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Veröffentlicht am 13.05.2021

Besonders und tierisch gut

Ein Beitrag zur Geschichte der Freude
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„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist ...

„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist tot, an einem Seil erhängt, Zeichen einer Strangulation zeichnen den Hals. Der scheinbare Selbstmord eines reichen Geschäftsmanns zieht einen namenlosen Ermittler auf den Plan, der von dessen Witwe davon überzeugt wird, dass ein Suizid ausgeschlossen ist. Daraufhin begibt er sich auf die Suche nach Verbindungen, nach den Menschen, die zuletzt mit ihm in Kontakt standen und stößt dabei auf ein orangefarbenes Haus, das im Prager Petřín-Hügel verbaut ist. Es wird von drei älteren Damen bewohnt: der Körpergedächtnis- und Yoga-Instruktorin Diana Adler, der Filmemacherin Erika Eis und der Schreiberin Birgit Stadtherrová. Sie führen in Prag eine Art Archiv, in dem jegliche Gewalt an Frauen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart dokumentiert ist. Als die drei Damen nicht zugegen sind, verschafft er sich Zugang zu den Gemäuern und versucht, eine Verbindung zwischen dem Mordfall, dem Gewalt-Archiv und den Machenschaften der Frauen herzustellen.

In ihrem vierten Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ (OT: „Prispevek k dejinam radosti“, aus dem Tschechischen von Eva Profousová) verwebt Radka Denemarková bildgewaltig intensive, erschütternde Berichte vergangener und gegenwärtige Gewaltverbrechen gegen Frauen mit eher seichten Elementen eines Kriminalromans, die hier aber eher eine hintergründige Rolle spielen. Von Beginn an ist die Geschichte begleitet vom Zwitschern der Schwalben, vom Flügelschlag eines Adlers, dem Balztanz eines Rotkehlchens – sie scheinen das verbindende, das prägende Element zu sein, das den Ton und die Atmosphäre des Romans begleitet. Denn das ist es, womit sich die drei geheimnisvollen Damen beschäftigen: Einst zu viert anzutreffen, haben sie es sich zur Aufgab gemacht, Gerechtigkeit in der patriarchalisch geprägten Welt zu schaffen, in der Frauen Menschen zweiter Klasse sind, erniedrigt werden, misshandelt werden; [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Experimentell und interessant

Der Himmel vor hundert Jahren
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„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein ...

„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein in der Zukunft (...).“ (S. 105)

Geschrieben steht das Jahr 1918. An einem Fluss in Russland liegt ein Dorf; so weit abgelegen, dass es von dem laufenden Bürgerkrieg, von allem, was außerhalb des Marktplatzes geschieht, noch nichts erfahren hat. Ist auch gar nicht so schlimm, denn die Ereignisse im Dorf halten die Bewohner:innen in Atem, in Aufregung und Erwartung. Während Ilja, der Dorfälteste, mithilfe eines mysteriösen Glasröhrchens, das eine silbrige Flüssigkeit umschließt, das Wetter vorherzusagen vermag, spricht Piotr, der graubärtige Greis, mit dem Fluss und seinen Geistern, hält ein ums andere Mal den befeuchteten Zeigefinger in den Wind zum Wetterbericht – die Geister scheiden sich in ihrer Kunst.
Doch als Inna Nikolajewna, der Frau von Ilja, eines Tages ein Messer herunterfällt, kommt ein Fremder, ein junger Mann in Uniform, aber ohne Stiefel, in ihr kleines Dorf – und bleibt. Er redet nicht viel, doch wenn er das Wort ergreift, verfolgt er jedes Mal einen anderen Faden. Jeder beobachtet ihn, versucht, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, doch sie scheitern alle, selbst Iljas Enkelin Annuschka. Als schließlich auch noch zwei Männer, die „Realitäten“, das Dorf aufsuchen, gerät das Dorf in Umbruch.

In ihrem Debütroman „Der Himmel vor hundert Jahren“ entspinnt Yulia Marfutova ein poetisches, sprachliches Feuerwerk, das die seichte Monotonie der eigentlichen Handlung strahlen lässt. Zarte Charaktere erhalten eine eigensinnige, wundersame Stärke, die nicht handhabbar ist, aber doch irgendwie da. Die elliptischen, kurzen Sätze, wie zufällig eingeworfenen Wörter und dann wieder verschachtelten, hypotaktischen bestimmen das Tempo, das insgesamt eher langsam ist, nachdenklich – und dadurch die wunderschöne Sprache nur noch mehr zur Geltung bringen.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Eine berührende Geschichte

So wie du mich kennst
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„Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrechen ...

„Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrechen oder vom Herzschmerz auferstanden - hatte man wirklich die Wahl?“ (S. 153)

Als ihre Schwester Marie bei einem Unfall stirbt, bricht für Karla eine Welt zusammen. Sie fühlt sich nicht mehr ganz, als wäre ein Teil von ihr mit ihrer Schwester gestorben. Nun ist sie alleine, weiß nicht mehr, wie sie in ihrem Leben weitermachen soll, zumal sie sich kurz vor Maries Tod von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte. Aber irgendwie muss es ja weitergehen und so reist sie nach New York, um sich um die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen. Dabei lernt sie Menschen kennen, denen Marie nahe stand und von denen sie bislang nichts wusste, entdeckt Bilder auf ihrem Laptop, die sie verstören – und beginnt sich zu fragen, wer ihre Schwester eigentlich wirklich war – und wer sie dadurch ist.

