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Veröffentlicht am 05.11.2023

Nicht mein Buch

Die weite Wildnis
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"Sie fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, und als sie mitten in der Nacht aufwachte, waren sämtlich Sterne aufgegangen, und der Mond, nur einen Spalt von einem vollen Rund entfernt, leuchtete hell ...

"Sie fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, und als sie mitten in der Nacht aufwachte, waren sämtlich Sterne aufgegangen, und der Mond, nur einen Spalt von einem vollen Rund entfernt, leuchtete hell von oben herab. Sie lauschte den nächtlichen Geräuschen aus dem Wald und hatte zum ersten Mal keine Angst." (S. 126)

Nordamerika im 17. Jahrhundert. In weißen Wolken treibt ihr Atem in die kalte Nacht, das feuchte Schmatzen des Waldbodens unter ihren schnellen Schritten das einzige Geräusch in der Dunkelheit. Das junge Mädchen ist auf der Flucht, allein, hatte sich allem entsagt, was sie kannte; ihrem Namen, ihrer Sprache, der kleinen Bess - ihr Herz sticht. Sie rennt, rennt immer weiter: weg von ihren Dämonen, in Richtung der Lebenden. Im Kopf hat sie die vagen Umrisse einer Karte, die sie einst sah: zarte Linien, wo Land und Wasser sich berühren, Gebirgszüge und Ländereien. Die neue Welt, das große Unbekannte.

Sie kämpft ums Überleben, jeden Tag aufs Neue, doch ihre Furcht vor der Wildnis ist nicht so groß wie die Wut, die sie auf die Menschen verspürt, auf ihren frevelhaften Umgang mit diesem gottgegebenen Wunder, das die Natur ist. Ihr Blick verändert sich, sie verändert sich – und etwas in ihr beginnt zu wachsen: ein neuer Blick und eine Liebe, die sie am Leben hält.

„Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig. Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten. Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.“ (S. 29)

Hm, was soll ich sagen. Gefunkt hat es wirklich oft, jedes Mal nämlich, wenn das Mädchen versuchte, ein Feuer zu machen – aber auf mich ist der Funke leider nicht gänzlich übergesprungen. Lauren Groff schafft es, „[D]ie weite Wildnis“ mit ihren Worten, mit ihrem unnachahmlichen Blick für Licht und Schatten, für das Sichtbare und Unsichtbare erfahrbar zu machen. Und das mit allen Sinnen. Unendlich zart, ehrfurchtsvoll und poetisch lässt sie das Mädchen Teil dieser unberührten Natur werden, den Zauber der Vollkommenheit auf sie übergehen und sie formen. Während sie gegenwärtig ums Überleben kämpft, schweifen ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Menschen, die sie zurückließ, um die rauschende Einsamkeit zu ummanteln: sie denkt an Bess, an die Schifffahrt von England in die neue Welt, die sie alle beinahe das Leben kostete, an die zarten Berührungen des Schiffsjungen, die sie innerlich brennen ließen, an die scharfen Worte ihrer Herrin und ihre Ehegatten. Nach und nach füllt Groff blinde Flecken mit Licht und Farbe, und mit Gewissheiten, die umso schwerer auf dem Herzen liegen. Grausamkeiten und Gewalt werden manifest, dunkle Schatten, die das Mädchen in der traumwandlerischen Schönheit der Natur verfolgen – bis sie die Welt mit einem neuen Blick zu betrachten lernt.
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Etwas fehlte. Zu leise war der Wind, mich vollends mitzureißen, fallenzulassen in das weiche Moos, denn es sind eben die Rückblicke, die mich in Atem hielten, das Leben fernab des Waldes und des Überlebenskampfes des Mädchens, ihrer Heldinnenreise – obwohl gerade dem ja ein naturgegebener Spannungsbogen innewohnt. Keine Frage, sprachlich ist diese Geschichte herausragend, nicht zuletzt wegen der grandiosen Übersetzung von Stefanie Jacobs. Aber der Zeitpunkt passte einfach nicht. Ich komme wieder, mit leichterem Gepäck.

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Veröffentlicht am 05.11.2023

Großartig und mitreißend

Marschlande
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"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. ...

