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Veröffentlicht am 06.04.2023

Beeindruckend

Siegfried
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Neun Lettern, die von Macht sprechen, von altem Geld, von Regeln. Davon, nach dem Besten zu streben, keine Kompromisse: Siegfried. Alle Wege führen zu ihm, denn er war immer da gewesen im Leben der Protagonistin ...

Neun Lettern, die von Macht sprechen, von altem Geld, von Regeln. Davon, nach dem Besten zu streben, keine Kompromisse: Siegfried. Alle Wege führen zu ihm, denn er war immer da gewesen im Leben der Protagonistin aus Antonia Baums neuem Roman „Siegfried“, körperlich wie geistig, in ihren Gedanken, in ihren Handlungen – Siegfried. Das personifizierte Patriarchat, der Macher.

Sie ist fahrig und aufgewühlt, die namenlose Protagonistin, ihr Leben am Rand einer Klippe, im Fallen begriffen, doch sie kann sich nicht halten. Seit einem Jahr hat sie eine Schreibblockade, ihr Buchprojekt ein ruheloses Blinken des Cursors auf dem Display, und sie hat Angst: dass das Geld ausgeht, vor der Reaktion ihrer Verlegerin, vor Alex. Geld war schon immer ein Streitpunkt ihrer Beziehung. Denn Geld bedeutet für sie Sicherheit. Das war etwas, das er – anders als sie – von seinen Eltern nicht mitbekommen hatte. Sie wuchsen in der DDR auf, die Wende hatte etwas mit ihnen gemacht. Alex schämte sich für sie, die Platte, den Nippes, ihre Kleingeistigkeit; dafür, dass sie kein Geld und keine Ambitionen zu haben schienen: „Sie kämen ihm vor die Kinder, die sich erschreckt hätten, als die Mauer fiel, und sich von dem Schreck nicht mehr erholten. Es ging bei uns nur um Angst. Die haben alles aus Angst gemacht. Das Höchste, was man erreichen konnte, war Sicherheit. Es gab nichts, was ich nachmachen konnte. Oder wollte.“ (S. 125)
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Angst, das war etwas, ihrer Familie auch nicht unbekannt war. Sie blickt zurück, in ihre Kindheit, die Wochen, die sie im Sommer bei Hilde, der Mutter ihres Stiefvaters Siegfried, verbrachte. Hilde ist eine Marke, anders kann man es nicht sagen. Sie vergöttert ihren Sohn, doch liebevoll ist sie nicht, in ihrem Haus wohnt Traurigkeit. Ein wenig kauzig, sonderbar, liebt raffinierte Dinge, eine Macht- und Respektsperson, die sich nach der Sicherheit und Stabilität der 80er Jahre sehnt, immer wieder ihre Erinnerungen an den Krieg nebenbei ins alltägliche Gespräch einfließen lässt. Das Mädchen bekommt jeden Tag die Enttäuschung darüber zu spüren, dass sie eben das ist: kein Junge. Sie wird gefordert, ihre Fortschritte gemessen, klein gehalten; der Blick in den Spiegel wird ihr verwehrt, der offenbaren würde, dass sie älter wird, als könne es den Lauf der Dinge aufhalten.
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Angst auch in ihrem Elternhaus: häusliche Gewalt, Berechnung, patriarchale Macht. Und Angst, als sie – ihr Elternhaus hatte sie lange verlassen – Alex kennenlernt. Sie sehnte sich nach jemandem, der anders ist, anders, als sie es kennengelernt, von Hilde gelehrt bekommen hatte, und fand all das in Alex: Er schien sorglos, was das Leben angeht, seine Zukunft, wollte sich lösen von alten Mustern, seinem Zuhause, doch sie wurde immer wieder befallen von den Zügen, die sie ihr Leben lang vorgelebt bekam. Neurotische Ordnungssucht, genug Waschpulver, Brot. Geld. Das große Streitthema. Und immer wieder scheint Alex sich wie Siegfried zu sein, ihre Beziehung wie die ihrer Eltern: „Ich zitterte, er sah mich lächelnd an, und ich war voller Glück. Ich sah ihn an und dachte, dass er überhaupt keine Ahnung hatte und vor allem keine Angst. Nicht davor, bei mir zu sein, auch nicht davor, allein zu sein. Als ich Jahre später in der Psychiatrie saß, fragte ich mich, was aus Alex und mir geworden war, wie es sein konnte, dass es dem so ähnelte, was meine Eltern miteinander veranstaltet hatten, die Lügen, die Kälte, die Brutalität. Ich konnte es nicht sagen, aber ich hatte eine Ahnung." (S. 113)
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Schicht um Schicht legt Baum mit einer gewissen Kühle, in Gedanken – Erkenntnissen – schwebend, Traumata frei, Motive, die sich transgenerational durch den Familienstammbaum ziehen, von Hilde über Siegfried hin zu der namenlosen Protagonistin. Eindrücklich zeigt sie die Beziehungen der einzelnen Protagonisten auf, ihre jeweiligen Charakterzüge. Anhand dessen beschreibt sie kraftvoll, wie Gewohnheiten, wie Gewalterfahrungen fortbestehen und in den Menschen weiterleben, weitergegeben werden, Machtstrukturen überdauern, alte Ideale bleiben – ebenso wie Ängste. Siegfried ist das Kondensat all dessen, die Machtfigur, doch die Zeit ist auch ihm nicht gnädig, ewig jung bleibt niemand. Der König wankt, krank und alternd, doch seine Präsenz schwindet nicht.
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"Siegfried" ist so viel mehr als das, was ich erwartet hatte zu lesen, mehr und anders (!) als das, was der Klappentext suggerierte. Eine eindrückliche, lebendige Charakterdarstellung, eine innere Reise, eine Auf- und Verarbeitung - und ein richtig gutes Buch. Und: Props an Hilde!

