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Veröffentlicht am 16.06.2023

Zwiegespaltenes Highlight

22 Bahnen
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Tilda hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Menschen anhand der Dinge, die sie aufs Kassenband legen, zu erraten. Bei mir wären das wohl Brokkoli, Vly-Joghurt, Bananen, vegane Chickenchunks. Und Schokolade, ...

Tilda hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Menschen anhand der Dinge, die sie aufs Kassenband legen, zu erraten. Bei mir wären das wohl Brokkoli, Vly-Joghurt, Bananen, vegane Chickenchunks. Und Schokolade, ganz sicher. Ich könnte Stunden im Supermarkt verbringen, im Urlaub immer der erste Suchbegriff bei Google Maps, und entsprechend groß war mein Lächeln, als ich die ersten Seiten von „22 Bahnen“, dem Debütroman von Caroline Wahl, las. Doch die Leichtigkeit wurde bald von Beklemmung abgelöst, dem Blick hinter die Fassade. Eindrücklich beschreibt die Autorin die familiären Umstände, die Tilda zu kitten versucht: die Krankheit ihrer Mutter, die Ungewissheit und Armut, die Gewalt – und wie sie zugunsten ihrer Schwester zurücksteckt. Tilda ist selbstlos, verantwortungsbewusst, liebevoll im Umgang mit Ida, tut alles, im ihr ein sicheres Leben zu ermöglichen. Und wenn es das Geld zulässt, Miracoli statt Gut & Günstig zu kaufen.
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Doch während Ida ihre Schwester und ihre Bilder hat, hat Tilda niemanden. Früher, da gab es Marlene. Sie waren beste Freundinnen, doch die Zeit und ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten hatten sie entzweit. Da ist nur die Vergangenheit, die sie verbindet: wie sie nebeneinander auf dem Feld lagen in diesem letzten Sommer, über die Zukunft nachdachten, wie sie sich an der Hand hielten während der Beerdigung von Ivan, ihrem Freund, gemeinsam lachten und weinten. Marlene war eine Zuflucht für sie, damals, als es Ida noch nicht gab; jeden Tag saß sie bei ihrer Familie am Abendbrottisch, um nur nicht Zuhause zu sein. Eine Nacht vergessen, die Angst, die Aggressionen, nur sie selbst sein - sie kann, darf nicht mehr vor ihrem eigentlichen Zuhause flüchten. Mit Ida hatte sie wieder einen Anker, wieder eine Familie, um die sie sich kümmern musste, damit sie nicht weiter zerbrach.
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Bis dahin war es eine Heldinnengeschichte, der Weg zur Selbstermächtigung zweier Schwestern - und mein Herz war voll. Doch als Viktor kam, war es, als hätte jemand den Stöpsel im Schwimmbecken gezogen. Ich hab's nicht mehr gefühlt. Die Dynamiken veränderten sich, alles wirkte überhastet und aufgesetzt, zu konstruiert; ich war ernüchtert, denn Viktor hätte es nicht gebraucht. Entsprechend genervt war ich von der zweiten Hälfte, dem Hin und Her zwischen Tilda und Viktor, dem vermeintlichen Freiheitsschlag. Einzig Idas Entwicklung hat mich ungemein gefreut: Sie wächst, wird selbstbewusster, kommt aus sich heraus - und stellt sich auch dem Monster, der Mutter, mit klaren Worten gegenüber. Aber ja, das war's leider auch.
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Denken wir uns den zweiten Teil einmal weg, hätte "22 Bahnen" eines meiner liebsten Bücher dieses Frühjahrs werden können. Ich mochte die dynamische, mit unterschiedlichen Stilen spielende Sprache sehr, die gleichermaßen leicht wie schwermütig daherkommt, und der Geschichte an den richtigen Stellen Licht und Schatten gibt. Und: die Thematik. Tilda und Ida sind bei weitem das wunderbarste Geschwisterpaar, das mir seit langem in der Literatur begegnet ist, da ist mir wirklich das Herz aufgegangen. Insbesondere Tilda hat mir sehr imponiert in ihrem Auftreten gegenüber der Mutter, ihrer Selbstlosigkeit und Fürsorge. Ach puh. Und ich meine, natürlich wünsche ich ihr ein Happy End, einen Ritter in goldener Rüstung, der sie aus dem Schloss rettet und in den Sonnenuntergang reitet oder zum Schwimmbad, was weiß ich, aber ach, lassen wir das. Das war nicht der richtige Moment dafür, weder in der Geschichte noch für mich, als ich die Torstraße entlangstolpernd das Buch las. Aber alles davor: total gefühlt, sehr gemocht. Freue mich auf mehr, Caro!

