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Veröffentlicht am 13.08.2023

Nicht mein Buch

Vom Ende der Nacht
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"Uns wird beigebracht, dass wir uns um all das einen riesen Kopf machen müssen. Als würde jede Entscheidung, die wir treffen, einen ganz bestimmten Weg vorgeben." (S. 35)

Dunkel liegt die Nacht über ihnen, ...

"Uns wird beigebracht, dass wir uns um all das einen riesen Kopf machen müssen. Als würde jede Entscheidung, die wir treffen, einen ganz bestimmten Weg vorgeben." (S. 35)

Dunkel liegt die Nacht über ihnen, ihre Gesichter nur erhellt vom sanften Schein des Lagerfeuers. Bis zu diesem Abend war Rosie ihm nicht aufgefallen. Er wusste nur wenig über sie, dieses Mädchen mit den blassen, schmalen Händen, doch als Will sie leise lachen hört, fängt etwas in ihm Feuer. Sie kommen ins Gespräch, zuerst nur Smalltalk, Belangloses, aber ihre Nähe gibt ihm Sicherheit; ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr in der Nähe eines anderen Menschen gespürt hatte – und ihre Stimme hält ihn wach in dieser Nacht.

"Sie existieren im Tandem und verlangen sonst nichts voneinander." (S. 213)

Sie kann nicht aufhören an ihn zu denken. In der Schule wirkt er unnahbar, als sei er zu cool, sich mit anderen Menschen abzugeben, ein Aufreißer. Aber Rosie hat eine andere Seite von ihm kennengelernt, hinter die Fassade geblickt. Für einen Abend. Aus einem Abend wird eine Nacht. Schlaflos sitzen sie in der Küche im Haus von Rosies Eltern, Will hatte ihrem Zwillingsbruder Josh Nachhilfe gegeben, und essen Cornflakes, draußen wirbelt der Schnee. Zaghaft lernen sie einander kennen, tasten sich mit Worten ab, mit Blicken. Aus einer Nacht werden Tage und Wochen, wird: Liebe. Es könnte für immer sein, das spüren sie beide, aber dann passiert ein schlimmes Unglück und nichts ist mehr, wie es vorher war. Sie verlieren einander, doch die Gedanken aneinander niemals. Und Liebe überdauert alles, oder?

"Wie kann Liebe falsch sein? Wie kann irgendeine Form der Liebe schlecht sein?" (S. 156)

Auf den ersten Blick klingt das alles sehr nach Klischee: der hotte, unglaublich coole Typ, der von allen Mädchen angehimmelt wird, und das schüchterne, liebe Mädchen verlieben sich ineinander, aber dann passiert ein Unglück, und dennoch leben sie glücklich bis ans En... Nein, nein. Was Claire Daverley in ihrem Debütroman „Vom Ende der Nacht“, aus dem Englischen von Margarita Ruppel, entspinnt, ist viel mehr als das. Und doch konnte mich das Buch leider nicht abholen.

Es sind vor allem die Momente, in denen Rosie und Will gemeinsam im Bild sind, die mich... genervt ist nicht das richtige Wort dafür, aber kommt dem, was ich gefühlt habe, schon ziemlich nah. Zuckersüß bis cringe, blumige Beschreibungen einer zart entflammenden Liebe; klar, so sah meine Welt vermutlich auch aus, als es mich packte, aber hier war es für meinen Geschmack einfach zu viel. Diesem Gefühl konnte Einhalt geboten werden durch die tieferen Ebenen, die sich auftun – wobei auch das irgendwie gewollt anmutete, weil es musste einen Turning Point geben. Ab da hatte die Geschichte mich wieder, denn es sollte der erste Break der beiden sein: Rosie geht, lässt Will, lässt ihr altes Leben hinter sich, um eine Andere zu werden, während Will seinen Schmerz in Alkohol und Arbeit ertränkt.

Liebevoll zeichnet Daverley die unterschiedlichen Arten des Trauerns, der alten Narben, die sie tragen, und der neuen, die sie verbinden, erzählt von Wills Vergangenheit und seiner Familie, von Rosies neuem Leben an der Universität und dem Gefühl, für immer einen Teil seiner Selbst verloren zu haben; von Abhängigkeit und Schmerz, von Einsamkeit, Sehnsucht und Naivität. Und: von den Launen des Schicksals, das sie voneinander weg und zueinander hin wirbelt. Leider konnten mich weder die Protagonist:innen noch der Plot zu irgendeinem Zeitpunkt abholen, überflog ich ab der zweiten Hälfte die Seiten, in der Hoffnung, noch einmal einen Einstieg zu finden, aber auch am Ende der Nacht fanden wir uns nicht. Schade!

