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Veröffentlicht am 15.08.2023

Ein halbes Highlight

Das Pferd im Brunnen
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Von melodischer Leichtigkeit und Poesie sind die Worte, mit denen Valery Tscheplanowa in ihrem autobiographisch inspirierten Debütroman „Das Pferd im Brunnen“ die Bilder dreier Frauen zeichnet, dreier ...

Von melodischer Leichtigkeit und Poesie sind die Worte, mit denen Valery Tscheplanowa in ihrem autobiographisch inspirierten Debütroman „Das Pferd im Brunnen“ die Bilder dreier Frauen zeichnet, dreier Generationen, die sich vom Zweiten Weltkrieg und der Perestroika bis in die Gegenwart erstrecken, von einem kleinen Dorf in Norddeutschland bis nach Russland - und zwischen den Welten: Walja. Über kurze, keinem zeitlichen Faden folgenden Szenen nähert sie sich ihrer Mutter Lena, der Großmutter Nina und deren Mutter Tanja an, den Frauen, die die Wurzeln pflanzten, aus denen sie heute deren Erinnerungen weiterlebt.

"Für die Menschen ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen wurden, und nun ist Selbstständigkeit gefragt. Woher aber Selbstständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat?“ (S. 107)
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Waljas Mutter Lena verließ 1988 das „zerfallende Land“ (vgl. S. 40), um nach Deutschland zu gehen; ihr Bruder Mischa begleitete sie, doch er fühlte sich ratlos in der Fremde, einsam in der Sprache, die er nicht beherrschte, verloren auf den sterilen Gängen des Jobcenters: "Dort im Ausland gab es die erdrückende Selbstverständlichkeit der Unterschied. Ganz so, als gebe es für jeden Menschen eine eigene Realität." (S. 40)
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Sieben Jahre später kehrte er zurück nach Kasan, zurück in die Wohnung seiner Kindheit. Er ist der einzige Mann, der geblieben ist, waren sämtliche Väter aus dem Leben der Frauen verschwunden: „Tanjas Mann war im Krieg gefallen, Ninas Mann hatte sich mit einem Haufen Eier, Brot und Butter in den Herzinfarkt gefressen, und Lenas Mann hatten die Trümmer der Sowjetunion unter sich begraben. Die Gesichter der Väter geisterten fortan in den Köpfen dieser Frauen, und sie fanden die Linien nicht wieder. Die Frauen krempelten die Ärmel hoch. Sie hatten die Kinder zu versorgen, die Tiere zu füttern und die Pflanzen zu gießen." (S. 165) Das war ihnen, diesen so unterschiedlichen Frauen, gemein: ihr Wunsch nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Und doch spielten auch die politischen Umstände, der Zerfall der Sowjetunion und die damit verbundene Armut eine wegweisende Rolle in ihrer aller Leben.
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Berührend und zermürbend, bisweilen bitter-ironisch und humorvoll sind die Bilder, die Valery Tscheplanowa zeichnet, und von einer sepiafarbenen Weichheit. Sie erzählt von der Rolle des Glaubens und Heiligenbildern, vom Verliebtsein und der Angst vor Einsamkeit, von Fürsorge und Mutterliebe – und dem Fehlen derselben –, vom Älterwerden und dem Tod, von Narben, die die Jahre, die Generationen überdauern und fortleben. Und von den blinden Flecken unserer Geschichte, die wir zu füllen versuchen. Während ich die erste Hälfte förmlich inhaliert habe, vollends geborgen in der Sprache und diesen besonderen Figuren, verlor mich die Geschichte zum Ende hin aus mir unerfindlichen Gründen. Ich kann nicht genau sagen, ob es letztlich die fehlende Präsenz der Erzählerin innerhalb der einzelnen Anekdoten ist, der schleichende Wandel der Tonalität, oder doch das zeitliche Setting, in dem ich das Buch las. Davon abgesehen hatte ich nämlich durchaus das Gefühl, dass das ein unbedingtes Highlight werden würde. Und das wünsche ich mir sehr.

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Veröffentlicht am 15.02.2023

Wurzelsuche

Rote Sirenen
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Warmherzig und sehnsuchtsvoll erzählt Victoria Belim in ihrem autobiographischen Debüt „Rote Sirenen“ von der Spurensuche um die Geschichte ihrer ukrainischen Familie, ihrer eigenen Wurzeln. Während ihrer ...