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Veröffentlicht am 20.03.2023

Mitten ins Herz

Leonard und Paul
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Voller Wärme und Humor erzählt er von der besonderen Freundschaft zweier Männer Mitte Dreißig, die beide eher eine Nebenrolle auf der großen Bühne des Lebens spielen, zurückgezogen, aber nicht einsam leben ...

Voller Wärme und Humor erzählt er von der besonderen Freundschaft zweier Männer Mitte Dreißig, die beide eher eine Nebenrolle auf der großen Bühne des Lebens spielen, zurückgezogen, aber nicht einsam leben – denn sie haben einander. Und Pauls Familie. Aus jedem Gespräch, jeder Interaktion sprechen Liebe und Wertschätzung des Gegenübers, Aufrichtigkeit. Sanften Wortes gibt Hession seinen Protagonisten Konturen, Ecken und Kanten, zeigt ihre Ängste und Bedürfnisse auf, ihre leicht verschroben sympathische Naivität und ihr warmes Herz, das in dem Kokon versteckt ist. Sie wachsen am Leben und den sich auftuenden Herausforderungen, erkennen, dass es noch so viel mehr zu bieten hat, wenn man sich nur traut, sich öffnet und auf Menschen zugeht, denn: „Menschen waren nämlich gar nicht so schlecht. Jedenfalls nicht alle. Vielleicht lag darin gerade die Kunst: die richtigen Menschen zu finden, sie zu erkennen und zu wissen, wie man ihnen Wertschätzung entgegenbrachte, sobald man sie gefunden hatte.“ (S. 168)
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Hession spielt mit der Sprache, besticht durch eine unvergleichliche Leichtigkeit, eine Lebendigkeit, die ungemein fröhlich macht. Seine feinen, kluge Beobachtungen haben mich ein ums andere Mal innehalten, die Worte wie einen warmen Schauer aufnehmen lassen. Er vertauscht die Leonard und Paul von der Gesellschaft auferlegten Rollen, stellt ihre Freundschaft und jeweilige Entwicklung in den Vordergrund, wo sie sonst übersehen, unterschätzt und abgewertet werden, während die Geschichte von Pauls ältere Schwester Grace, die auf der Bühne des Lebens schon qua Geburt präsenter war, sie lauter, selbstbewusster, eher einen Nebenschauplatz darstellen soll, handlungsunterstützend statt -leitend. Und doch sind es gerade die Nebencharaktere, die Leonard und Paul voranbringen, ermutigen, über sich hinaus zu wachsen, aus Routinen auszubrechen und auf ihr Können zu vertrauen. Und nicht zuletzt: neue Menschen in ihr Leben zu lassen.

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Veröffentlicht am 14.03.2023

first it was sweet

Ohne mich
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So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten ...