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Wunderbare Auszeit

Nincshof
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Ach, was hat mir diese Reise nach Nincshof Spaß gemacht! Voller Zärtlichkeit und wärmendem Humor erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman „Nincshof“ die Geschichte eines ganz besonderen Sommers für ...

Ach, was hat mir diese Reise nach Nincshof Spaß gemacht! Voller Zärtlichkeit und wärmendem Humor erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman „Nincshof“ die Geschichte eines ganz besonderen Sommers für die Bewohner:innen eines kleinen Dorfes im Burgenland, dessen Existenz seit jeher auf Legenden fußt. Es geht um das Erinnern und Vergessen, um das, was im Leben zählt, um das, was Familie und Heimat, Glück für einen Menschen bedeuten. Nach und nach lernen wir die unterschiedlichen Bewohner:innen kennen, allen voran Erna, eine alte Dame, die seit jeher in Nincshof wohnt. Einen jeden Morgen erinnert die erdrückende Stille sie daran, dass sie Witwe ist, einsam, ihr Leben ohne ihren viel zu früh verstorbenen Ehemann sinnlos. Von allen nur „die Neue“ genannt, sucht Isa Bachgasser, die als Regisseurin bereits einige Preise für ihre Filme gewonnen hat, nach einem Burnout Ruhe und hofft sie in Nincshof zu finden. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte die Probleme, sich in der neuen Rolle als Mutter ein, in ihrem neu geformten Körper wiederzufinden, von einem Augenblick auf den anderen nur noch „Vieh im Molkereibetrieb“ (S. 272) zu sein, dem Urteil anderer ausgesetzt.
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Es sind eben diese besondere Atmosphäre, die sich wie eine Glasglocke über einen wölbt und komplett aus der Gegenwart, hinein ins Dorfleben saugt, und die Ausgewogenheit, ja, der fließende Übergang zwischen heiteren, urkomischen Momenten und ernsten Themen, die die Autorin anhand der unterschiedlichen Biografien ihrer Protagonist:innen behandelt, die diese Geschichte so besonders machen. Lachte ich im ersten Augenblick über die schrullige Dreistigkeit Erna Rohdiebls, nächtens im Pool ihrer Nachbarn schwimmen zu gehen, wurden mir im nächsten die Augen feucht, als sie von ihren Verlusten erzählte, von ihren Kindern, ihrer Einsamkeit. Sie alle haben ihre Erfahrungen im Leben gesammelt, versuchen, eine bessere Mutter, Freundin, Ehefrau zu sein, die Stille zu besiegen, das Glück zu finden, vererbte Trauma zu überwinden, auch wenn sie dieses kribbelnde Unwohlsein nicht ganz verstehen. Ach, ich habe sie alle ungemein lieb gewonnen, Nincshof und seine Bewohner:innen, und diesen Sommer werde ich ganz sicher nicht vergessen!

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Veröffentlicht am 07.08.2023

Herrliche Sommerempfehlung

Bei euch ist es immer so unheimlich still
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In zwei, sich allmählich annähernden Zeitebenen erzählt Alena Schröder in ihrem neuen Roman "Bei euch ist es immer so unheimlich still" die Geschichte von Silvia und ihrer Mutter Evelyn. Nach all den Jahren ...