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Veröffentlicht am 14.03.2023

first it was sweet

Ohne mich
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So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten ...

So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten Ton, bei dem man nicht weiß, ob man das nun ernst nehmen soll oder welche Version der Protagonistin da nun aus ihr spricht, insbesondere weil Schlagwörter immer wieder in Versalien den Schriftsatz durchbrechen, quasi GÄNSEFÜSSCHEN schreien. Sie ist halt doch auch erst Anfang zwanzig, dagegen fühlte ich mich schon fast wieder alt. Aber nein, mochte ich, hatte regelrecht das Gefühl, in ihrem Kopf zu sitzen und die Karussellpferde durch die Gegend tanzen und auf die Nase fliegen zu sehen. Oder gegen die Wand rennen. Zwar schreibt sie ACHTSAMKEIT und ENTSCHLEUNIGUNG groß, REFLEXION jedoch scheint an ihr vorbeigegangen zu sein. Da kam ich mir dann nicht nur alt vor, sondern wie eine Kindergärtnerin: "Ach, das macht man doch nicht, lass das!" Zwar scheint sie in Bezug auf ihre Gefühle reflektiert zu sein, doch was den Alkohol, die Drogen und das Feiern angeht, naja. Klar, sie ist jung, sie will vergessen, aber so... Naja. Darüber hinaus finde ich, wird sehr flapsig mit dem Thema Depression und/oder Traumabewältigung umgegangen, es als nebensächlich und mit einem Seufzen und dem Kommentar der Mutter, dass sie sich Hilfe suchen solle, und einem Yoga-Retreat abgetan. Finde ich zu wenig. Eh fehlte es mir insgesamt an Tiefe, vieles blieb oberflächlich, und nur zwischen den Zeilen ließ sich Essenz vermuten - und manches Mal auch finden -, und irgendwo auch an Stringenz. Andererseits: She acts her age and her situation. Nur ohne Kopfschutzhelm. Das letzte Drittel flog dann eher an mir vorbei, ich war müde von der Protagonistin, ihrem Gedankenmikado, da konnte mich auch der Schreibstil leider nicht mehr bei der Stange halten.

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Veröffentlicht am 20.10.2022

Enttäuschend

Unsre verschwundenen Herzen
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Ich wollte es so sehr lieben. Von ihren Worten ein ums andere Mal verzaubern lassen, wie sie es mit "Kleine Feuer überall" schon einmal schaffte. Mitfiebern, leiden, wie betäubt die letzte Seite umblättern. ...