Warmherzig und sehnsuchtsvoll erzählt Victoria Belim in ihrem autobiographischen Debüt „Rote Sirenen“ von der Spurensuche um die Geschichte ihrer ukrainischen Familie, ihrer eigenen Wurzeln. Während ihrer Zeit in der Ukraine wohnt sie bei ihrer Großmutter Valentina, die sich in Schweigen hüllt. Sie möchte nicht über das reden, was ihren Eltern geschah, was sie selbst erlebte, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an den Hunger, die Zeit des Holodomors, die Angst. Noch immer beobachtet Victoria, wie das Erlebte den Alltag ihrer Großmutter prägt, wie sie ihren Obstgarten, die Kirschbäume pflegt, sich um die Aussaht und Ernte der Kartoffeln sorgt. Sie kennt es nicht anders. Und sie ist nicht die Einzige: Victoria reist in die Dörfer, wo ihre Verwandten einst lebten, stößt immer wieder auf Statuen und Straßen zu Ehren sowjetischer Machthaber, lernt ukrainisches Kunsthandwerk kennen, läuft durch Museen und ihr vertraute Waldstreifen. Doch ihre Suche scheint wenig ergiebig, bis sie sich entschließt, das Haus der Roten Sirenen aufzusuchen, das frühere Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, um Einsicht in alte KGB-Akten zu erbeten. Und überall lauert der Schmerz des Vergangenen, wabert wie ein Schleier über den Köpfen der Menschen, die sie auf ihrer Reise trifft, und sie in Schweigen hüllt. Es sei einfacher.
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Gleichermaßen emotional wie sachlich verbindet Belim die Erfahrungen und Fragmente, die sie auf ihrer Reise sammelt, mit historischen Bildern, Aspekten der ukrainischen Kultur- und Landesgeschichte sowie politischen Entwicklungen, die ihre Familiengeschichte beeinflussten, das Leben und Lieben ihrer Urgroßeltern prägten und deren Auswirkungen sie noch heute, zurück in ihrer Heimat, auf der Datscha spürt. Sie schreibt lebendig, macht mit detaillierten Beschreibungen ihre Umwelt erfahrbar, spürbar: den Geruch frischen Gebäcks und feuchter Erde, den kalten Wind auf dem Land, die Feinheit gewebten Stoffes. Ich mochte diese Passagen sehr, das Erfahren und "Sehen" mir unbekannter Traditionen und Landschaften, eine Ahnung des Lebensgefühls zu erhalten, doch teilweise uferte es ein wenig aus, überwog der eher deskriptiven, journalistisch geprägten Stil, und fehlte es an dem gewissen Etwas, das ich noch immer mit Worten greifbar zu machen versuche. Dennoch habe ich eine Menge gelernt, gefühlt, gedacht: über die aktuelle Situation in der Ukraine, meine eigenen Wurzeln und wie sie mich prägen, über das Schweigen und wie es von Generation zu Generation weitergegeben wird, um gebrochen zu werden. Für das Leben im Heute.

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Veröffentlicht am 14.02.2023

Einschlagend gut

Macht
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Jeden Tag sieht Liv die Scherben auf dem Boden liegen. Die Scherben von dem Tag, als sich ein Körper auf sie legte, sie zerbrach. Es sind ihre Scherben, die Heidi Furre in dem Roman „Macht“ aufliest, zusammensetzt, ...