In zwei, sich allmählich annähernden Zeitebenen erzählt Alena Schröder in ihrem neuen Roman "Bei euch ist es immer so unheimlich still" die Geschichte von Silvia und ihrer Mutter Evelyn. Nach all den Jahren treffen sie im Sommer 1989 unverhofft wieder aufeinander, war der Kontakt zwischen Mutter und Tochter nach Silvias Flucht aus dem elterlichen Nest, das keines war, nur ein seidener Faden, der immer wieder zu reißen drohte. Seit dem Tod ihres Mannes Karl vor einigen Jahren war Evelyn alleine, hatte sein Verlust ihr den letzten Meter Boden unter den Füßen geraubt, nachdem sie bereits mit ihrem Ruhestand jene Zielstrebigkeit verloren hatte, die ihr so zu eigen war.
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Beginnend im Jahr Evelyns Hochzeit mit Karl 1940 entwirft Schröder aus verschiedenen Perspektiven, etwa der ihrer Schwägerin Betti oder eben jenem Gatten, ein eindrückliches, wie in Sepiafarben gehülltes Bild der Nachkriegszeit, beschreibt die Wege des Schicksals, die Evelyn ein Teil der Familie Borowski haben werden lassen; die Narben, die der Krieg bei Karl hinterließen und seine Beziehung zu seiner Schwester Betti nachhaltig veränderten; die Schwierigkeiten, mit denen Evelyn als Frau Doktor in einer patriarchalischen Welt umzugehen hat. Am meisten Schwierigkeiten bereitete ihr jedoch die Rolle als Mutter: Nachdem es einige Jahre dauerte, bis sie endlich schwanger war, fühlte sie sich als Mutter so hilflos wie noch nie in ihrem Leben – und entsprechend
distanziert war die Beziehung zu ihrer Tochter. Betti hingegen, ihre Tante und das
Enfant terrible der Familie, sollte für Silvia eine Vertrauensperson in den dunkelsten Stunden ihres jungen Lebens werden. Sie waren einander ähnlicher als Mutter und Tochter, schlugen über die Stränge, suchten die Grenzen, die Freiheit, waren ihrer Zeit weit voraus, doch das Schicksal hatte anderes im Sinn.
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Mitreißend und wärmend offenbart Schröder nach und nach Versatzstücke aus vergangenen Zeiten, aus Silvias Jugend und Kindheit, aus Evelyns Leben als Neigschmeckte, Mutter und Ehefrau, aus zwei unterschiedlichen Lebenswelten. Ihre Entwicklung, wie sie sich miteinander verändern, an der neuerlichen Verbundenheit wachsen, hat mich in Atem gehalten, konnte ich mich von Beginn an in ihrer beider Gedanken und Beweggründe einfühlen. Besonders Betti als handlungsweisende Nebenfigur ist mir auch sehr ans Herz gewachsen, sticht sie doch in der Prinzipientreue der elitären Borowskis heraus. Eine herrlich atmosphärische Geschichte und große Empfehlung!

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Veröffentlicht am 28.07.2023

Absolut mitreißend

Die Einladung
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Sie ist wie eines der Rehe in den Hamptons, von denen keiner weiß, wie sie auf ihr Grundstück gekommen sind; eine Wanze in einer scheinbar perfekten Welt, in der das Schicksal sie nicht vorgesehen hat; ...

Sie ist wie eines der Rehe in den Hamptons, von denen keiner weiß, wie sie auf ihr Grundstück gekommen sind; eine Wanze in einer scheinbar perfekten Welt, in der das Schicksal sie nicht vorgesehen hat; die Antiheldin, abhängig von Tabletten und der Güte ihrer Sugar Daddys. Emma Cline hat mit Alex eine Protagonistin geschaffen, die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Dabei ist sie eigentlich diejenige, die für ihre Taten – Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung – belangt werden sollte. Es ist diese feine Beobachtungsgabe Clines, der klare Blick auf die Gesellschaft, die Reichen und Schönen, die im System zuoberst stehen, der eine so bittersüße Umkehr von Gut und Böse bewirkt und Alex ihrer Rolle als „Bad Girl“ entheben – teilweise zumindest. Sie bewegt sich auf einem schmalen Grat, aber sie sieht keinen anderen Weg, sind es ihre Obsession zu Simon und ihre Angst vor ihrem Ex-Freund Dom, die ihre Spirale der Verwüstung weiter vorantreiben.
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"Sie kannte Leute wie Jack, Kinder der Reichen oder Berühmten, deren Persönlichkeit verzerrt war durch eine falsche Realität. Kein Mensch reagierte jemals aufrichtig auf sie, kein Mensch gab ihnen sinnvolles soziales Feedback, also hatten sie nie ein vernünftiges Selbstbild kultiviert.“ (S. 201)
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Clines Stil besticht durch den szenenhaften, atmosphärischen Ton, ihre präzisen und demaskierenden Beschreibungen der Rich Kids und alten weißen Männer sowie die grandiose Charakterzeichnung ihrer Protagonistin Alex. Durch bewusst gesetzte blinde Flecken, etwa in Bezug zu Alex und ihre Vergangenheit, öffnet sie Räume, in denen die Geschichte wächst, diese und jene Wege nehmen kann, doch, egal welche Fantasien man spinnt, es bleibt dieses ungute Gefühl, eine Vorahnung, dass das nicht mehr lange gut gehen kann. Ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen mag. Große Empfehlung!
Aus dem Englischen von Monika Baark

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Veröffentlicht am 25.07.2023

Leider nicht mein Buch

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
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Die Erinnerungen an ein Leben verändern sich im Laufe der Zeit, werden blasser, nehmen andere Gestalten an und manifestieren sich als diese Schatten im Gedächtnis, schreiben die Geschichte eines Lebens ...