So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten Ton, bei dem man nicht weiß, ob man das nun ernst nehmen soll oder welche Version der Protagonistin da nun aus ihr spricht, insbesondere weil Schlagwörter immer wieder in Versalien den Schriftsatz durchbrechen, quasi GÄNSEFÜSSCHEN schreien. Sie ist halt doch auch erst Anfang zwanzig, dagegen fühlte ich mich schon fast wieder alt. Aber nein, mochte ich, hatte regelrecht das Gefühl, in ihrem Kopf zu sitzen und die Karussellpferde durch die Gegend tanzen und auf die Nase fliegen zu sehen. Oder gegen die Wand rennen. Zwar schreibt sie ACHTSAMKEIT und ENTSCHLEUNIGUNG groß, REFLEXION jedoch scheint an ihr vorbeigegangen zu sein. Da kam ich mir dann nicht nur alt vor, sondern wie eine Kindergärtnerin: "Ach, das macht man doch nicht, lass das!" Zwar scheint sie in Bezug auf ihre Gefühle reflektiert zu sein, doch was den Alkohol, die Drogen und das Feiern angeht, naja. Klar, sie ist jung, sie will vergessen, aber so... Naja. Darüber hinaus finde ich, wird sehr flapsig mit dem Thema Depression und/oder Traumabewältigung umgegangen, es als nebensächlich und mit einem Seufzen und dem Kommentar der Mutter, dass sie sich Hilfe suchen solle, und einem Yoga-Retreat abgetan. Finde ich zu wenig. Eh fehlte es mir insgesamt an Tiefe, vieles blieb oberflächlich, und nur zwischen den Zeilen ließ sich Essenz vermuten - und manches Mal auch finden -, und irgendwo auch an Stringenz. Andererseits: She acts her age and her situation. Nur ohne Kopfschutzhelm. Das letzte Drittel flog dann eher an mir vorbei, ich war müde von der Protagonistin, ihrem Gedankenmikado, da konnte mich auch der Schreibstil leider nicht mehr bei der Stange halten.

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Veröffentlicht am 20.02.2023

Mitreißender Törn

In blaukalter Tiefe
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Flirrend wechselt die Erzählperspektive zwischen ihnen hin und her, gibt Aufschluss über ihre Geheimnisse und Gedanken, voreilig gefällte Urteile - nur der Skipper Eric bleibt stumm, seine Gefühle ein ...

Flirrend wechselt die Erzählperspektive zwischen ihnen hin und her, gibt Aufschluss über ihre Geheimnisse und Gedanken, voreilig gefällte Urteile - nur der Skipper Eric bleibt stumm, seine Gefühle ein Geheimnis. Zaghaft öffnen sie sich einander, doch je leiser die Stimme, desto stärker ihre Wirkung. Die beide Frauen verbindet mehr als sie dachten, trotz des Altersunterschieds: Während Tanja, gelernte medizinische Bademeisterin und Krankenpflegerin, sich noch immer nach einem Kind sehnt, ihrem Freund immer den Rücken freihielt, zurücksteckte, lebt Caroline in ständiger Angst um ihre Tochter Isabella, ihre psychische Instabilität. Ein Kind, das passte nicht in ihren Lebensplan, die sie nach Erfolg und Unabhängigkeit strebte, und doch war die Geburt ihrer Tochter das Beste, was ihr passieren konnte. Doch mit ihrem Nestflucht nahm Isabella der kriselnde Beziehung ihrer Eltern das zusammenhaltende Fundament, aber auch ein "zweites Kind hätte sie nicht glücklicher gemacht". Denn Andreas strahlt, er übertrumpft, er liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Und lässt nichts unversucht, Carolines Nähe wiederzuerlangen. Sein Mittel der Wahl: Eifersucht. Sie spielen einander aus, Nähe und Distanz, fremde Hände, kühle Blicke. Provokation.
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Kristina Hauff schreibt mitreißend und lebendig, fast meint man, das sanfte Schlagen der Wellen gegen den Bug, das Kreischen der Möwen zu hören. Losgelöst vom Rest der Welt konzentriert sie die Handlung auf das Schiff und die Menschen, die auf ihm um sich und einander kämpfen, ein geschlossener Raum mitten auf den blauen Weiten der Schären. Die Atmosphäre wird mit jeder Seemeile gespannter, die Luft dünner, das Herz schlägt schneller. Die kurzen Kapitel, die schnellen Wechsel zwischen Innen- und Außenwelt unterstützen eben diese Tempo noch, und lassen dennoch viel Raum, die Gedanken ihrer Wege ziehen zu lassen, was mir sehr gefallen hat. Die Charaktere sind facettenreich gezeichnet, sie sind nahbar, echt. Fehlbar und gebrochen, suchend nach ihrem Platz in der Welt. Besonders Tanja ist mir sehr ans Herz gewachsen - aus ganz eigenen Gründen. Das Ende, hm, es ließ mich ein wenig unbefriedigt zurück, blieb manches doch sehr offen. Andererseits... Genau deswegen muss ich immer wieder daran zurückdenken, es lässt mich einfach nicht los. Eine Alltagsflucht - Buch auf, Anker los. Die Welt vergessen. Eine große Empfehlung!