In „So wie du mich kennst“ erzählt Anika Landsteiner die Geschichte zweier Schwestern, deren Leben nur zusammen funktionierte, sie sich einander besser kannten als sie selbst – bis sie traumatisch auseinandergerissen wurden. Marie und Karla sind in einem kleinen Dorf in Unterfranken aufgewachsen und haben von Kindheit an einen starken familiären Zusammenhalt erfahren. Marie ist erfolgreiche Fotografin und nach einer schnellen Hochzeit mit ihrem Mann nach Boston gezogen, Karla hingegen arbeitet als Lokaljournalistin in ihrem Heimatdorf. Doch Jahre später findet sich Karla alleine in einer kleinen Wohnung in New York wieder und zweifelt an ihrer Schwester, an ihrer Offenheit und muss sich eingestehen, dass sie schwerwiegende Geheimnisse vor ihr gehabt haben muss.

Aus der Sicht von Karla und Marie nimmt die Geschichte immer mehr Gestalt an, werden nach und nach vergangene Ereignisse preisgegeben, prägende Momente ihrer beider Leben beschrieben, die die zutage getretenen Geheimnisse nachvollziehbarer machen, verständlicher.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Giovannis Zimmer
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"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein ...

"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein eigenes sein, das, um Giovannis zu verwandeln, erst ein Teil von Giovannis Zimmer werden musste." (S. 101)

Paris, 1950er Jahre. Aus seinem Elternhaus in den Staaten geflohen, findet der junge David in Paris einen Zufluchtsort. Als er eines Abend mit einem Geschäftspartner in eine Bar einkehrt, lernt er den Barkeeper Giovanni kennen, einen frevelhaften, hochmütigen Italiener, der etwas in ihm weckt, das er bislang nicht aktiv wahrgenommen hatte. Sie kommen sich näher, werden intim und beginnen eine Affäre. Gemeinsamen leben sie in Giovannis Zimmer, einer kleinen Kammer außerhalb der Pariser Altstadt, wo sie keine Angst haben müssen, ihr Verlangen zu rechtfertigen. Doch David kann mit diesen intensiven Gefühlen nicht umgehen, schämt sich einerseits, verlangt aber auch nach Giovannis Körper, seiner Liebe. Als plötzlich Davids Verlobte aus Spanien zurückkehrt, ist er völlig überfordert, während Giovanni, von seinem Geliebten verleugnet, aus seinem Leben abtritt.

Nachdem ich "Im Wasser sind wir schwerelos" von Tomasz Jedrowski gelesen hatte, war es für mich fast schon selbstverständlich, "Giovannis Zimmer" (OT: Giovanni's Room, Neuübersetzung von Miriam Mandelkow) von James Baldwin lesen zu müssen. Bereits 1956 im Original erschienen (in Deutschland erstmals 1963), gilt es als eins der prägendsten Bücher der LGBTQ+-Community, und ist auch auf anderen Ebenen unglaublich wichtig. Nach seinem Durchbruch mit "Go Tell it on the Mountain" ging Baldwin nach Paris, und schrieb, entgegen der Vorgaben seines Verlags in den USA, wie sein nächstes Werk beschaffen sein sollte, bewusst ein Buch mit weißen Protagonisten, um sich von der Stigmatisierung seiner Herkunft loszumachen; die Beschaffenheit ihrer Liebe ist somit nur nebensächlich die Intention des Romans. Vielmehr wollte er ausdrücken, was passiert, wenn man Angst hat zu lieben.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Fordernd und berauschend gut

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021
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„Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger wurden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher.“ (S. 15)

Aufstehen, programmieren, kurz schlafen – und wieder von vorne; ...

„Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger wurden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher.“ (S. 15)

Aufstehen, programmieren, kurz schlafen – und wieder von vorne; im Leben von Syz gibt es – abgesehen von gelegentlichen Arcade-Treffen mit seinen drei Freunden – nichts Anderes, was ihn am Laufen hält. Als Programmierer in Ebene 3 des großen Wohnkomplexes, dessen Ziel es ist, eine künstliche Intelligenz mit menschlichem Bewusstsein zu erschaffen, implementiert er Codes, erschafft Algorithmen und beseitigt Bugs. So weit, so gut, doch DAVE, eben diese KI, wird immer komplexer, verbraucht immer mehr Datenvolumen und ein Kollaps des Systems scheint unausweichlich. Noch dazu trifft Syz im Labor auf eine junge Ärztin, die sich in seinen Gedanken festsetzen soll, und ihn des Öfteren vom Arbeiten ablenkt. Die Lage spitzt sich zu und Syz droht in den Strudel des Machtgefüges zu geraten: Eines nachts findet er sich im Kern des Labors wieder, in der Machtzentrale, und wird Teil eines immensen Plans, der alles verändern soll – und ihn der Geschichte des Labors und dem Gedankenspiel um die ethische Korrektheit und die Interessen hinter DAVE näherbringt.

In ihrem zweiten Roman „DAVE“ verspinnt Raphaela Edelbauer das komplexe, gegenwärtige Phänomen der KI und die Diskussionen um ihren Nutzen, die Ziele und ethischen Hintergründe mit einer verzwickten, abenteuerlich anmutenden Heldensaga. Der junge Programmierer Syz wurde dafür ausgewählt, die entscheidende Wendung in der Erschaffung einer weltverändernden KI herbeizuführen, doch zu welchem Preis, das wird erst allmählich klar. All die Wendungen, Abzweigungen, die seine Geschichte nimmt, scheinen zunächst unvorhersehbar, im Nachhinein gesehen teils nachvollziehbar, aber oftmals behält die Überraschung die Oberhand. Streckenweise verlor ich oftmals den Faden, wenn die Handlung zu abstrakt wurde und ich keine Anhaltspunkte mehr festmachen konnte, und doch zog mich der Verlauf in seinen Bann, wollte ich unbedingt wissen, was nun mit Syz passieren würde, welches Outcome DAVE haben würde.

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