Die Erinnerungen an ein Leben verändern sich im Laufe der Zeit, werden blasser, nehmen andere Gestalten an und manifestieren sich als diese Schatten im Gedächtnis, schreiben die Geschichte eines Lebens um. Doch letztlich ändert auch die Frage nach der Wahrhaftigkeit nichts mehr an dem Ist-Zustand, befindet die Protagonistin aus Doris Knechts neuem Roman „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, hat sie schließlich ganz andere Probleme: Sie muss eine neue Wohnung finden. Und sie muss sich daran gewöhnen, alleine zu wohnen. Mit Hund. In lakonischen, anekdotenhaften Kapiteln erzählt Knecht aus der Perspektive ihrer Protagonistin von ihren gegenwärtigen Aufgaben, von den Dingen, die sie ein Leben lang begleiteten und solchen, die sie verloren hat, von Zeiten in ihrem Leben, die sie veränderten und prägten, etwa einem gewalttätigen Exfreund, einer Abtreibung, der Geburt ihrer Zwillinge. Dem ersten Moment in ihrem Leben, in dem sie sich gesehen und umsorgt fühlte. Und flugs fallen gelassen wurde, als sie ihre Aufgabe als Gebärmaschine erledigt hatte, nur noch Hülle war (vgl. S. 141). Es sind immer wieder diese Momente, Schlagwörter eines Lebens, die sie zu umfassenderen Betrachtungen des Lebens und der Gesellschaft, ihrem Wandel mit den Jahren veranlasst, etwa dem gesellschaftlichen Blick auf die Rolle der Frau oder das Familienleben, die Immobilienpreise und das Leben als paradoxes Konstrukt. Dabei hinterfragt sie aber auch immer wieder ihr eigenes Verhalten und das Bild, das sie anhand ihrer Erinnerungen und Wahrnehmung weiterträgt.
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„Möglicherweise tut man den Kindern etwas Gutes, wenn man ihnen eine Rückkehr ins Kindersein, in den Mutterschoß so schwer wie möglich macht, vielleicht werden sie nur so erwachsen.“ (S. 23)
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Das klingt alles ja eigentlich ziemlich fein. Naja, ihr merkt schon, was ich damit sagen möchte. Wirklich übergesprungen ist der Funke nicht, ein bisschen warm wurde mir schon, aber das war es auch. Ich mochte den bilderbuchartigen Aufbau und die Interaktion zwischen der Protagonistin und ihren Kindern, den leicht ironischen Ton sehr, fand mich auch das ein oder andere Mal in Mila und Max wieder (und entschuldigte mich gedanklich bestimmt mehr als einmal bei meinen Eltern für alles, was sie mit mir ertragen mussten). Und: die Reflexion eines Lebens, die melancholischen Gedanken, die bestimmte Gegenstände, sei es der Tisch Modell Ingo oder die Sonnenbrille aus dem Urlaub, auslösen, die Geschichten und Erinnerungen, die daran hängen. Könnte mich den ganzen Tag lang nur in solchen Gedanken verlaufen, das macht ein ganz wohliges Kribbeln unter der Haut. Aber: die Protagonistin hat mich unendlich genervt. Ich verstehe ja, dass sie vor großen Veränderungen steht, dass das aufregend ist und auch und vor allem finanzielle Schwierigkeiten mit sich bringt, aber es ändert auch nichts daran, wenn sie sich alle paar Seiten immer wieder darüber beklagt – zumal sie aber auch drei Immobilien besitzt, hä. Darüber hinaus hat für mich der Spannungsbogen gefehlt, plätschert die Geschichte so mehr oder weniger monoton vor sich hin, bis – das sollte kein Spoiler sein – die Kinder aus dem Haus, der Hund im Körbchen, die alte Wohnung verlassen ist. Einige Gedanken habe ich wirklich gerne weitergesponnen, auf mein Leben übertragen und in Frage gestellt, doch viel mehr konnte mir das Buch leider nicht geben. Schade!

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