Ich wollte es so sehr lieben. Von ihren Worten ein ums andere Mal verzaubern lassen, wie sie es mit "Kleine Feuer überall" schon einmal schaffte. Mitfiebern, leiden, wie betäubt die letzte Seite umblättern. Doch mit ihrem neuen dystopisch anmutenden Roman "Unsere verschwundenen Herzen" (OT: Our Missing Hearts, übertragen von Brigitte Jakobeit) konnte Celeste Ng mich leider nicht abholen. Von Beginn an erzeugt sie eine bedrückende, düster wabernde Atmosphäre des Verlusts und der Angst, zeichnet das trostlose, monochrome Bild eines von der Krise gebeutelten Landes, das nur durch Demonstrationen gegen das PACT-Abkommen Farbe erhält, wieder und wieder rote Wunden, auf die Straße gemalte Herzen. Sie sollen aufmerksam machen auf all die Kinder, die ihren Familien, ihren Eltern asiatischer Herkunft, entrissen wurden. Die Welt, die sie beschreibt, wirkt so real, so echt, wie eine böse Vorahnung, ist die wirtschaftliche Situation gar nicht mal so abwegig - und, wie man es jeden Tag in den Nachrichten sieht, auch die Zunahme rassistischer Gewaltakte allgegenwärtig. Allerdings vermisste ich im Hinblick auf PACT und die Denunziation asiatisch-stämmiger Menschen eine reflektorische Komponente. Die Darstellung der politischen Situation und ihrer Hintergründe wirkte eher inkonsistent und willkürlich, eindimensional.

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Veröffentlicht am 28.07.2022

Hätte mehr erwartet

An den Ufern von Stellata
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Vor mehr als zweihundert Jahren lebte in dem kleinen Dorf Stellata in der Lombardei ein Mann von schwerem Gemüt, ein Einzelgänger und Träumer, der dachte, mit seinen Erfindungen großen Ruhm erlangen ...

Vor mehr als zweihundert Jahren lebte in dem kleinen Dorf Stellata in der Lombardei ein Mann von schwerem Gemüt, ein Einzelgänger und Träumer, der dachte, mit seinen Erfindungen großen Ruhm erlangen zu können. Doch immer wieder scheiterte Giacomo Casadio, wurde zum Gespött des Dorfes. Als er auf dem alljährlichen Dorffest einer der seit mehreren Monaten am Fluss lebenden zigaras begegnete, einer jungen Schönheit mit langem, schwarzem Haar und von biegsamer Gestalt, war es um ihn geschehen. Er war hingezogen und gleichzeitig eingeschüchtert von ihrer Grazie, doch die Frau bestand darauf, ihm aus der Hand zu lesen: Und sie sah in den Linien, dass er der Mann ist, auf den sie jahrelang wartete. Wenige Monate später heirateten Viollca und Giacomo entgegen dem Willen ihrer beider Familien; eine Ehe, die von Beginn an unter keinem guten Stern stand - und deren Nachkommen Generation um Generation immer wieder mit Herausforderungen zu kämpfen haben werden. Sie sind einerseits Traumtänzer, nicht ganz am Boden und der Wirklichkeit behaftet, andererseits strebsame und kluge Köpfe, unglücklich verliebte, arme wie wohlhabende Menschen. Und doch besteht die größte Aufgabe darin, weder den Kopf in den Wolken zu verlieren noch in den Fluten unterzugehen.

Voller Magie begleitet Daniela Raimondi in ihrem Debütroman "An den Ufern der Stellata" (OT: La casa sull'argine. La saga della famiglia Casadio, aus dem Italienischen von Judith Schwaab) die Geschichte der Familie Casadio, die ihren Anfang im 19. Jahrhundert findet. Leichtfüßig verbindet sie bis hin zur Neuzeit sieben Generationen miteinander, lässt jeweils den nächsten Protagonisten, dessen Schicksal im Fokus steht, sanft und fließend, wie die Stellata in ihrem Flussbett dahinwogt, in das neue Jahrzehnt hinübertreten und seine Geschichte weitertragen. Sie sind eingebettet in das jeweilige Zeitgeschehen und die örtlichen Gegebenheiten Italiens und Brasiliens, in Kriege und Aufstände, Wind und Wetter, und über allem wogt die Prophezeiung ihrer Urahnin Viollca, das wiederkehrende Symbol der Schlange und das Unheil, das sie bedeutet.

