem Wohlstand und der Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen und Gefühlen ihrer Tochter, und so findet sie in unter ihren Gangster-Klamotten Schutz, rebelliert und führt ein wildes Leben, um der Etepetete-Gesellschaft zu entkommen. Da scheint es Schicksal zu sein, dass sich Charles und Gwen in dem kleinen Kiosk treffen, und ihre Einsamkeit gemeinsam besiegen.

„Unsere anarchistischen Herzen“ ist ein Rausch aus blauen und roten Akzenten, aus Wut und Einsamkeit, voll von Humor und sensibler Ansprache – aber Gefühle anderen gegenüber zu zeigen wäre viel zu whack, und was da hilft ist eine stabile Fassade, die Unantastbarkeit und Stärke suggerieren sollen. Und genau diese hat Lisa Krusche den Protagonistinnen in ihrem Debütroman grandios aufgebaut: Der Background der beiden Frauen ist grundverschieden, und doch verbindet sie beide eine fragile Familie, der die Bedürfnisse, die Gefühle der Töchter scheinbar unwichtig sind, solange ihr Prestige nach außen hin besteht. Gwen ist unglaublich sensibel, verletzlich und hat bereits in ihrem jungen Leben schon unzählbare sexuelle Übergriffe erlebt, verbal wie physisch, doch sagt selbst, dass es nie jemanden gab, dem sie davon hätte erzählen können.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Mein Herz bricht

Kukolka
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"Wer bist du?", fragte ich.
"Wer bist du?", fragte die Gestalt zurück.
"Ich? Ich bin niemand."
"Das ist gut. Wer niemand ist, kann alles werden." (S. 160)

[TW: Gewaltdarstellungen, sexueller und psychischer ...

"Wer bist du?", fragte ich.
"Wer bist du?", fragte die Gestalt zurück.
"Ich? Ich bin niemand."
"Das ist gut. Wer niemand ist, kann alles werden." (S. 160)

[TW: Gewaltdarstellungen, sexueller und psychischer Missbrauch, Prostitution]

Eine Familie, ein eigenes Zimmer, ein Bett mit kuschelweicher Matratze – das ist es, was sich die siebenjährige Samira wünscht. Sie wohnt in einem Kinderheim in der Ukraine, Mitte der 90er Jahre. Abgesehen von der autoritären Marina hat sie keine Freunde, wird häufig geärgert und schikaniert – umso trauriger ist sie, als ihre Freundin beim monatlichen Besuch potentieller Eltern von einem Ehepaar aus Deutschland adoptiert wird. Marina verspricht, ihr regelmäßig Briefe zu schreiben und ihre neuen Eltern zu überreden, sie auch nach Deutschland zu holen, und von da an steht für Samira fest: Sie möchte raus hier, sie möchte nach Deutschland zu Marina, mit ihrer neuen Schwester und ihren eigenen Barbies spielen, Süßigkeiten essen und es einfach gut haben. Doch die Monate vergehen, ohne dass etwas passiert, und so fasst sich Samira ein Herz, packt ihre wenigen Habseligkeiten und den Brief mit Marinas Adresse und findet sich plötzlich in einem neuen, gefährlichen und aufregenden Leben wieder.

In ihrem Debütroman „Kukolka“ erzählt Lana Lux, die selbst im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland auswanderte, eindringlich und zutiefst erschütternd die Geschichte eines kleinen Mädchens, das als einem Kinderheim flieht und, unter der „Obhut“ des Mannes Rocky, in einer Gruppe von anderen, vom Leben gezeichneten Kindern aufwächst. Täglich setzt er sie an stark bevölkerten Orten in der Stadt ab, damit sie Geld sammeln, betteln und klauen – für ihren Unterhalt und für die krummen Geschäfte ihres Padrone, doch das soll bei weitem nicht das schlimmste sein, was Samira, genannt Kukolka, in ihrem jungen Leben erfahren und erleben soll.