Jeden Tag sieht Liv die Scherben auf dem Boden liegen. Die Scherben von dem Tag, als sich ein Körper auf sie legte, sie zerbrach. Es sind ihre Scherben, die Heidi Furre in dem Roman „Macht“ aufliest, zusammensetzt, um sie zu heilen. Eine jede Scherbe enthält Gedanken, die Liv gegenwärtig umtreiben: von Sie erzählt sachlich, lakonisch und kalt, wie betäubt fast. Jeden Satz wählt sie mit Bedacht, beschreibt ihren Alltag als Mutter, als Ehefrau, als Pflegerin. Als Betroffene – die sie nicht sein will. Wachen Auges beobachtet sie ihre Umwelt, beruft sich einem Mantra gleich immer wieder auf die Dinge, die ihr helfen, Abstand zu gewinnen, die Unmittelbarkeit und Ernsthaftigkeit zu relativieren, ihre Fassade aufrechtzuerhalten. Bis sie unmittelbar einstürzt. In ihrem Job als Pflegerin fühlte sie sich sicher, sie hatte Abstand zum Leben, sie hatte Macht: Ihre Patient*innen waren von ihr, ihrer Hilfe abhängig. Doch als eine neue Patientin in die Einrichtung zieht, löst sich etwas: Ihr Bruder ist Schauspieler – und wurde vor Jahren bekannt dafür, eine Frau vergewaltigt zu haben. Er wurde nie verurteilt, aber die Erinnerung bleibt. Wann immer er in der Nähe ist, hat sie Angst, seine Augen lösen die Fassade langsam auf. Und gleichzeitig ist es ein Befreiungsschlag, der sie zwingt, sich zu öffnen. Das Mittel: Konfrontation. Reden. Freimachen.
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Die lakonisch schneidende, harte Sprache, derer sich Heidi Furre bedient, um Livs Gefühlsleben darzustellen, unterstützt den Inhalt ihrer Worte, die Botschaft, die sie zu vermitteln versucht, unglaublich gut. Dass es nämlich keine Bagatelle ist, dass es Gegenwärtig ist. Sie stellt Liv, die Frau, die Leidtragende, wie sie sich bezeichnet, in den Vordergrund, ihre Ängste, die Anstrengung, die es sie kostet, ein normales Leben zu führen, nicht jeden Tag, bei jeder Berührung, jedem noch so kleinen Ding „daran“, an „den Vorfall“ erinnert zu werden. Ihren Körper als eben das zu betrachten: als Mutterkörper, der liebt, der lebt und atmet, der sich kümmert. Nicht als Objekt, das es zu benutzen gilt. Dennoch lässt sie kontroverse Gedanken, ein Nebeneinander von Bitternis und Empathie zu, lässt Liv darüber fantasieren, wie weit ihre moralischen Grenzen gesteckt sind, Rache zu üben, ihrerseits die Macht zurückzugewinnen und auszunutzen.
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Das Buch hat mich mitgenommen, wütend gemacht, weich werden lassen. Und immer wieder diese Sätze, die innehalten lassen, die ich unterstreichen musste, bald waren ganze Seiten schraffiert von grauem Graphit. Schlagende Zeilen, die schmerzen und Augen öffnen. Das waren die ersten zwei Drittel. Doch gen Ende verlor die Geschichte an Biss, was in gewisser Weise auch für die Entwicklung Livs stehen kann, klar. Doch für mein Empfinden war es zu überhastet, gewollt. Davon abgesehen: WOW. Eine große Empfehlung (respektive TW)!

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Veröffentlicht am 01.12.2022

Empowerment mit Herz

Miss Kim weiß Bescheid
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Mit derselben Intensität und Brisanz, mit der sich Cho Nam-Joo im vergangenen Jahr in „Kim Jiyoung, geboren 1982“ bereit der Unterdrückung koreanischer Frauen durch das Patriarchat widmete, betrachtet ...

Mit derselben Intensität und Brisanz, mit der sich Cho Nam-Joo im vergangenen Jahr in „Kim Jiyoung, geboren 1982“ bereit der Unterdrückung koreanischer Frauen durch das Patriarchat widmete, betrachtet sie in „Miss Kim weiß Bescheid“ anhand acht verschiedener Frauenbiografien gesellschaftsrelevante Themen, die Frauen auf der ganzen Welt betreffen: Es geht Alter und Krankheit und die Frage, bis wann ein Leben lebenswert ist; um Unterdrückung und Selbstermächtigung, um toxische Beziehungen und wahre Liebe, um Mutterschaft und weibliche Identität, Mobbing und Hatespeech, um Gleichberechtigung und Mut; aus dem Schatten zu treten und das Leben zu ergreifen, von dem man immer geträumt hat. Sie spricht Themen an, die Frauen* auf der ganzen Welt betreffen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und erzeugt so ein Gefühl der Verbundenheit und des Komplizinnentums. Ihre Sprache ist klar und präzise, die Dialoge pointiert. Trotz der Kürze verleiht sie ihren Protagonistinnen Ecken und Kanten, macht sie und ihre Geschichten, die stellvertretend für so viele Schicksale stehen, greifbar. Am meisten haben mich „Unter dem Pflaumenbaum“ und „Lieber Hyannam“ bewegt, die thematisch komplett unterschiedliche Thematiken behandeln und zugleich die stilistische Variabilität Cho Nam-Joos unterstreichen, von Inwon Park in ihrer Rhythmik und Wärme wunderbar ins Deutsche übertragen wurde. Nicht alle Stories haben mich inhaltlich gepackt, fehlte es ihnen an dem gewissen Etwas, und doch ist ihnen alle eine schneidende Erkenntnis oder Pointe gemein, die kurz innehalten lässt.