Die Sprache ist eingängig und expressiv, der jeweiligen Zeit in Ausdruck und Rhythmik angepasst. Positiv hervorzuheben ist, dass Judith Schwaab in ihrer Übersetzung das italienische Wort "zingara" beibehalten hat, um die Nennung der "Z-Wortes" zu umgehen, was abgesehen von den naheliegenden Gründen auch eine gewisse mystische Note in die Geschichte bringt. Der Verlauf der Geschichte folgt einer immer wiederkehrenden Spirale aus Geburt und einem besonderen Vorkommnis, das zum Tod oder einem Schicksalsschlag führt; über die Jahrzehnte hinweg dasselbe Lied mit kleinen Variationen und angepasster Sprache, das sich leider immer mehr hinzieht, langatmig und eintönig wird, atmosphärisch eher flache Wellen schlägt. Die meisten Charaktere sind aufgrund der doch relativ kurzen Zeit, die man sie begleitet, eher eindimensional und häufig übermäßig klischiert gezeichnet; eine Bindung oder näheres Einfühlen ist aufgrund der kurzen Abschnitte kaum möglich. Lediglich für Donata, die Mitte der 1950er Jahre lebte, konnte ich mich erwärmen. Sie strahlt eine unglaubliche Kraft und Selbstbewusstsein aus, weiß, für ihre Belange einzustehen und zu kämpfen - wenngleich ihr Leben auf tragische Weise zu Ende geht.

Ich hatte mich sehr auf den Roman gefreut, darauf, in eine große, intensive Familiengeschichte einzutauchen, die mich alles andere vergessen lassen würde, doch schnell musste ich merken, dass das Buch und ich nicht zusammenfinden würden. Das wiederkehrende Motiv aus Verdruss und Mystifizierung in Verbindung mit den blassen Charakterzeichnungen ermüdete mich schnell, mir fehlten die Ecken und Kanten, der Biss, der mich vor Erwartung und Spannung aufmerken lässt. Doch das ist nur meine Meinung.

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Veröffentlicht am 27.02.2021

Eine Idee der Zukunft und der Vergangenheit

Farm der Tiere
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„Can you understand that liberty is worth more than just ribbons?“

Die Farm der Tiere (OT: Animal Farm) von George Orwell ist bereits 1945 erschienen. Die dystophische Erzählung handelt von der Erhebung ...

„Can you understand that liberty is worth more than just ribbons?“

Die Farm der Tiere (OT: Animal Farm) von George Orwell ist bereits 1945 erschienen. Die dystophische Erzählung handelt von der Erhebung der Tiere auf einer Farm in einer englischen Grafschaft gegen ihren menschlichen Besitzer. Angeführt von dem Schwein Old Major, der verkündet, dass sie die ganze Zeit über ausgebeutet, ja gar vernachlässigt, ihrer nicht würdig behandelt wurden, planen sie, die Menschen von dem Hof zu vertreiben und von nun an für sich selbst zu sorgen, denn „zwei Beine sind schlecht, vier Beine sind gut“. Doch aus der anfänglichen Nostalgie wird schnell eine von den Schweinen, den wohl klügsten Tieren der Farm, angeführte Diktatur, die schlimmer zu werden vermag, als sie es je erlebt haben.

Vielen wird die Geschichte vermutlich aus der Schule oder dem Studium bekannt sein, ist sie doch aufgrund der möglichen und offensichtlichen Interpretationsvorlagen gesellschaftshistorisch relevant einzustufen. Mir persönlich hat die Geschichte weniger zugesagt; das lag nicht nur am Plot an sich, dessen Idee zwar wahren Ursprungs sein mag, doch ich fürchtete mich ein wenig davor. Der schwerfällige Schreibstil und die kryptischen Beschreibungen taten dann ihr übriges.

Doch hervorzuheben ist umso mehr das wunderschöne Cover dieser Neuauflage des Manesse-Verlags!

Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar!

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