Lana Lux entwirft unglaubliche Szenarien eines Lebens am Rande der Gesellschaft, die in einer sozialisierten Welt unmöglich erscheinen, weit weg von uns, einem blinden Fleck gleich – und doch sind sie da.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Wundervoll!

Der Tod des Vivek Oji
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„Ich bin nicht, wofür mich alle halten. Das war ich nie. (...) Es war schwer, jeden Tag mit dem Wissen herumzulaufen, dass die Leute mich auf eine bestimmte Art sahen und falsch lagen, so völlig falsch, ...

„Ich bin nicht, wofür mich alle halten. Das war ich nie. (...) Es war schwer, jeden Tag mit dem Wissen herumzulaufen, dass die Leute mich auf eine bestimmte Art sahen und falsch lagen, so völlig falsch, dass ihnen mein wahres Ich verborgen blieb. (...) Aber wenn dich niemand sieht, bist du überhaupt noch da?“ (S. 47)

Er ist tot. Ihr geliebter Sohn Vivek ist tot. Als sie den notdürftig in Tücher gewickelten, gebrochenen Körper ihres einzigen Kindes vor ihrer Haustür entdeckt, bricht auch in Navita etwas, von dem sie sich nicht wieder erholen wird. Er war schon immer besonders, anders, und sie und ihr Mann Chika haben ihn oftmals nicht verstanden: Er litt schon von Kindheit an an Black Outs, die ihn scheinbar in Parallelwelten ziehen, und ließ sich die Haare lang wachsen. Während sein Onkel Emezi und deren Frau Mary davon überzeugt sind, dass er von einem Dämon besessen sein muss, tut Kavita all diese Anschuldigungen ab. Doch der einzige, dem sich Vivek anvertraut, mit dem er seine Sorgen und Ängste, seine Bedürfnisse teilt, ist sein Cousin Osita – und so entspinnt zwischen den beiden eine feine, liebevolle Liaison. In den 90er Jahren in Nigeria undenkbar! Was hat all das mit dem Tod Viveks zu tun?

Akwaeke Emezi erzählen in „Der Tod des Vivek Oji“ viel mehr als die verzweifelte Suche Kavitas nach der Wahrheit, nach den Gründen für den Tod ihres geliebten Sohnes. Viel mehr ist es ein unglaublich wichtiger, berührender Appell dafür, man selbst zu sein, keine Angst zu haben vor seiner oder ihrer wahren Identität. Vor dem Hintergrund strikter kultureller und religiöser Vorstellungen entspinnt sich eine von Angst und Verzweiflung geprägte Geschichte, die Vivek aus verschiedenen Blickwinkeln zu unterschiedlichen Stationen seiner Leben betrachtet, und dabei sukzessive aufdeckt, wer sie wirklich sind. Die klare, einfache Sprache kommt ohne bunte Beschreibungen aus und stellt beinahe nüchtern die Handlungen dar. Wie sensibel Awaeke Emezi all die Aspekte rund um Geschlechtsidentitäten, soziokulturelle und ethnische Differenzen – die nur zart, beinahe nebenbei erwähnt werden, trotzdem aber unglaublich wichtig sind!

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Giovannis Zimmer
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"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein ...

"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein eigenes sein, das, um Giovannis zu verwandeln, erst ein Teil von Giovannis Zimmer werden musste." (S. 101)

Paris, 1950er Jahre. Aus seinem Elternhaus in den Staaten geflohen, findet der junge David in Paris einen Zufluchtsort. Als er eines Abend mit einem Geschäftspartner in eine Bar einkehrt, lernt er den Barkeeper Giovanni kennen, einen frevelhaften, hochmütigen Italiener, der etwas in ihm weckt, das er bislang nicht aktiv wahrgenommen hatte. Sie kommen sich näher, werden intim und beginnen eine Affäre. Gemeinsamen leben sie in Giovannis Zimmer, einer kleinen Kammer außerhalb der Pariser Altstadt, wo sie keine Angst haben müssen, ihr Verlangen zu rechtfertigen. Doch David kann mit diesen intensiven Gefühlen nicht umgehen, schämt sich einerseits, verlangt aber auch nach Giovannis Körper, seiner Liebe. Als plötzlich Davids Verlobte aus Spanien zurückkehrt, ist er völlig überfordert, während Giovanni, von seinem Geliebten verleugnet, aus seinem Leben abtritt.