"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. 134)

Winterkahle Baumkronen wogen im rauen Wind; feiner Dunst steigt von der flachen Marschwiese auf. Vor drei Monaten waren sie nach Ochsenwerder gezogen, Britta und ihre Familie; ein Neuanfang, fernab der Stadt. Sie hatte ihren Job als Geografin aufgegeben – für die Familie –, fand nach der Geburt ihres zweiten Kindes keinen Anschluss mehr im Institut. Für ihre Kinder Ben und Mascha kommt der Umzug einem Weltuntergang gleich, doch sie versucht sie zu besänftigen, dass es Zeit brauche, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Doch wem macht sie etwas vor. Auf ihren Streifzügen durch die herbstkargen Marschwiesen lernt Britta das dem Gebiet so eigene Relief kennen und beginnt, die Spuren der Vergangenheit aus den Bracks, Deichlinien und alten Bauernhäusern zu lesen. Dabei stößt sie auf Abelke Bleken, eine Bäuerin, die um das Jahr 1580 in den Hamburger Marschlanden lebte – und sie bleibt hängen. Bleibt hängen am Schicksal dieser Frau, das geprägt ist von Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Je mehr sie erfährt, desto klarer treten ihr die Parallelen zur ihrem Leben, zu dem Leben von Frauen* in der heutigen Zeit auf, und sie beginnt zu verstehen.

"Die Wiesen haben Augen, die Felder haben Ohren." (S. 53)

Mehr als 450 Jahre ist sie her, die Allerheiligenflut des Jahres 1570, die als die verheerendste Sturmflut an der Nordsee vor dem 20. Jahrhundert gilt. Abelke Bleken besaß zu eben dieser Zeit einen Hof in den Marschlanden südwestlich Hamburgs, bestellte Felder und fuhr Ernten ein, pflegte ihren Deich. Die Menschen lebten mit der Natur und den Gezeiten, sie prägten ihr Leben, zeichneten sie, und entsprechend lehnten sie alles Frevelhafte, Übernatürliche ab. Als Töversche bezeichneten sie Frauen, die die Chuzpe besaßen, sich zu wehren, ihre Stimme gegen die Männer des Bauerndorfes zu erheben – mit weit reichenden Folgen.
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Mit zarter, wohltuender Sprache zeichnet Jarka Kubsova in „Marschlande“ ausdrucksstarke Bilder des Hamburger Marschlands und seiner Bewohner:innen, gegenwärtig wie in der Vergangenheit, und lässt insbesondere die Parallelen in Brittas und Abelkes Leben hervortreten. Eindrucksvoll beschreibt Kubsova die Einflüsse der Natur auf ihre Menschen, und wie die Menschen wiederum ihre Natur beeinflussen: das Außen im Innen und das Innen im Außen (so auch der Titel der Lesung zum Buch im Rahmen einer Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin, der besser nicht hätte passen können). Mir haben besonders die Passagen über Abelke Bleken gefallen, die Szenen eines möglichen Lebens zu einer Zeit, in der eben diese Unabhängigkeit, die sie so auszeichnet, nicht gern gesehen war, ihre Standhaftigkeit ein Dorn im Auge der anderen Dorfbewohner.
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Doch auch in der Gegenwart ist das kein unbekanntes Szenario, und auch ein Grund dafür, dass Britta immer mehr über Abelke erfahren mag, diese Frau, deren Namen sie zufällig auf einem Straßenschild sah – und bei weitem nicht die Einzige ist, die unerhört war, aus der Norm fiel oder für etwas gekämpft hat: „[Es führte] sie an den Ursprung. An die Quelle so vieler Dinge, die sie in ihrem Leben als Hindernis spürte. In ihrem Leben als Frau." (S. 306) Die Atmosphäre der Gegenwart ist eine andere, eine kühlere, distanzierte, und ich wurde mit Britta nicht wirklich warm, viel eher strengte sie mich zeitweise an; das als einzige kritische Anmerkung. Denn ansonsten hat mir die Geschichte ungemein gut gefallen, habe ich doch so viel mitnehmen können (insbesondere auch aus dem Nachwort): eine gewisse Awareness ob des Ursprungs heutiger Verhaltensweisen der Gesellschaft und der unmittelbaren Nähe geschichtsträchtiger Orte, der Vergangenheit in der Gegenwart, und das Wesen der Hexenprozesse als Processi Extraordinarii. Ein so klug komponiertes, berauschendes Buch. Empfehlung!

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Veröffentlicht am 13.10.2023

Zwischen den Zeiten

Die Wahrheiten meiner Mutter
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Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre ...