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Veröffentlicht am 15.09.2022

Schmerzhafte Entdeckung

Dein Schweigen, Vater
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Mit ihrem Debütroman „Dein Schweigen, Vater“ betritt Susanne Benda ein sensibles Pflaster, einen Teil der deutschen Geschichte, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart zeigen. Bedrückend und in ...

Mit ihrem Debütroman „Dein Schweigen, Vater“ betritt Susanne Benda ein sensibles Pflaster, einen Teil der deutschen Geschichte, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart zeigen. Bedrückend und in der Tonalität die damalige Nachkriegsatmosphäre hervorragend einfangend, beschreibt sie zunächst Pauls Kindheit, seine kindliche Liebelei und die Unbarmherzigkeit, mit der sich sein Leben von einem Tag auf den anderen verändern soll: Mit gerade einmal zwölf Jahren werden er und seine Familie nebst rund 27 000 deutschstämmigen Bewohner*innen aus Brünn ver- und zur Niederösterreichischen Grenze hingetrieben. Er sah Menschen sterben, vor Erschöpfung zusammenbrechen, spürte Hunger und endlose Trauer. Bereits diese ersten Seiten pochen dumpf und schneidend im Herzen und lassen dennoch nur erahnen, wie schrecklich es damals wirklich war.

Verhältnismäßig hart ist der Übergang in die Gegenwart, Zeit und Ort, politische Lage vollkommen anders. Als blättere man durch ein Fotoalbum, sieht man Szenen von Paul als jungem Familienvater, seiner Frau und seinen Kindern, die bald selbst erwachsen sind, eigene Probleme anzugehen haben. Nicht zuletzt die nahende Sprachlosigkeit ihres Vaters. Immer öfters fragen sie sich, warum sie so sind, wie sie sind: Maria wurde von ihrem Mann betrogen, wollte eigentlich mit ihm ein Jahr Auszeit nehmen, steht nun jedoch alleine da; Uli hingegen geht voll und ganz in seiner Arbeit als Schuster auf, lebt zurückgezogen und hat kaum soziale Kontakte. Beide tun sie sich schwer, die Weichen für ihr Leben, das, was sie glücklich macht, zu finden; sie haben Angst vor dem freien Fall. Fast so, als fehle ein Teil von ihnen. Ihr Leben lang wagten es beide nicht, den Vater nach seiner Kindheit, ihren Großeltern zu fragen und – nach dem „Brünner Todesmarsch“. Gemeinsam begeben sie sich auf die Spuren ihres Vaters, reisen über Umwege nach Tschechien, um die Strecke von Brünn nach Wien zu beschreiten – in der Hoffnung, sich über ihr Leben, ihre Zukunft klar zu werden.

Ich hatte ein wenig Probleme, mich in der neuen Erzählstimme einzufinden, war mir vor allem Maria anfangs nicht sonderlich sympathisch in ihrer schroffen Art, vor allem ihrem Bruder gegenüber. Aber auf gewisse Art fand ich mich als große Schwester da (leider) auch wieder, nech. Das allmähliche Herauskristallisieren, inwiefern die Traumata und das Schweigen ihres Vaters, seine Erinnerungen an den Krieg, sie zu den Menschen macht, die sie sind, hat etwas in mir in Gang gesetzt, ein Kribbeln, ebenfalls mehr über die Geschichte meiner Eltern und Großeltern erfahren zu wollen, wird mir auch oft gesagt: „Du bist genau wie Oma.“ Doch was genau, warum? Zum Ende hin etwas konstruiert und vorhersehbar, hat mich das Buch jedoch insgesamt sehr bewegt und mein Denken bereichert, hatte ich bis dahin noch nie etwas vom „Brünner Todesmarsch“ gehört, und auch persönlich betroffen gemacht, finde ich das Thema der generationsübergreifenden Traumata unglaublich spannend. Ein vor allem thematisch ungemein wichtiges und spannendes Buch, das nachhallt. Weiterführend kann ich euch die Dokumentation „Vererbte Narben - Generationsübergreifende Traumafolgen (2017)“ von Liz Wieskerstrauch sehr ans Herz legen.

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