Nachdem ich "Im Wasser sind wir schwerelos" von Tomasz Jedrowski gelesen hatte, war es für mich fast schon selbstverständlich, "Giovannis Zimmer" (OT: Giovanni's Room, Neuübersetzung von Miriam Mandelkow) von James Baldwin lesen zu müssen. Bereits 1956 im Original erschienen (in Deutschland erstmals 1963), gilt es als eins der prägendsten Bücher der LGBTQ+-Community, und ist auch auf anderen Ebenen unglaublich wichtig. Nach seinem Durchbruch mit "Go Tell it on the Mountain" ging Baldwin nach Paris, und schrieb, entgegen der Vorgaben seines Verlags in den USA, wie sein nächstes Werk beschaffen sein sollte, bewusst ein Buch mit weißen Protagonisten, um sich von der Stigmatisierung seiner Herkunft loszumachen; die Beschaffenheit ihrer Liebe ist somit nur nebensächlich die Intention des Romans. Vielmehr wollte er ausdrücken, was passiert, wenn man Angst hat zu lieben.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Phänomenal!

Unter Deck
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„Was bin ich für ein Mensch? Heute, gestern, morgen? (...) Woher soll man so etwas wissen? Woher soll man wissen, wo die Reise hingeht, wenn man nicht weiß an welchem Punkt man startet? Kann man so etwas ...

„Was bin ich für ein Mensch? Heute, gestern, morgen? (...) Woher soll man so etwas wissen? Woher soll man wissen, wo die Reise hingeht, wenn man nicht weiß an welchem Punkt man startet? Kann man so etwas wissen?“ (S. 278)

Manchmal eröffnet das Schicksal einem Möglichkeiten, von denen man nicht zu träumen gewagt hätte, dass sie einmal Wirklichkeit werden würden. So findet sich Olivia nach einem langen Abend plötzlich auf einem Schiff wieder, genauer: dem Segelschiff Robynne, das Mac, einen gutmütigen, älteren Herrn, und dessen guter Freundin Maggie gehört. Maggie ist blind und – genau wie Olivia – Synästhesistin; sie nimmt Geräusche und Gefühle als Farben wahr. Ermuntert von den Gemeinsamkeiten und dem Gefühl von Heimat beschließt Olivia, mit den beiden an einer Regatta teilzunehmen, endlich das blaue Meer der Korallenriffs zu sehen, und dafür ihr Praktikum bei einer großen Bank abzusagen. Sie verliebt sich in das Meer, die Weite und die Freiheit – bis es einige Jahre später zu einem traumatischen Erlebnis unter Deck eines Schiffs mit fünf jungen Männern kommt, das seine Spuren hinterlässt.

„Unter Deck“ (OT: Below Deck, übersetzt von Verena Kilchling) ist erschreckend intensiv und ehrlich, wortgewaltig und poetisch, verletzlich und sensibel. Sophie Hardcastle erzeugt mit wenigen Worten eindrückliche Bilder, sodass man das Salz auf der Haut zu spüren meint, den frischen Geruch des Meeres, sogar die Berührungen des jungen Mannes, dessen Finger wie ein Stempel haften bleiben. Ihre Protagonistin Olivia hat mich mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer durchweg intelligenten und starken Art beeindruckt: "Du bist ein eigenständiger Mensch, Oli. Vielleicht macht ihm das Angst." (S. 19) Sie wird mit allerhand Schicksalen konfrontiert, die an niemandem spurlos vorübergehen würden: der Tod eines Familienmitglieds, eine toxische Beziehung, fehlender familiärer Rückhalt. Trotz dessen wächst sie mit den Herausforderungen, behauptet sich in der männerdominierten Welt der Schifffahrt und findet sich doch immer wieder Vorurteilen und Sticheleien ausgesetzt.

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