Rau ist ihre Sprache, wie kalter Wind in den nordischen Fjorden, rau und schwer, aber doch seltsam schwebend, poetisch und bildgewaltig. Ihr fehlt der Halt, Johanna, dem verlorenen Kind, nun sechzig Jahre alt, das in die Traufe zurückkehrt. Einfach war es nicht, sie kennenzulernen, den Menschen hinter den distanzierten Worten und Gedanken, die Vidgis Hjorth der Protagonistin ihres Romans „Die Wahrheiten meiner Mutter" in den Mund legt, den Fragmenten eines eingebrannten Lebens. Doch je mehr sie sich öffnet, je mehr die Vergangenheit sie übermannt, sie Gefühltes, Erlebtes, Gesehenes im Schutze ihres Hauses im Wald offenbart, desto schneller schlug mein Herz, stärker wurde der Druck meiner Hände um das Buch.
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In lakonischen Szenen und großräumigem, atmendem Schriftsatz weben sich Gedankenfragmente und Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, das Leben mit Mutter und Vater, die Strenge und Demütigung, die sie erlebte, die Restriktion ihrer frühen Fantasterei in die Gegenwart. Es ist eine Suche nach dem Kern ihrer Mutter-Tochter-Beziehung, nach den Gründen für das Verhalten ihrer Mutter – damals wie heute –, eine Suche nach Liebe und Anerkennung, wo nur Kälte, ein teilnahmsloser Blick waren: regretted motherhood. Und heute: Angst. Es grenzte schon ans Absurde, einer sechzigjährigen Frau bei der Beschattung ihrer fünfundachtzigjährigen Mutter beizuwohnen, wie sie mutiger wird, sich immer näher an sie heran wagt, beobachtet, überlegt, reflektiert - und auch die Rolle von Johannas Schwester Ruth in dem Ganzen Katz-und-Maus-Spiel. Hjorth spielt mit Sympathien, der Umkehr von Täterin und Opfer, doch fragt man sich, ob sie an einem Punkt nicht beide dem Patriarchat zum Opfer fielen. Auf die eine oder andere Art.
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Je näher sie einander kommen, desto gespannter wird die Atmosphäre, Johannes Gedanken knapper, konzentrierter, die Reflexion ihrer Mutterrolle präsenter. Bis es zum großen Knall kommt. Bis zur letzten Seite hat mich die Geschichte ungemein gefesselt, der raue Ton bisweilen einem poetischen, gar melancholischen, von Traurigkeit und Ernüchterung verzerrten gewichen; Worten und Bildern, die im Kopf bleiben. Ein beeindruckender, zutiefst bewegender und nachdenklich stimmender Roman, der nach lange nachwirkt.

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Veröffentlicht am 13.10.2023

Nette Texte

The Magic Border
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I know some things don't get easier
I know some things hurt forever

Zaghafte Striche auf dem Papier, die zu Buchstaben, zu Wörtern werden, Wahrheiten und Gedanken. Wortketten, die sich um das Herz gelegt ...

I know some things don't get easier
I know some things hurt forever

Zaghafte Striche auf dem Papier, die zu Buchstaben, zu Wörtern werden, Wahrheiten und Gedanken. Wortketten, die sich um das Herz gelegt hatten, sie lösen sich auf, fallen wie Herbstlaub aufs trockene Gras, auf die Seiten. Werden etwas Handfestes, werden sichtbar, diffundieren vom Innen ins Außen. Sie überschreiten die magische Grenze: „The Magic Border“.

Arlo Parks ist eine britische Singer-Songwriterin, die 2021 mit ihrem Debütalbum „Collapsed by Sunbeam“ weltweit bekannt wurde. Im Vorwort ihrer Sammlung von Gedichten und Fragmenten beschreibt sie, wie wichtig das Schreiben für sie ist, weil sie an einem Punkt feststellte, dass es ihr hilft, „[to] feel visible both to others and to myself“, dass alles Schwere leicht wird, einfacher; Schreiben erde sie, es sei der Schlüssel, zum Kern ihrer Persönlichkeit vorzudringen. Und doch gebe es Unterschiede zwischen dem Schreiben von Songs und Gedichten. Gedichte zu schreiben, das gehe tiefer, sei intimer: „Poetry was my place, my little clearing in the forest, where I could quietly put everything I was holding.“ (XIV)

"Walking by myself is the only thing that calms me down. The record is nowhere near finished and it's hurting me. I am what I make and sometimes I wish things were different." (Arlo Parks: Lanterns [Outside Tabaré])

Flüchtige Fragmente wechseln sich ab mit Songtexten, Fotografien, kurzen Gedichten; Licht- und Schattenwurf, inhaltlich wie gestalterisch. Über achtzehn Monate schrieb sie an den Texten, die von unerwiderter Liebe und Hingabe sprechen, von Hilfslosigkeit, Orientierungslosigkeit, von Trauma und Schmerz, psychischer Gesundheit. Um ein noch weiteres Bild zu erschaffen, sind der englische Originaltext und die klangvolle deutsche Übersetzung von Amanda Mukasonga gegenübergestellt, was hier sehr passend ist, bezieht sich Arlo Parks auf einige Namen und Orte, die ansonst nicht unbedingt nachvollziehbar wären. Besonders gerne mochte ich die Songtexte, dieses stille Auseinandersetzen mit Texten, die sonst auf einer anderen Sinnesebene ihren Weg in die Gedanken, ins Herz finden. Weißes Rauschen, ein Öffnen der Worthülsen; ein drängendes Streben dem Licht entgegen, raus aus der dunklen Einsamkeit. Dieser Moment, wenn man nicht mehr die Melodie wahrnimmt, nur noch den Text, die Essenz.