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Veröffentlicht am 19.02.2023

Goldene Momente

Lichte Tage
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Seit Annie vor einigen Jahren gestorben ist, repariert Ellis in der Nachtschicht Autos, bessert Lackschäden und Dellen aus; keine schlaflosen Nächte mehr, und dennoch sieht er überall ihren Geist. Doch ...

Seit Annie vor einigen Jahren gestorben ist, repariert Ellis in der Nachtschicht Autos, bessert Lackschäden und Dellen aus; keine schlaflosen Nächte mehr, und dennoch sieht er überall ihren Geist. Doch seine Erinnerungen an sie werden blasser, ihre Stimme, die, wenn sie wieder eine Frank Sinatra-Imitation zum Besten gab, Tote wecken könnte, ein weißes Rauschen. Er ist einsam ohne sie. Ohne Michael. Seine erste große Liebe. Wie in einem Fiebertraum lässt Winman Ellis in Erinnerungen taumeln, zeigt auf, woher seine Vulnerabilität, seine Traurigkeit rühren. Kurze Szenen in Sepia, Momente des Glücks und der Leere, Michaels plötzliches Verschwinden, Liebe und Freundschaft, die die graue Gegenwart in helles Licht tauchen, die auch mich für einen Moment alles um mich vergessen ließen. Und dann findet Ellis auf dem Dachboden seines Vaters, diesem Mann, der nach dem Tod seiner Mutter Dora über sein Leben bestimmte, ihm seiner Freiheit nahm, Künstler zu werden, wie er es immer wollte, der nun vom Alter gezeichnet von der Fürsorge Carols, seiner Lebensgefährtin, abhängig ist: eine Kiste. Michael steht darauf. Carol hatte sie für ihn aufbewahrt, für den Moment, wenn er bereit ist. Er findet ein Postkarten, Bilder. Ein Notizbuch.

Klick, Pausentaste. Das Band spult sieben Jahre vor, es ist 1989. Verloren geglaubte Puzzleteile schließen eine Lücke. Aus der Sicht von Michael beschreibt Winman, in denen er aus Ellis' und Annies Leben verschwand, Jahre, in denen er nach sich selbst suchte, dem Menschen, der er sein mag. Einfühlsam und nuanciert zeigt sie auf, welchen Einfluss die Verluste, die er aufgrund der AIDS-Epidemie der 1980er Jahre machen musste, die Menschen, denen er begegnete, auf seine Persönlichkeitsentwicklung hatten. Wie er immer wieder an Ellis denken muss. An das, was sie hätten sein können. An Allie, an Dora und an Marbel. Und daran, wie seine Mutter ihn einst verließ, alleine ließ. Aber nun ist das Bild komplett.

Immer langsamer schweifte mein Blick über die Zeilen, wollte ich weder Michael noch Ellis hinter mir lassen, noch länger im Licht der goldenen Tage stehen und von Liebe und Zauber erfüllt werden. Doch jeder Tag neigt sich dem Ende, ein Lächeln auf den Lippen, das von Glückseligkeit spricht: ob der warmen Bilder, die Sarah Winman mit ihrer Sprache zeichnet, der Protagonisten, die zu Freunden geworden sind. Und auch der Leerstellen, denn nicht alles muss Worte finden, um verstanden zu werden. Sie bleiben, die Erinnerungen an die guten, an die lichten Tage. Eine große Empfehlung!

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