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Veröffentlicht am 13.10.2023

Berührend und eindringlich

Simone
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Sie beginnt, sich zu erinnern: an ihr erstes Kennenlernen, ihre gemeinsame Jugend, wie fröhlich sie waren im Osten Berlins, noch vor der Wende. Wie sie eigene Wege beschritten, erwachsen wurden unter dem ...

Sie beginnt, sich zu erinnern: an ihr erstes Kennenlernen, ihre gemeinsame Jugend, wie fröhlich sie waren im Osten Berlins, noch vor der Wende. Wie sie eigene Wege beschritten, erwachsen wurden unter dem Regime, denn: obwohl Simone nur ein halbes Jahr jünger war, hätten ihre Leben, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Im Gespräch mit Simones Eltern, ihrem Bruder und Freundinnen, ihren Expartnern nähert sie sich den vielen Facetten ihrer Freundin, erhält Einblick in ihre Tagebücher, sichtet alte Fotos, und lernt Seiten von ihr kennen, die ihr bis dahin unbekannt waren. Und Anja beginnt zu schreiben. Mehr als zwanzig Jahre dauerte es, bis sie einen Punkt setzen und abschließen konnte, bis „Simone“ bei den Aufbau Verlagen erscheint.
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Chronologisch, wie einem Countdown folgend, skizziert Anja Reich zunächst die Lebensumstände von Simones Eltern, ihre Herkunft und die Zeit ihrer Kindheit und Jugend bis hin zu ihrem schicksalsgetriebenen Aufeinandertreffen. Liebe auf Umwegen, Heirat, Kinder; doch so einfach war es nicht, damals. Häufig zogen sie um, waren Spielbälle des Systems, und doch lief letztlich alles zu ihren Gunsten. Simone stand schon früh unter Druck: Leistung und Erfolg, das zählte, es ihren Eltern recht zu machen, ein Leben gemäß ihren Erwartungen zu führen. Und sie wusste: Wenn etwas nicht gut lief, würden ihre Eltern es schon richten. Doch je näher Anja sich zeitlich ihrem Kennenlernen annähert, desto deutlicher fallen ihr bestimmte Verhaltensweisen auf – sowohl in Simones Tagebucheinträgen als auch im Gespräch mit Freund:innen und Angehörigen.
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„Wer bin ich? So viele Ichs und ich bin immer noch auf der Suche.“ (S. 212)
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Anja Reich beginnt, einen Schritt weiterzugehen, Psycholog:innen und Forscher:innen zu befragen, denn immer öfter begegnet ihr das Wort Depression, immer mehr fällt ihr auf, wie sprunghaft, impulsiv sie war, wie kurzlebig ihre Beziehungen, wie enorm ihre Eifersucht. Und: wie fröhlich sie war, damals, im Osten. Bis die Mauer fiel und mit ihr das System, das sie bis dahin „pseudostabilisiert“ zu haben scheint (vgl. S. 250), ebenso wie die Strenge ihrer Eltern. All die neuen Möglichkeiten, die der Systemwechsel plötzlich bot, sie nahmen ihr die Ordnung und Struktur, die Simone gebraucht hätte; Wesenszüge einer Borderline-Erkrankung.
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„Einer gibt dem anderen die Schuld, denke ich. Die Eltern den Freunden. Die Freunde den Eltern. Wir brauchen einen Sündenbock, einen Grund, eine Erklärung, versuchen zu verstehen, was wir nicht verstehen können, um selbst weiterleben zu können.“ (S. 277)
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Mit 27 Jahren hat Simone ihr Leben beendet, vor mehr als zwanzig Jahren. Anja Reich hat ihr, ihrer Freundschaft und der gemeinsamen Zeit mit ihren detaillierten, liebevoll und sorgsam gezeichneten Betrachtungen einen Ort geschaffen, an dem sie weiterleben können. Mir hat die reflektierte, zarte und respektvolle Art ihres Schreibens sehr gefallen, ebenso die kritische Einordnung in die jeweiligen sozialen und politischen Umstände und die tiefergehenden Recherchen bezüglich psychischer Erkrankungen in diesem (gesellschaftlichen) Kontext. Gerade letzteres beschäftigt mich noch immer, lässt mich nicht mehr los. Was gut ist, denn: Die Awareness um die Gesichter und Auswirkungen psychischer Erkrankungen kann nicht groß genug sein. Eine große Empfehlung!

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